Lili - Heft 107
Wolfgang Kasack
Die russischen Nobelpreisträger
Zusammenfassung/Summary
Five Russian writers have been awarded the Nobel Prize. They
were chosen during a time when Russian Literature was split due
to the Soviet policy since the 1917 seizure of power by Lenin.
Literature published in the Soviet Union had been adjusted,
often falsified, to different degrees. This literature was
opposed by the free literature published abroad. The Nobel
Prize committee chose as the first Russian Ivan Bunin, an
emigrant, in 1933. The second one was Boris Pasternak in 1958.
The Soviet government kept him from accepting the prize and
oppressed him until his death. The third one, Mikhail
Sholokhov, who received the prize in 1965, was a true Soviet
writer and official. However, his authorship of the honored
work, The Quiet Don, is doubted. The fourth one,
Alexander Solshenithsyn, was not able to accept the prize in
1970, but after his emigration. The fifth Russian Nobel Prize
winner was Iosif Brodsky in 1987. He had already been
integrated as an emigrant in the USA by this time. The change
in the Soviet attitude towards the emigrant started during this
stage. All five Nobel Prize winners have played an important
part in Russian Literature and thanks to the fall of communism
those who were disdained during this time are nowadays highly
valued in Russia as well.
Fünf russische Schriftsteller wurden mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Ihre Wahl erfolgte in der Zeit, als die russische Literatur infolge der sowjetischen Politik seit Lenins Machtergreifung 1917 gespalten war. Die in der Sowjetunion erschienene Literatur war in unterschiedlichem Grade von der Zensur der politischen Linie angepaßt worden, ihr stand die freie, im Ausland veröffentlichte, gegenüber. Das Nobelpreis-Komitee konnte bei seinen Entscheidungen die politische Situation nicht außer acht lassen.
Als erster Russe wurde Iwan Bunin 1933 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Das war eine bewußte Ehrung der russischen Emigrationsliteratur. Die Mehrheit der russischen Schriftsteller, die vor 1917 einen Namen hatten, war ausgewandert. Zunächst hatte sich Berlin als ein wichtiges Zentrum herausgebildet, dann verlagerte es sich nach Paris. Bunin war dort nur einer unter mehreren bedeutenden russischen Autoren. Eine wichtige Rolle spielte z.B. Dmitri Mereschkowski, der auch als Preisträger diskutiert worden ist. Im Jahr der Auszeichnung unternahm die Sowjetregierung ihre letzten Schritte, die zentrale Leitung und Kontrolle aller Bereiche - auch der Kunst, Literatur und Wissenschaft - zu verfestigen. Der Befehl, einen Einheitsschriftstellerverband zu gründen, war 1932 erteilt worden, die Kodifizierung erfolgte auf dem ersten Schriftstellerkongreß 1934.
Der zweite russische Nobelpreisträger war Boris Pasternak. Seine Auszeichnung erfolgte 1958. Stalin war 1953 gestorben, das Jahrzehnt danach wurde unter dem Begriff des »Tauwetters« bekannt, die totale Literatur-Eiszeit der letzten Stalinjahre war beendet. Es erschienen wieder erste Werke von literarischer Bedeutung. Pasternak hatte den Roman Doktor Schiwago abgeschlossen, die von ihm angestrebte Veröffentlichung im Lande wurde angekündigt, doch dann unterbunden. Der Roman erschien 1957 in Italien. Das Schicksal dieses Romans zeigte die Stärke der alten Kräfte, welche die Liberalisierung zu verhindern suchten. In jenen Jahren begannen die Kontakte zu ausländischen Journalisten, und es hatten schon russische Schriftsteller über diese oder andere erste Westbesucher Texte in den Westen schaffen lassen. Pasternak wählte diesen Weg. Das Ausmaß der Beschimpfungen, die sich von den kommunistischen Funktionären über ihn ergossen, ist unvorstellbar. Höchste Funktionäre reisten nach Italien, um den Verleger an der Veröffentlichung zu hindern. Pasternak wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, an der Annahme des Preises gehindert. Die Presse der Welt befaßte sich mit dem Fall und stand ganz auf seiner Seite. Für ihn aber war die Freude über die hohe Auszeichnung, die er ablehnen mußte, ebenso groß wie der Schmerz über die dadurch ausgelösten Verfolgungen, denen nun er und ihm nahe Menschen ausgesetzt waren.
Seltsam waren die Umstände um die Verleihung an den dritten Nobelpreisträger - Michail Scholochow. 1965, als er den Preis erhielt, galt er zwar als einer der Klassiker der Sowjetliteratur, doch das einzige Werk, auf das sich der Preis beziehen konnte, der Roman Der Stille Don, war schon Jahrzehnte vorher - 1928-1940 - veröffentlicht worden. Einen Anlaß für die Verleihung Mitte der sechziger Jahre gab es nicht. Er war ein Repräsentant der Sowjetliteratur in den Jahren des Terrors, als Schriftsteller wie Babel, Pilnjak oder Samjatin, die Anfang der zwanziger Jahre zum internationalen Ansehen dieser neuen Literatur beigetragen hatten, verfolgt, meist hingerichtet wurden. Die Verleihung ist auch grundsätzlich recht umstritten. Seit dem Erstdruck des Stillen Don waren nämlich die Gerüchte nicht verstummt und von immer wieder neuen Zeugen bestätigt worden, er sei gar nicht der Autor des Romans. Nicht er habe dieses große Epos geschrieben, er habe es mit 21/22 Jahren aufgrund der anderen Lebenserfahrung gar nicht schreiben können, sondern es stamme von einem anderen, im Bürgerkrieg gefallenen Autor. Scholochow habe es sich angeeignet und etwas bearbeitet. Eine Handschrift hat er nie vorgelegt, Auskunft über seine Quellen wie Tagebücher oder Memoiren nicht gegeben. Scholochow reiste nach Stockholm, seine Auszeichnung wurde in der Sowjetunion groß herausgestellt.
