Lili - Heft 111
Thema: Radio
Herausgeber dieses Heftes:
Helmut Kreuzer
Inhalt
Helmut Kreuzer
Vorwort - Preface
Einleitung - Introduction
Harro Zimmermann
Radio - Modernisierung der Sinne.
Forschungsperspektiven zwischen Literatur- und
Kulturwissenschaft (am Beispiel der Zwanziger Jahre)
Radio - Modernization of Senses
Karl Prümm
Machtvolle Klangmaschine mit Amplitudenbegrenzung.
Der Rundfunk in den intermedialen Debatten 1928/29 in
Deutschland
Mighty Sound Machine with Limited Amplitude.
The Radio within Debates between Various Media 1928/29 in
Weimar Germany
Karl Karst
»Mein Lebensziel war es, Kutscher zu werden.«
Günter Eich und die Anfänge des Rundfunks in Deutschland 44
»I wanted to become a coachman.«
Günter Eich and the Beginning of Radio in Germany
Horst Pöttker
Journalismus unter Goebbels. Über die Kraft der Radioreportage
Journalism in the Third Reich. The Power of Radio Reports
Konrad Dussel
Bildung versus Unterhaltung?
Ein Vergleich deutsch-deutscher Hörfunkprogramme am Vorabend
des Fernsehzeitalters
Education versus Entertainment?
A Comparison of Eastern and Western Germany Broadcasting
Reinhold Viehoff
Schriftsteller und Hörfunk nach 1945 - ein unterschätztes
Verhältnis
Radio and Literature after 1945 ... an underestimated
relationship
Knut Hickethier
Junges Hörspiel in den neunziger Jahren.
Audioart und Medienkunst versus Formatradio
The Young Radioplay in the Nineties
Labor
Joan Kristin Bleicher
»Das Ohr zur Welt«
Vermittlungsformen und -möglichkeiten des Hörfunks
Forms of and Possibilities for Mediation in Broadcasting
Sibylle Bolik
Für ein unreines Hörspiel.
Zur (nicht gestellten) Frage der Literaturadaptation im Radio
Pro an impure radioplay. The (not asked) question of Radio
Adaptation of Literature
Helmut Kreuzer
Einleitung
Die technischen Medien unseres Jahrhunderts sind Gegenstand
vieler Disziplinen, von der Elektrotechnik bis zu den
Wirtschaftswissenschaften. Was die Philologien an ihnen
interessiert, sind Programme und ihre Strukturen, Sendungen und
Sendungsformen, Programmacher und Rezipienten, spezielle
Produktionen mit ihren Voraussetzungen, Abläufen und Folgen.
Die Philologien untersuchen die Gegenstände unter
theoretischen, historischen und kritischen Aspekten, in ihrem
soziokulturellen Kontext. Ihre Ansätze und Ergebnisse
überschneiden sich mit denen benachbarter Fächer (was in diesem
Heft dazu führt, daß auch Beiträge aus Nachbarfächern darin
enthalten sind).
Gegenwärtig stehen die Bildschirmmedien Fernsehen und Computer
für die publizistische Medienkritik und die akademische
Medienforschung im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Das Radio gilt
gemeinhin als bloßes Begleitmedium (wenn andere gleichzeitige
Tätigkeiten keine ungeteilte Konzentration erfordern) und ist
in den Hintergrund gerückt. Wie weit zurecht, läßt sich nicht
nur mittels empirischer Nutzungsstudien prüfen, sondern zum
Beispiel auch durch die publizistische Programm- und
Sendungskritik und die programmgeschichtliche Forschung. Wie
die Auflagenhöhe oder die Rezeptionsweise (am Strand, im Bett,
am Schreibtisch, in der Schule) für die
literaturwissenschaftliche Forschung zu Buchpublikationen nur
beachtenswerte Gesichtspunkte unter anderen sind (dem
ästethischen, historischen, politischen etc.) und nur bei
spezieller Bestsellerforschung (oder überhaupt bei
literatursoziologisch orientierten Rezeptionsstudien) zum
Ausgangspunkt für die Leitfrage werden, so können auch die
Einschaltquoten (so wichtig sie in der Konkurrenz der
technischen Massenmedien sind) oder die Rezeptionsweisen (etwa
des autofahrenden Radiohörers oder des Krankenhauspatienten)
das Forschungsinteresse am Radio nicht maßgeblich
determinieren. Neben den Quantitäten spielen Qualitäten eine
Rolle. Das gilt für die Gewichtung der Gegenstände in
Überblicksdarstellungen wie für den Focus von Spezialstudien.