Die politische Rolle Scholochows und die Unklarheiten der Autorschaft seines einzigen bedeutenden Werkes führten dazu, daß in jenen Jahren ein anderer russischer Schriftsteller sehr ernsthaft als dritter russischer Nobelpreisträger diskutiert wurde. Es handelt sich um Konstantin Paustowski. Dieser war ebenso ein Autor der Sowjetliteratur, aber nicht einer, der sich dem System angepaßt und viele Ehrungen angehäuft hatte, sondern einer, der zu Recht als ein »Symbol der Ehrlichkeit« bezeichnet worden war. Mindestens seit 1962 gab es diesen zweiten Vorschlag. Mit Hilfe von Ilja Komarow, dem Direktor des Paustowski-Museums in Moskau, Dr. Michaela Böhmig, Slavistin in Rom und Jan Behre, dem Herausgeber von »EXAUDI. Öst-väst-Journal«, Göteborg ließ sich Anfang 1997 weiteres erfahren. Im Januar 1962 wurde Paustowski in der schwedischen Presse als Nobelpreiskandidat mit Bild groß herausgestellt, daneben wurden Scholochow und Vera Inber genannt.1 Nach Ansicht von Komarow dürfte der Vorschlag von Louis Aragon vorgebracht worden sein, der in einer fünfzigbändigen Edition sowjetischer Schriftsteller Paustowski mehr Bände zugeteilt hat als irgendeinem anderen. Komarow hat seinerseits Paustowskis Biographen, Lew Lewizki, befragt, der ihm sagte, daß Paustowski sich damals zwar über die Nominierung sehr gefreut, die Durchsetzbarkeit aber aus politischen Gründen von vornherein bezweifelt habe. Lewizki nimmt an, der Vorschlag sei von Italien ausgegangen. Paustowski sei aus diesem Grunde im Herbst 1965 nach Italien eingeladen worden.2 Dort, in Rom, hat Marc Slonim im Oktober 1965 Paustowski auf Bitte der New York Times interviewt und nach seiner Meinung zur Kandidatur für den Nobelpreis gefragt. Slonim schrieb 1974 über das Gespräch, Paustowski habe sich keine Hoffnung gemacht, zu stark sei der Widerstand der Sowjetregierung. Alexander Borschtschagowski, damaliges Vorstandsmitglied der Schwedisch-sowjetischen Freundschaftsgesellschaft, schrieb 1992 über einen Besuch des politisch stark engagierten schwedischen Schriftstellers Artur Lundkvist etwa 1963 in Moskau, aber dieser Artikel widerspricht einem Bericht von Lundkvist selbst. Laut Borschtschagowski hatte die Leitung des sowjetischen Schriftstellerverbandes (Surkow) zu diesem Zeitpunkt den von Lundkvist angestrebten Besuch Paustowskis als Teil der Vorbereitungen zur Verleihung des Nobelpreises an ihn mit allen Mitteln verhindern wollen. Paustowski sei sogar als Autor bezeichnet worden, den »bei uns niemand liest«. Lundkvist berichtete aber Ende 1962 in Folket i Bild in einem Artikel über »die neue Welle« in der Sowjetliteratur und 1963 in seinem Vorwort zur schwedischen Übersetzung von Paustowskis Fernen Jahren, er habe im Sommer 1962 volle Unterstützung der sowjetischen Seite für ein Treffen mit dem von ihm vereehrten Autor erhalten. Hingegen sei es ihm 1952 nicht gelungen, Paustowski zu sprechen. Zu jenem Zeitpunkt in der Endstalinzeit ist ein solches Projekt schon als solches unwahrscheinlich. 1993 veröffentlichten D. und T. Korsakow in Moskau einen Bericht, daß die sowjetische Androhung wirtschaftlicher Sanktionen gegenüber Schweden das Nobelpreiskomitee genötigt habe, den Preis an Scholochow und nicht an Paustowski zu verleihen.3
Der vierte russische Nobelpreisträger, Alexander Solschenizyn, wurde wie Pasternak von der Sowjetführung an der Annahme des Preises gehindert. Sie fiel in das Jahr 1970. Kurz davor waren seine beiden großen autobiographischen Romane Krebsstation und Der erste Kreis im Westen auf russisch erschienen und hatten in zahlreichen Übersetzungen weltweite Beachtung gefunden. Wie Pasternak hatte er sich vorher darum bemüht, sie in der Sowjetunion zu veröffentlichen, hatte sie dafür wie seine längere Prosa Ein Tag des Iwan Denissowitsch sogar einer eigenen politischen Zensur unterzogen und das in seinem Wahrheitsgehalt dem Pseudoideal des Sozialistischen Realismus allzusehr Widersprechende eliminiert. Zum Zeitpunkt der Nobelpreisverleihung aber war das »Tauwetter« bereits beendet, Breschnew und seine Leute waren an der Macht. Solschenizyns Werke waren im Inland verboten. Die Auslandsveröffentlichungen machten ihn ähnlich berühmt wie vorher Pasternak. Nach seiner Ausweisung (1974) hat Solschenizyn den Preis in Stockholm in Empfang genommen.
Der fünfte Nobelpreisträger der russischen Literatur war Iossif Brodski. Er war zum Zeitpunkt der Verleihung - 1987 - ein Emigrant, gehörte zur dritten Welle der Emigration, die unter Breschnew vor allem in den siebziger Jahren ausgereist war. Seine regelmäßigen Veröffentlichungen, keine aktuellen, dienten als Basis zur Auszeichnung. Zum Zeitpunkt der Verleihung hörte die Sonderstellung der Emigranten, gleichbedeutend mit restloser Verdammung in der UdSSR, allmählich auf, und zwar gerade in jenen Monaten. Ich war im November 1987 in Moskau und erlebte im Abstand von einer Stunde einerseits die vorsichtige Zurückhaltung von Journalisten gegenüber meiner Forderung, im Rahmen der Perestroika nun auch die Autoren der dritten Emigrationswelle zu publizieren, und andererseits den bereits gefällten festen Entschluß des für die Lyrik in der Zeitschrift »Nowy mir« zuständigen Dichters Oleg Tschuchonzew, in das Januarheft 1988 Gedichte von Brodski als erstem dieser Dritten Emigration aufzunehmen. Die Preisverleihung veranlaßte lediglich die Vorverlegung in das Dezemberheft. Sie entsprach der Einschätzung Brodskis in literarischen Kreisen des Inlands und des Auslands. Noch heute sind Solschenizyn und Brodski die meistbeachteten Autoren der dritten Emigrationswelle. Bunin, der schon vor der Emigration einen internationalen Namen gehabt hatte, war zum Zeitpunkt der Verleihung des Nobelpreises im Ausland hoch anerkannt. In der Sowjetunion hingegen wurden seine Werke wie die aller Emigranten zu dieser Zeit nicht mehr veröffentlicht. Emigranten waren Unpersonen geworden, sie wurden nicht mehr beachtet. Bunins Name fehlt in der sowjetischen Literaturenzyklopädie von 1930. Erst über zwei Jahrzehnte später kehrte sein Name in die russische Literatur seiner Heimat zurück. Die Lockerung der Literaturpolitik in der Nachstalinzeit führte dazu, daß er - nicht zuletzt dank des Einsatzes von Konstantin Paustowski - zum ersten sowjetischerseits zugelassenen emigrierten Autor wurde. Natürlich konnte nur ein Teil seines Schaffens veröffentlicht werden. 1962 wurde ihm in der neuen Literaturenzyklopädie ein Artikel gewidmet, der Nobelpreis erwähnt.