Wir haben bereits eine mehrbändige Geschichte der deutschen
Fernsehprogramme, aber noch keine deutsche Programmgeschichte
des Radios. Beiträge dieses Hefts sind teils als knappe
Überblicksversuche, teils als Detailforschungen nutzbare
Vorarbeiten bzw. potentielle Bausteine für eine solche
Geschichte, die heute schon circa acht Dezennien zu überschauen
hätte. Die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts haben aus
ganz verschiedenen Gründen innerhalb der deutschen
Hörfunkgeschichte eine hervorstechende Bedeutung. Daher werden
sie auch in diesem Heft intensiver als andere beachtet.
Literarisch relevante Programmteile im deutschen Radio der 20er
Jahre nimmt Harro Zimmermann (ausgestattet mit der
Doppelkompetenz des Radioredakteurs und des philologischen
Publizisten) als Exempel für seine grundsätzlichen Überlegungen
zur Modernisierung der Sinne durch das Radio. Karl
Prümm, Germanist und Medienwissenschaftler in Marburg,
analysiert mit historischem Scharfblick die intermedialen
Debatten im Deutschland von 1928/29. Während das Radio der
Weimarer Republik ungeachtet staatlich bestellter Kontrollen
noch pluralistisch-liberal bemessene Spielräume
experimentierend auszumessen vermochte, aber auch bereits feste
Programmstrukturen und spezifische Sendungsformen (auch, aber
nicht nur für das Hörspiel) herausbildete, diente das Radio des
Dritten Reiches als ideologisch-politisches Führungsmittel der
nationalsozialistischen Machthaber. Aber wie der Dortmunder
Kommunikationswissenschaftler Horst Pöttker am
Beispiel der Reportage aufzeigt, brachten die bereits
etablierten Gattungsformen in das neue Rundfunksystem ein
spezifisches Wirkungspotential mit ein, das sich u.U. noch
gegen die Ziele des propagandistischen Einsatzes unter der
Hand zu behaupten vermochte.
Zu den erfolgreichsten und berühmtesten Funkautoren des
Jahrhunderts gehört in Deutschland Günter Eich, der sich
bereits in der Weimarer Republik als junger Autor in der neuen
literarischen Radioszene durchsetzte, im Radio des Dritten
Reiches mit zahlreichen Sendungen präsent war und
nichtsdestoweniger in den 50er Jahren der BRD den Gipfel seines
Ruhms als Hörspielautor erreichte. Karl Karst
(Rundfunkpraktiker und freier Autor, Günter Eich-Experte in
Köln) hellt mit Sorgfalt die literarischen Anfänge Eichs im
Kontext der frühen Rundfunkgeschichte um 1930 auf. Wir haben
hier das Fallbeispiel eines Autors, dessen Oeuvre die Epochen
überspannt und der kontinuierlich an der Stiltradition
festhält, die Hans Dietrich Schäfer vor Jahren am literarischen
Lebensweg von Dichtern des Magischen Realismus aufgewiesen
hat.
Was 1945 dennoch zu einer Epochenscheide macht, zeigt sich u.a.
an der Spaltung des deutschen literarischen Lebens in die
Literatursysteme von BRD und DDR (neben weiteren
Regionalsystemen deutschsprachiger Literatur u.a. in Österreich
und der Schweiz). Die Methode des Vergleichs zeitgleicher
Programme bestimmt den Beitrag des Privatdozenten und
Historikers Konrad Dussel (Forst) über die Differenzen
zwischen den Hörfunkprogrammen des Jahres 1958 in der BRD und
der DDR (mit deren sehr viel stärkerem Anteil an Unterhaltung,
speziell Unterhaltungsmusik). Der Hallenser Literatur- und
Medienwissenschaftler Reinhold Viehoff arbeitet die
Funktionen, die der Hörfunk seit 1945 im literarischen Leben
wahrnimmt, im systematisch gegliederten Überblick heraus; er
zeigt an Autoren wie Martin Walser, Heißenbüttel und Harig, wie
aufnahmebereit der Hörfunk auch für experimentelle Literatur
mit Avantgarde-Ambitionen war. Die literarische Rolle des
Radios wurde zwar vom Literaturbetrieb des Büchermarkts im
literarhistorischen Bewußtsein überschattet, nahm aber faktisch
höchst relevante Funktionen im literarischen Leben wahr (auch
außerhalb der Hörspielredaktionen).