Pasternak war als Lyriker bereits in der Vorsowjetzeit in literarischen Kreisen bekannt. Er hatte Anfang der zwanziger Jahre in der Sowjetunion auch noch einiges publizieren können. Manche sahen in ihm den bedeutendsten jüngeren Dichter des nachrevolutionären Rußland, aber die führende Rolle spielten die unbegabten Verseschmiede des Komsomol. Er versuchte zunächst, sich mit dem neuen Regime irgendwie zu arrangieren, hat aber ab 1935 nur als Übersetzer leben können. Im In- und Ausland wußte man von ihm wenig. Erst kurz bevor ihm 1958 der Nobelpreis verliehen wurde, war er in das internationale Scheinwerferlicht als Autor des Romans Doktor Schiwago geraten, und diese Beachtung war in erster Linie eine Folge der sowjetischen Verfolgungen. Der Preis galt dem Roman als seinem Hauptwerk und seiner Lyrik, aber seine Gedichte fanden weitreichende Beachtung nur infolge des Nobelpreises. Der Artikel in der sowjetischen Literaturenzyklopädie 1968 - acht Jahre nach dem Tod - ist recht ausgewogen, Roman und Nobelpreis werden erwähnt. Der Roman wurde aber erst 1988 den Lesern in Rußland zugebilligt, nachdem 1987 der Ausschluß des Autors aus dem Schriftstellerverband aufgehoben worden war.
Scholochows literarische Bedeutung ist allein an den Roman Der Stille Don gebunden. Von 1928 an ist er regelmäßig in der Sowjetunion gedruckt worden. Allerdings stand anfangs das Verbleiben dieses Werkes in der politisch anerkannten Literatur durchaus auf der Kippe. Die ersten beiden Bände waren nach Erscheinen wegen der zu objektiven Schilderung der Kosaken und Weißen sowie wegen des Erwähnens der Verbrechen der Roten scharf kritisiert worden. Erst eine positive Äußerung Stalins 1929 über das Werk, die ein »Zurückziehen« für nicht nötig erklärt, aber »gröbste Fehler« anprangert, leitete seinen Siegeszug in die Sowjetliteratur ein. Die politischen Veränderungen und historischen Verfälschungen in den folgenden Ausgaben sind immens. Scholochow verschaffte sich durch ständige Anpassung hoch angesehene und gut dotierte Posten bis zu seinem Tode. Von der ersten sowjetischen Literaturenzyklopädie ist der Band mit dem Buchstaben Sch, der etwa 1939 hätte erscheinen müssen, als Folge des ständigen Wandels der politischen Haltung gegenüber einzelnen Schriftstellern nie erschienen, aber an anderer Stelle wird dort seine »Kosakenepopöe« als »eines der leuchtenden Beispiele der Sowjetliteratur«4 gepriesen. Im 8. Band der zweiten Literaturenzyklopädie, 1975, ist ihm als »einem der führenden Meister des sozialistischen Realismus« ein umfangreicher Artikel gewidmet.
Paustowski hat seine internationale Anerkennung gerade zu dem Zeitpunkt erreicht, als die Entscheidung für Scholochow gefällt wurde. Er hatte mit seinem autobiographischen Hauptwerk, der Erzählung vom Leben, das einer Verleihung des Nobelpreises zugrunde gelegen hätte, unmittelbar nach dem Kriege begonnen und den ersten Band Ferne Jahre 1946 veröffentlicht, als noch eine gewisse kriegsbedingte Liberalität in der Kulturpolitik herrschte. Im anschließenden eisigen Klima der Endstalinzeit hatte er daran nicht weiterschreiben können. Aber während des »Tauwetters« - 1954 bis 1963 - hat er sein großes Zeitbild vom Anfang des Jahrhunderts über den Ersten Weltkrieg bis in die erste Sowjetzeit hinein auf sechs Bände erweitert. Sie wurden in der DDR übersetzt, erschienen in München in Lizenz. Paustowski war nie in Haft, aber wegen seines Einsatzes für eine freie Literatur, der Förderung des inneren Widerstandes, bei der Führung stets mißliebig; er hat weder Posten bekleidet noch namhafte Auszeichnungen erhalten.
Solschenizyn hatte seinen Ruhm in der Welt Ende 1962 schlagartig errungen. Die Beachtung, die er damals durch seinen kurzen Roman über einen Tag in einem sowjetischen KZ ausgelöst hatte, hielt während der sechziger Jahre an. Jene erste literarische Lagerdarstellung hatte nur durch den persönlichen Einsatz Chruschtschows veröffentlicht werden können. Solschenizyn wurde daraufhin in der Sowjetunion kurzfristig überaus gepriesen, ihm wurde von der Kommission der Leninpreis für Literatur 1964 zugesprochen, aber inzwischen hatte sich die Politik geändert und eine Einmischung von höchster politischer Warte verhinderte die Umsetzung des Beschlusses.5 Ab 1966 hatte er Publikationsverbot, die großen Werke gerieten ins Ausland. Im Unterschied zu Pasternak erfolgte bei ihm der Ausschluß aus dem Schriftstellerverband im Jahr vor der Verleihung. Erneut mischten sich politische und literarische Beachtung. In der sowjetischen Literaturenzyklopädie fehlt 1972 sein Name. 1974 bis 1994 lebte er im Ausland, die Werke, die dem Nobelpreis zugrunde liegen, erscheinen in Rußland seit 1989/90.
Von Brodski war bis zur Exilierung praktisch nichts in Rußland erschienen, er war nur in eingeweihten, engeren Kreisen bekannt. Wie bei Solschenizyn verbreiteten sich seine Texte nur in Abschriften, im »Samisdat«. Seine Gedichtbände kamen in den USA heraus. Im Rahmen der Perestroika aber war er der erste der bedeutenden russischen Autoren, deren Werke dem Leser in der Heimat aus dem großen Kreis der Verbotenen genehmigt wurden. Auch in seinem Fall haben die politischen Umstände - nur etwas anders als bei Pasternak und Solschenizyn - zur Bekanntheit beigetragen. Der erste Prozeß gegen einen Schriftsteller nach der Stalinzeit - 1963/64, genau am Ende des »Tauwetters« - hatte nämlich ihm gegolten. Das Unrechtsurteil erregte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, erwies sich auch tatsächlich als ein Signal des nun wieder härteren kulturpolitischen Kurses. Danach fand Brodski als Dichter im Westen bleibende hohe Anerkennung, erhielt als Emigrant in den USA auch eine Reihe von Preisen, die mit dem Nobelpreis gekrönt wurde.
Iwan Alexejewitsch Bunin, am 22.10. (nach dem Julianischen Kalender am 10.10.) 1870 im Hause eines Gutsbesitzers aus altem russischen Adelsgeschlecht in Woronesch geboren, erlebte in seiner Jugend den finanziellen Ruin des russischen Adels während der raschen Industrialisierung. Das entsprechende Schicksal der eigenen Familie nötigte ihn zum Geldverdienen als Journalist und Bibliothekar. 1891 erschien eine erste Gedichtsammlung, 1897 der erste Prosaband. Ab 1899 lebte er in Moskau und gehörte dort zum Kreis der realistisch schreibenden Autoren um den Verlag »Snanie«, die den avantgardistischen Strömungen der russischen Literatur jener Jahre - Symbolismus, Akmeismus, Futurismus - ablehnend gegenüberstanden. Freundschaft verband ihn mit Tschechow bis zu dessen Tod 1904 und mit Gorki, aber nur bis 1917, da er dessen bolschewistische Tendenzen ablehnte. Sein literarisches Ideal war Lew Tolstoi, nicht Dostojewski. 1902-1909 erschien eine fünfbändige, 1915 eine sechsbändige Gesamtausgabe. Die hohe Anerkennung, die er erwarb, zeigt sich in der Ernennung zum Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften 1909. Bunin ist vor dem Ersten Weltkrieg viel außerhalb Rußlands gereist, besuchte nicht nur Westeuropa, sondern auch Asien, Vorderasien und Afrika, aber sein Schaffen blieb auf Rußland, seine landschaftliche Schönheit und seine sozialen Probleme konzentriert. Bunin erkannte das Verbrecherische des kommunistischen Systems früh. Er konnte 1918 von Moskau nach Odessa fliehen und Anfang 1920 über Konstantinopel nach Frankreich emigrieren. Dort war er zunächst aktiv an der Organisation des Publikationswesens der russischen Emigration beteiligt und blieb von 1924 bis zu seinem Tode literarisch produktiv. Nach der Verleihung des Nobelpreises erschien in Berlin 1934-1939 eine zwölfbändige russische Werkausgabe. Seine politische Ablehnung des Sowjetsystems war unerschütterlich. Im Rahmen der sowjetischen Bemühungen, russische Emigranten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zur Annahme sowjetischer Pässe und zur Rückkehr zu bewegen, wandten sich die hoch anerkannten Autoren K. Simonow und I. Ehrenburg vergeblich an ihn. Er starb am 8.11.1953 in Paris und erlebte nicht mehr die 1955 beginnende Rückkehr seines Werkes nach Rußland.
Bunin gehörte zu jener literarischen Richtung, welche die realistische Tradition Turgenjews und Tolstois fortsetzte. Er hat überwiegend Erzählungen geschrieben. Gesondert steht - weitgehend autobiographisch - als größeres Prosawerk Das Leben Arsenjews, aber auch dieses Buch besteht weitgehend aus eigenständigen Episoden und selbständigen Szenen. In seinem Schaffen setzt er gern das Gesehene um, beschreibt Menschen und Landschaften, führt von da aus in seelische Vorgänge. Liebe und Tod sind ihm wesentliche Motive, wobei er mit Der Herr aus San Francisco 1916 eines der Meisterwerke der Weltliteratur über das Versagen der Menschen vor dem Tod geschaffen hat. Diese Erzählung ist insofern eine Ausnahme, als sie in Italien spielt und nicht in Rußland, dem Handlungsort der meisten Werke, auch derer, die Bunin in der Emigration verfaßt hat. In Mitjas Liebe hat er 1925 eine seiner guten tragischen Liebesgeschichten geschrieben. Der sowjetische Zensor aber griff beim Nachdruck 1982 ein und eliminierte Bunins behutsame Einbeziehung des körperlichen Bereichs.6 Sein Tagebuch, in dem er 1918/19 das Grauen der Revolutionsereignisse festgehalten hat, ließ er 1935 unter dem Titel Die verfluchten Tage drucken. Es gibt auch Einblick in die Klarheit, mit der Bunin das Kommende damals voraussah.