Vom Hörspiel der 50er Jahre, dessen namhaftester Repräsentant
Günter Eich im Bewußtsein vieler Hörer und Kritiker ist, setzte
sich das sogenannte Neue Hörspiel ab, das die überlieferte
Form zertrümmerte und das eine neue Funktionsbestimmung
provozierte, die dann ihre Fortsetzungen in der digitalen
Hörspielentwicklung fand und unter dem Etikett »Medienkunst«
ein neues Kunst- und Radioverständnis mit etabliert hat. Diese
gattungsgeschichtliche Entwicklung wird von Knut
Hickethier (Medienwissenschaftler in Hamburg)
nachgezeichnet und in einen programmgeschichtlichen
Strukturwandel eingeordnet, der von den »Kästchenprogrammen«
der 50er und 60er Jahre zu den »Fließprogrammen« der 70er, 80er
und 90er Jahre führt und mit einem veränderten Konzept der
Weltvermittlung Hand in Hand geht, das in Hickethiers Beitrag
problematisiert wird.
Auch die Laborrubrik nimmt in diesem Heft ausnahmsweise das
Thema des Hauptteils auf. Joan Bleicher (vom Hamburger
Lehrstuhl Hickethiers) und Sibylle Bolik (vom Siegener
Sonderforschungsbereich »Bildschirmmedien«) destruieren allzu
enge Normierungen des Hörfunks und des Hörspiels und geben
damit auch Anregungen für weiterführende Forschung zur
Programmgeschichte überhaupt wie speziell zur
Gattungsgeschichte des Hörspiels und zur Geschichte der
Adaptationen als eines integralen Teils der Hörspielgeschichte
(und nicht als eines vorgeblich minderen Gattungstyps im
Schatten des vorgeblich höherwertigen »Originalhörspiels«).
Vielleicht darf ich zum Schluß erwähnen, daß die meisten
Beiträger dieses Heftes irgendwann einmal an der Universität-GH
Siegen tätig gewesen sind, als Studierende oder als Lehrende
und Forschende, so daß dieses Heft auch als Dokument eines
örtlichen Engagements und seiner überregionalen Verbreitung und
Verzweigung im Geflecht der Medienphilologie gelesen werden
kann.
Summaries
Radio - Modernization of Senses
The present essay advocates the prudent co-operation between
literary, cultural and media research. The possibilities and
perspectives of this co-operation are illustrated examplarily
by the cultural and literary history of the radio in the
twenties. The textual sciences have to learn from the
neighbouring disciplines working anthropologically,
iconographically, and acoustically, and vice versa. The
starting question of these innovative and mutual tasks should
be to find out, how the mass culture - especially the radio -
covered our twentieth cetury with intellectual, mental,
sensual, and tonal-aesthetical definitions of form. The
techno-medial medium radio, too, has had ist entry into the
network of experiences and interpretations of our epochal
awareness, into the perception of what we consider as modern
age of what we are able to perceive as tradition. The shapes of
radio’s words and sounds stay what they have always been:
destined by (mass-)culture and - at the same time - a special
mental figuration of this century, made for communication.
Mighty Sound Machine with
Limited Amplitudes. The Radio within
Debates about and between various Media 1928/29 in Weimar
Germany
Radio broadcasting was probably the most dynamic technical
mass medium of the Weimar Republic. Within just a few years it
established a powerful institution and an immaterial network.
With ist wireless waves the radio transformed virtually the
whole territory of the German Reich into a centralist
controllable sphere of sounds. Nevertheless, it reached its
limits in 1928. Newer, even more suggestive media emerged or
cast their shadows: sound film and television. At the same
time, German broadcasting came under attack due to its limited
amplitude, its lifeless programs and its rigid censorship. This
article shows how the radio in the midst of debates on media
represented the basis for fantasies about media and how,
simultaneously, its definite transformation was demanded.
Karl Karst
»I wanted to become a coachman.«
Günter Eich and the Beginning of Radio in Germany
This contribution outlines the biographical beginnings and
the way to the then young radio of a radio playwright, who is
still most important today.
Günter Eich, born in 1907, first came to Berlin in 1925, where,
since 1923, the public entertainment radio was operating its
early programme. Even before the young poet published his
first book in 1930, he had had contact with the new medium
radio. It promised an auditory to the student of sinology and a
(proper) payment to the lyric poet.