Boris Leonidowitsch Pasternak wurde am 10.2. (nach dem Julianischen Kalender am 29.1.) 1890 in Moskau geboren und stammt aus einem höchst kultivierten Hause.7 Sein Vater war ein bedeutender impressionistischer Maler, seine Mutter, Rosalia Kaufmann, eine Pianistin. Er wuchs in Moskau in einer Atmosphäre des Geistes, der Kunst und der Literatur auf. Längere Zeit lag der Schwerpunkt seiner künstlerischen Ausbildung im Bereich der Musik, erst 1909, als er das Studium der Philosophie in Moskau abschloß, fiel die Entscheidung für die Wortkunst. 1912 studierte er ein Semester in Marburg. Während seine Eltern und seine Schwestern nach Berlin emigrierten, blieb er nach Lenins Staatsumsturz im Lande. Er gehörte als nichtkommunistischer, doch loyaler Autor zur Kategorie der »Mitläufer« - wurde geduldet und konnte einige Gedichtbände publizieren. 1934 wurde er, von dem später hingerichteten Bucharin protegiert, sogar Mitglied des Präsidiums des neuen Einheitsschriftstellerverbandes. In den bald darauf folgenden Jahren des Massenterrors blieb Pasternak verschont. Stalin wählt ihn sogar aus, um sich mit ihm telefonisch über den verbannten Ossip Mandelstam zu unterhalten, damit über Pasternak das exclusive Ereignis des Anrufs und die von ihm verfügte Revision des Urteils unter Schriftstellern bekannt werde. Die ideologische Abschwächung während des Zweiten Weltkrieges ermöglichte Pasternak 1943 und 1945 die Publikation von je einem kleinen Gedichtband. Ein 1948 gedrucktes weiteres Buch mußte auf amtliche Anweisung sofort wieder vernichtet werden. Die erhoffte Veröffentlichung seines einzigen, etwa im Laufe von zehn Jahren entstandenen Romans Doktor Schiwago zu Beginn des »Tauwetters« nach Stalins Tod blieb auf einige Gedichte aus dem Roman beschränkt. Die von der KPdSU inszenierte Verurteilung der Publikation in Italien 1957 durch die Masse der Moskauer Schriftstellerkollegen weckte bei einigen von ihnen später das Gewissen und wurde eine der Quellen des geistigen Widerstands.8 Immerhin konnte Pasternak sein Haus in der Schriftstellersiedlung Peredelkino bei Moskau behalten. Dort starb er am 30.5.1960. 1961 erschien in den USA eine dreibändige Werkausgabe und in der UdSSR, von Lew Oserow besorgt, ein Band mit seinen Gedichten in der am meisten angesehenen Lyrik-Reihe. Die volle Rückkehr in die in Rußland anerkannte Literatur erfolgte erst ab 1988.
Boris Pasternak begann als Lyriker mit einer außerordentlich metaphorischen und elliptischen Sprache, die sie eher in einen Zusammenhang mit der Dichtung des Surrealismus als mit der des damals ausklingenden Symbolismus bringt. Sein Suchen nach der Stellung der Kunst im Weltgeschehen ist eingebettet in Natur- und Liebeslyrik. In den zwanziger Jahren folgte er dem Zug der Zeit und bezog Umgangssprachliches und die Sprache von Technik und Wissenschaften ein. Später war er bemüht, im Ausdruck sparsamer, klarer und einfacher zu sein. Die Musikalität des Gestalteten verbindet sich bei ihm mit dem Ringen um eine geistige Aussage. Der Roman Doktor Schiwago erfaßt das Revolutionsgeschehen, auch die Zeit davor, führt im Epilog bis in die Gegenwart der Niederschrift Anfang der fünfziger Jahre. Durch außerordentliche Dichte, reichen Symbolgehalt und eine hohe Zahl an Personen ist er nicht leicht zu erfassen, aber er gewinnt bei jedem erneuten Lesen. Die in einem abschließenden Kapitel angeführten Gedichte des Doktor Schiwago fassen die religiöse Aussage des Romans zusammen. Infolge des politischen Skandals um den Roman wurden im Westen auch etliche der frühen guten Erzählungen Pasternaks erneut gedruckt, so seine Geschichte einer Kontra-Oktave von 1912, die ebenso tief in Probleme des Zwischenmenschlichen wie in Probleme der Kunst eindringt.
Michail Alexandrowitsch Scholochow wurde am 24.5. (nach dem Julianischen Kalender am 11.5.) 1905 in der Siedlung Kruschilin im Dongebiet geboren. Sein Vater arbeitete zeitweilig in einem Mühlenbetrieb als Verwalter, seine Mutter, zur Hälfte kosakischer Herkunft, war Bäuerin. Er hat nur vier Jahre ein Gymnasium besucht, war von 1922 bis 1924 Gelegenheitsarbeiter und Journalist in Moskau. Er kehrte dann ins Dongebiet zurück und blieb zeitlebens dort. 1926 brachte er zwei kleine Sammlungen mit damals wenig beachteten Erzählungen heraus, denen 1928 der erste Band des bis 1940 auf vier Bände anwachsenden Romans Der Stille Don folgte, für den er später einen der ersten Stalinpreise erhielt. Die These, daß nicht Scholochow der Autor des Romans sei, sondern der 1920 verstorbene Schriftsteller und Offizier Fjodor Krjukow, ist nie verstummt. Solschenizyn hat 1974 weiteres Material dazu veröffentlicht, das von Zeitzeugen aus dem Umfeld Scholochows bestätigt wurde.9 Nur 5 Prozent der beiden ersten Bände und 30 Prozent der beiden letzten sollen von ihm selbst stammen. 1932 trat er der Kommunistischen Partei bei. Zu dieser Zeit begann Scholochow mit Neuland unterm Pflug, einem Roman über die Kollektivierung, der mit der sowjetischen Propaganda in solchem Umfang übereinstimmte, daß er für den erst 1959 abgeschlossenen zweiten Teil den Leninpreis erhielt. Ende der Stalinzeit hatte Scholochow den Stillen Don den Wünschen der Partei folgend erheblich umgeschrieben, 1965 hat er die Änderungen entsprechend einer geänderten Parteilinie erneut revidiert.10 Scholochow wurde 1939 o. Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, 1961 Mitglied des ZK der KPdSU. Auf dem 23. Parteikongreß 1966 schmähte er die Schriftsteller A. Sinjawski und Ju. Daniel, als sie zum Entsetzen der Weltöffentlichkeit verurteilt worden waren. Er beschimpfte sie, weil sie literarische Werke in Frankreich außerhalb des Bereichs der sowjetischen Zensur veröffentlicht hatten, als »Verräter« und »Werwölfe«, pries die zwanziger Jahre, in denen man sich nicht um »die streng abgegrenzten Paragraphen des Strafgesetzbuches gekümmert«, sondern die beiden hingerichtet hätte. Protest und Verachtung aller, die sich für Freiheit und Wahrheit in der Literatur einsetzten, waren die Folge. »Unser Volk hat mit Millionen von unschuldigen Menschen für die Mißachtung des Gesetzes unter Stalin bezahlt«, erinnerte ihn Lidija Tschukowskaja. Literarische Werke hat Scholochow in den letzten 25 Jahren bis zu seinem Tode am 21.1.1984 nicht geschrieben.11
Michail Scholochow ist durch den Roman Der Stille Don einer der bekanntesten Sowjetschriftsteller geworden. Er behandelt darin Leben und Kampf der Donkosaken von 1912 bis 1922. Der im Zentrum stehende Kosak kämpft zunächst auf der Seite der Bolschewiken, wendet sich aber angesichts erlebter menschlicher Infamie von ihnen ab. Die Darstellung des Zusammenbruchs der Welt der Kosaken in den Wirren des politischen Umbruchs fand Anerkennung außerhalb der Sowjetunion, löste aber im Lande selbst Angriffe als »Kulakenliteratur« aus, bis Stalin eingriff. Trotz der mehrfachen Anpassungen des Textes an die Parteilinie widerspricht der Roman den von Scholochow vertretenen Prinzipien der Parteilichkeit, des Optimismus und des Positiven Helden. Der einzige mit Sicherheit von ihm selbst verfaßte spätere Roman Neuland unterm Pflug erfüllt aber diese Bedingungen des sozialistischen Realismus: Er propagiert die Kollektivierung und hat - trotz gelegentlicher Einbeziehung von Negativem - mit einer wahren Wiedergabe der Zwangsmaßnahmen, denen Millionen Bauern zum Opfer fielen, überhaupt nichts zutun.
Konstantin Georgijewitsch Paustowski wurde am 31.5. (nach dem Julianischen Kalender am 19.5.) 1892 in Moskau geboren.12 Er verbrachte seine Jugend in Kiew und Moskau, war als Sanitäter an der Front und später als Journalist in Odessa, Batumi und Tiflis. Sein Studium hatte er infolge des Ersten Weltkrieges 1914 abbrechen müssen. Sein eigentliches Talent als naturverbundener Erzähler, der mit seinem Schreiben auf alles Beachtenswerte hinweisen will, das dem üblichen raschen Blick des Menschen entgeht, brach erst Mitte der dreißiger Jahre durch. Sein Protest von 1934 gegen die sich erheblich verstärkende Bevormundung und Herabwürdigung der Literatur zeigt sein Verantwortungsbewußtsein vor dem dichterischen Wort und seinen Mut. Sein literarisches Schreiben hielt sich trotz des ernsten menschlichen Anliegens in politisch noch geduldeten Grenzen, so daß er keine unmittelbaren Verfolgungen zu erdulden hatte. Nach Stalins Tod gehörte er zu den aktiven Vorkämpfern einer freien Literatur, wurde u.a. der wichtigste Herausgeber der Anthologie Blätter aus Tarussa (1961), einem bald nach dem Erscheinen verbotenen Dokument des inneren Widerstands. Er setzte sich mutig für die Rehabilitierung unterdrückter und verschwiegener Schriftsteller wie I. Bunin, I. Babel, M. Bulgakow u.a. ein. Paustowski war auch einer der ersten, die ihre Stimme für die Reinheit der russischen Sprache und die Besinnung auf die künstlerische Form erhoben. Sein Hauptwerk, die Erzählung vom Leben, sechs Bände, in denen er Selbsterlebtes, menschlich Wesentliches berichtet, brachte seinen Namen ins Ausland. Die sowjetische Anerkennung, der Leninpreis, für den er 1965 vorgeschlagen worden war, blieb ihm versagt. 1968 wählte ihn die Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz zum Mitglied. Er lebte teils in Moskau, teils in Tarussa, im Waldgebiet südlich der Hauptstadt. Am 14.7.1968 ist er in Moskau gestorben, er wurde in Tarussa beerdigt.
Paustowskis schönste Texte sind Poesie in Prosa. Er kann darin Natur sprachlich so gut gestalten wie wenige, der Reichtum an Farben ist erstaunlich. Aber diese Meisterschaft erreichte er erst im Alter von etwa 40 Jahren. Am Anfang seines Schaffens standen Seefahrergeschichten, dann folgten Versuche, die Idealpläne zur Umgestaltung des Landes mit publizistischer Literatur zu begleiten, bis er zum einfachen Erzählen und Beschreiben fand. Paustowski erzählt additiv, nicht nach einem Plan, Szene reiht sich an Szene. Er ist Epiker, nichts ist auf eine Pointe ausgerichtet, einer Schlußlösung untergeordnet. Auch seine im Kriege geschriebenen Erzählungen weichen vom üblichen Hurrapatriotismus erheblich ab. Er richtet den Blick auf von Trennung und Leid betroffene Menschen fern der Front. In seinen besten Erzählungen wie Schnee oder Das Telegramm wird menschlich Ergreifendes nahegebracht, dabei hat er ein besonderes Gespür für schicksalhafte Begegnungen und den Tod. Politisch Zeitbezogenes läßt er in der erzählenden Prosa fort und bleibt so immer ehrlich. In Essays zur literarischen Situation aber war er kritisch und mutig. Die Erzählung vom Leben ist in gleicher Weise gehalten. Die Zeit, über die er nicht wahrheitsgemäß berichten konnte, hat er nicht mehr erfaßt. Essays über einige Schriftsteller wie Blok, Olescha oder Babel und Reflexionen aufgrund von Reisen - Paris, Bulgarien - ergänzen sein Schaffen. Immer gilt sein Blick dem Wesentlichen des Menschen.
Alexander Issajewitsch Solschenizyn wurde am 11.12.1918 in Kislowodsk geboren, sein Vater war gefallen, seine Mutter arbeitete als Stenotypistin. Er wuchs in Rostow am Don auf und schloß sein Studium an der Physikalisch-Mathematischen Fakultät zu Beginn des deutsch-russischen Krieges 1941 ab. Eine Äußerung in einem Brief brachte ihm, inzwischen Hauptmann der Roten Armee, 1945 eine Verurteilung zu acht Jahren Straflager ein, doch seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse verschafften ihm einen Platz in einem Sonderlager zum wissenschaftlichen Einsatz, bewahrten ihn aber nicht vor einer anschließenden Verbannung nach Mittelasien. 1956 wurde er rehabilitiert und durfte als Dorfschullehrer nach Mittelrußland übersiedeln. Er war parallel als Schriftsteller tätig, unternahm aber erst 1962 den Versuch einer Publikation. Hierfür hatte er am Beispiel des Tagesablaufs eines Durchschnittsgefangenen im sowjetischen Arbeitslager - er nannte ihn Iwan Denissowitsch - das menschenunwürdige Leben der Millionen Häftlinge zwar nicht umfassend, doch mit überzeugender Anschaulichkeit dargestellt. Der Chefredakteur der liberalsten Literaturzeitschrift »Nowy mir«, Alexander Twardowski, war von diesem ersten Lagerroman so begeistert, daß er die Veröffentlichung bei den höchsten Parteistellen durchsetzte. Die dadurch ausgelöste hohe nationale Anerkennung zerbrach nach einem guten Jahr am Wandel der Politik, die internationale aber blieb. Solschenizyn wurde zum furchtlosen Alleinkämpfer gegen das kommunistische System. Sämtliche literarischen Werke und publizistischen Pamphlete, wie seinen Brief an die Delegierten des 4. Schriftstellerkongresses 1967, wo er die Schäden der Zensur für die russische Literatur anprangerte, gab er ins Ausland zur Veröffentlichung. 1969, im Jahre seines Ausschlusses aus dem Schriftstellerverband, brachte der Possew-Verlag in Frankfurt am Main eine sechsbändige russische Werk-Ausgabe heraus. Die Publikation des Archipel GULag in Paris, seines dreibändigen dokumentarisch-literarischen Werkes über die sowjetischen Konzentrationslager, gab 1974 den Anstoß zu seiner gewaltsamen Abschiebung in die Bundesrepublik Deutschland, und zwar in Absprache mit der deutschen Regierung. Er lebte dann in Zürich und übersiedelte 1976 in die USA. Dort zog er sich weitgehend aus dem öffentlichen Leben auf schriftstellerische Tätigkeit zurück, verfaßte zehn Bände über die Vorgeschichte des Endes des Zarenreiches, Das Rote Rad. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR kehrte er 1994 als einziger namhafter Emigrant nach Rußland zurück und nahm in Moskau Wohnung. Seine publizistischen Aktivitäten in der völlig veränderten Heimat, die sich mit keinem der entstandenen politischen Lager ganz identifizieren, finden ein gespaltenes Echo.