The author of this contribution wrote about Eich in his
editorial epilogue to the radio play volumes of the »Complete
Works«: he was »an author of radio times, someone who
experienced the artful possibilities of broadcasting from its
beginning and who influenced it like no one else. No author of
this century has been identified with radio-art like him. And
no other art-form of our time is so lastingly connected with
the name of one person as is the radio play with the name
Günter Eich.«
Horst Pöttker
Journalism in the Third Reich. The Power of Radio Reports
The journalistic report is characterized by four qualities:
it is simultaneous, subjective, factually correct and vivid.
These qualities aim at optimal authenticity. During the 1920s
and 1930s, the new medium radio enhanced the potential for
authenticity and communicative power of the report by making
live transmissions in real-time and the recording of background
sounds possible. Joseph Goebbels preferred to use radio reports
for NS-propaganda because of the impression of authenticity and
credibility. Despite this instrumentalization, some radio
reports from the NS-era show the report’s inherent power to
convey to the listeners problematic realities hidden behind the
propaganda facade. With this point of view, five reports from
the years 1936-39 are presented and commented on: Hitler’s
arrival in Berlin after the Münchner Abkommen,
100-meter-finals at the Olympics, women workers in a shoe
factory, assault on Hitler on November 8th, 1939, air raid
precautions shortly before the war. Is the radio report avoided
in present days also because of its power to break up
enactments?
Konrad Dussel
Education versus Entertainment?
A Comparison of East- and Westgerman Broadcasting
Adopting the general prerequisites valid for television
programme analyses, radio programmes of three western and three
eastern German radio stations in the year 1958 are examined
(WDR-MW, WDR-UKW, SWF, Radio DDR I, Radio DDR II, DS). There
are quantifying results in the sectors political - literary -
other word, and serious - entertaining - other music. Next
there follows a closer qualifying examination of each segment.
Special attention will be directed to the absolutely dominating
entertainment music in GDR radio; a phenomenon especially
striking in the direct comparison between the East and the
West. In closing, the profiles of the radio stations according
to the dimension of the politicalization and the cultural
orientiation are determined and the central differences in the
systems are specified.
Reinhold Viehoff
Radio and Literature after 1945 ... an underestimated relationship
Radio is a medium of literary production that has
generally had a deep impact on literary actions since 1945.
Noticeable changes in the literary field emerged in three
dimensions. These are the followings: radio as a prominent
distributor of literature, radio as a - at least secondary -
prominent factor of literary production, and radio as playing a
prominent role in literary patronage. It is argued in detail
that radio as a literary medium should be in the future focused
as a means of widening literary actions. Examples are given to
back these considerations.
Knut Hickethier
The Young Radioplay in the Nineties
Starting with an outline of the landscape of radio in the
Federal Republic of Germany, with its Formatradio, development
of the radioplay in the nineties is presented by short
descriptions of numerous examples. Apart from the
word-orientation of new plays, irritating alienated views are
shown to prevail, people in borderline cases are potrayed, the
normality of every day life is questioned again and again.
There are new examples of acoustic non-narrative radio plays.
New forms of connecting words with music and the dynamic
montage of cultural questions are tried out. Radioplay of the
nineties, with its experimental forms of production, sees
itself on the way to a new esthetical autonomy.
Joan Kristin Bleicher
Forms of and Possibilities for Mediation in Broadcasting
Every new media uses old media as content. Thus there is an
increasing complexity of media coverage. Beside this new media
preform upcoming media. This essay deals with the early days of
radio in Germany: the programming models, the presentation of
news and entertainment. It describes how radio prestructured
television in regard to program structure, live coverage and
genres developments. Furthermore this essay describes the
expectations radio had to meet when the regular broadcasting
started. Those expectations form the basis for the broad range
of social functions which media now fulfill in western
societies.
Sibylle Bolik
Pro an impure radioplay. The (not asked) question of radio adaptation of literature
From the outset many radioplays have referred to literary
works, but up to now radio adaptation of literature is regarded
as subordinate to the true, the original acoustical play. The
hierarchical relation is indicated by practical conventions as
well as theoretical and research positions. The legitimation of
radio adaptation - so the thesis - is connected with the
legitimation of radioplay in general which still seems to be a
delicate question. A side-glance into film history confirms
that the enforced striving for originality results from
unsolved problems of emancipation.