Alexander Solschenizyn hat seinen Namen durch seine auf eigenem Erleben basierenden Romane erworben. Schon vor Ein Tag des Iwan Denissowitsch hatte er aufgrund seiner Haft im Sonderlager für Wissenschaftler den Roman Der erste Kreis verfaßt, in dem es ihm gelingt, ausgehend von der auf wenige Tage beschränkten Haupthandlung eine Gesamtvorstellung vom Leben in der Sowjetunion unter Stalin zu geben. Er veranschaulicht dabei die innere Freiheit derer, denen als Häftlinge die äußere genommen ist. Auch Krebsstation, ein Roman über ein Krankenhaus in Mittelasien, der mit dem Problem der Haltung zum Tode einen Einblick in die sowjetische Klassengesellschaft verbindet, nimmt seine dichterische Stärke aus dem Autobiographischen: Solschenizyn selbst war Krebspatient, überwand aber die Krankheit. Aus seinem Erleben in Mittelrußland stammt seine beste Erzählung Matrjonas Hof, die die Kraft des Menschlichen als Gegengewicht gegen das Sowjetische überzeugend nahebringt. Solschenizyn bezeichnete seine historischen Romane über die Vorgeschichte von Lenins Staatsstreich, Das Rote Rad, als sein wichtigstes Anliegen. Der Gesamtumfang und das Übermaß an Informationen erschweren aber weitgehend den Zugang. Weniger dichterisch, doch bleibend gültig sind seine dokumentarischen Texte Der Archipel GULag und - über seine Auseinandersetzungen mit der Macht - Eiche und Kalb.
Der am 24.5.1940 in Leningrad geborene Iossif Alexandrowitsch Brodski entstammt einer jüdischen Familie, sein Vater war Photograph.13 Mit fünfzehn Jahren wurde er nach dem Abschluß der Schule Fabrikarbeiter und war dann bis 1963 als Techniker bei geophysikalischen Expeditionen tätig. Daneben erlernte er im Selbststudium Englisch und Polnisch, übertrug aus diesen Sprachen Lyrik ins Russische. Den fehlenden Schulbesuch und ein Studium ersetzte er außerdem durch eine intensive Beschäftigung mit der damals unterdrückten russischen Religionsphilosophie und mit griechischer Mythologie. Brodski rechnet sich zur »Generation von 1956«, deren erster Schock die Niederwerfung des Ungarnaufstandes war. Eigene Gedichte schrieb er aus innerer Notwendigkeit, ohne mit der Möglichkeit einer Veröffentlichung in sowjetischen Organen zu rechnen. Sie kursierten in Abschriften. Seine nonkonforme literarische Tätigkeit führte 1964 zu einem Prozeß, in dem er - nicht Mitglied des Schriftstellerverbandes - zu fünf Jahren Verbannung verurteilt wurde. Von nun an erschienen seine Gedichte im Westen. Proteste namhafter russischer Schriftsteller und die Aufmerksamkeit der westlichen Presse bewirkten seine Freilassung 1966. Als jüdische Sowjetbürger Ausreisegenehmigungen erhielten, wurde er - 1972 - zur Ausreise genötigt. Er lebte von da an bis zu seinem Tode am 28.1.1996 in New York, hielt sich aber gern im Winter in Venedig auf. Rußland hat er, auch als es möglich wurde, nicht mehr besucht. Zeitweilig lehrte er an amerikanischen Universitäten. Brodski veröffentlichte seine Lyrik in zahlreichen Büchern auf russisch, ging bei essayistischen Arbeiten aber zum Englischen über. Die erste vierbändige Ausgabe in Rußland wurde 1992 begonnen.
Iossif Brodski hat eine geistige, keine politische oder irgendwie gesellschaftskritische Lyrik geschrieben. Sein metaphysisches Interesse, das der Ideologie des Sowjetsystems absolut fremd ist, dürfte der Grund gewesen sein, daß er in der Sowjetunion nicht publiziert und dann ausgewiesen wurde. Sein Schaffen steht auf dem Boden der russischen Lyrik vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, des »Silbernen Zeitalters«, dem die Zugehörigkeit der russischen Literatur zur Kultur des Abendlandes - ausgehend vom antiken Griechenland - eine Selbstverständlichkeit war. Die Beschäftigung mit dem englischen Mystiker John Donne fand auch Niederschlag in einem seiner längeren Gedichte. Zu den Themen seiner Lyrik gehören neben unmittelbar religiösen und religiös-philosophischen auch historische und mythologische, solche aus der griechischen und römischen Kulturwelt bis hin in die Gegenwart des von ihm geliebten Italien. Oft haben seine Gedichte erzählenden Charakter, dabei liebt er Enjambements. Der sprachliche Bogen ist weit gespannt vom erhabenen Stil mit kirchenslavischen Elementen bis zur russischen Vulgärsprache und zum Einfügen nicht-russischer Wörter. Letztlich bleibt in seiner Lyrik etwas Suchendes, die Religiosität ist nicht bekennend christlich, sondern allgemein, mit christlichen Elementen, doch ist sie stets vom Wissen um den geistigen Ursprung des materiallen Seins getragen.
Die Schicksale der fünf russischen Nobelpreisträger zeigen den hohen Grad des Politischen, der in diesen Fällen bei der Entscheidung eine Rolle spielte. Es kann bei der russischen Literatur dieses Jahrhunderts auch nicht anders sein, da sie von 1917 an in die Politik des Rußland regierenden Systems einbezogen wurde. Die Entscheidungen des Nobelpreiskomitees lassen sich in vier Fällen als gut bezeichnen, die fünfte Entscheidungsfindung ist beklemmend.
Die Wahl von Bunin kann man als eine Bestätigung des Bewahrens und Weiterlebens der traditionellen russischen Kultur des neunzehnten Jahrhunderts in der Emigration auffassen, als einen Protest gegen die Unterdrückung des Geisteslebens in der Sowjetunion, gegen die Tendenz, Literatur in den Dienst einer Staatsideologie zu stellen, zur Propaganda herabzuwürdigen.
Die Wahl von Pasternak mag von der weltweiten Pressereaktion beeinflußt worden sein, nachdem der Autor so infam unterdrückt wurde, nur weil er ein literarisches Werk im Ausland erscheinen ließ. Aber sie war trotzdem gut. Pasternak ist einer der wichtigsten russischen Schriftsteller, der in seinen reifen Jahren eine klare und mutige politische Haltung einnahm und dessen Lyrik und Prosa international hoch anerkannt sind.
Die Wahl von Scholochow war falsch, wenn er sich als Autor des Werkes eines andern ausgegeben hat, falsch, wenn die Entscheidung im Vergleich mit Paustowski bewertet wird und literarische und ethische Argumente herangezogen werden, falsch, wenn einem sowjetischen staatlichen Druck nachgegeben wurde, richtig nur, wenn man dokumentieren wollte, daß auch in den von der Zensur veränderten Werken wahre und literarisch gute Elemente enthalten sind und unter hohen sowjetischen Literaturfunktionären und politischen Anpassern auch fähige Schriftsteller sein können.
Die Wahl von Alexander Solschenizyn dürfte durch die publizistische Beachtung, die er in jenen Jahren erfuhr, erheblich gefördert worden sein, aber er hatte die Ehrung verdient: literarisch durch gültige Werke über das Leben im Rußland seiner Zeit und menschlich-politisch durch einen einmalig mutigen, opferbereiten Einsatz gegen die Verlogenheit des sowjetischen Systems - nicht nur im Bereich des Geisteslebens.
Die Wahl von Brodski war gut, er ist einer der besten russischen Lyriker unseres Jahrhunderts, er war zum Zeitpunkt der Verleihung des Nobelpreises einerseits in den USA integriert, andererseits als Emigrant in Rußland so hoch anerkannt, daß auf ihn dort die Wahl fiel, mit seinem Werk die Reintegration seiner Emigrationsgeneration zu beginnen, so wie Mitte der fünfziger Jahre die Reintegration der ersten Emigrationswelle mit dem ersten Nobelpreisträger Bunin begonnen hatte.
Rußland ist mit seinen Nobelpreisträgern gut vertreten, Typisches der Entwicklung seiner Literatur läßt sich ablesen und wurde anerkannt.
1 Vgl. Björkegren, Hans: »Rysk nobelpriskandidat«, in: Stockholms-Tidningen 11.1.1962, S. 4.
2 Vgl. Vigorelli, Giancarlo: »I Candidati Nobel«, in: La fiera letteraria 3.10.1965 (Nr. 38).
3 Mark Slonim, in: Novoe russkoe slovo, New York, 10.3.1974; Aleksandr Bors&c&agovskij, in: Literaturnaja gazeta 27.5.1992; Lundkvist, Artur: »En ny vag av modernism över Sovjet«, in: Folket i Bild - FIB 1962, 50, S. 12-13, 67; ders.: »Inledning«, in: K. Paustovskij, Ungdomsar [Dalekie gody]. Stockholm 1963, S.7-8; C&ic&ibabin, Boris [»Vergleich des Schaffens Scholochows mit dem Paustowskis«], in: Literaturnoe obozrenie 1992, 11/12, S. 42-45; Korsakov, D., Korsakova, T., in: Komsomol'skaja pravda, 14.7.1993.
4 Literaturnaja (e%nciklopedija, Bd. 10 [1937]), München: Sagner 1991, Spalte 381.
5 Vgl. Z&ores Medved'ev, Desjat' let posle »Odnogo dnja Ivana Denisovic&a«, London: Macmillan, 223 S. Dt.: Schores Medwedjew, Zehn Jahre im Leben des Alexander Solschenizyn, Darmstadt: Luchterhand 1974, 214 S.
6 Vgl. Manfred Bieler, in FAZ 20.10.1984.
7 Zu Pasternaks Leben vgl.: Gerd Ruge, Pasternak. Eine Bildbiographie. München: 1958 und M. Aucouturier, Boris Pasternak in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt 1965.
8 In Romanform hat Juri Krotkow das Geschehen um Pasternaks Preisverleihung dargestellt: Juri Krotkow, Nobelpreis für Pasternak. Wien: Zsolnay 1981, 319 S. Der Autor hält sich aber nicht streng an die Fakten.
9 Vgl. Kontinent Nr. 44, 1985, Russkaja mysl' 17.4.1992, S. 11 u.a.
10 Einzelheiten hierzu siehe: Rühle, Jürgen: Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus in der Epoche Lenins und Stalins, Frankfurt a.M.: Gutenberg 1987, S. 94-99.
11 Die Rede Scholochows und der Brief Lidija Tschukowskajas vollständig in: Helen von Ssachno/Manfred Grunert (Hgg.): Literatur und Repression. Sowjetische Kulturpolitik seit 1965, München: dtv 1970, S. 53-61.
12 Ausführlich zu Paustovskij: W. Kasack, Der Stil Konstantin Georgievic& Paustovskijs (Slavistische Forschungen 11). Köln/Wien: Böhlau 1971. 369 S.
13 Ausführlicher zu Brodski: Kasack, W.: »Iossif Brodskij«, in: Osteuropa 38 (1988), S. 180-188.
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