Lili - Heft 119
Thema: Vom Scheitern
Herausgeber dieses Heftes:Ralf Schnell
Inhalt
Ralf Schnell
Einleitung - Introduction
Martin Rector
Der gescheiterte Lebensplan. Anmerkungen zu Jakob Michael Reinhold Lenz
Eckhardt Momber
Scheiterndes Gelingen. Zu Wolfgang Koeppen
Failing in succeeding. On Wolfgang Koeppen
Hannes Fricke
Selbstverletzendes Verhalten: Über die Ausweglosigkeit,
Kontrollversuche, Sprache und das Scheitern der Erika Kohut in Elfriede
Jelineks Die Klavierspielerin
Self-cutting: About Hopelessness, Attempts of Control, Language, and the Failure of Erika Kohut in Elfriede Jelinek’s Die Klavierspielerin
Astrid Helble
... und in vitro ist Nacht. Vom Scheitern in der Wissenschaft
Between Detection and Desaster. Thoughts about Failure in Science
Werner Klüppelholz
Von der Weisheit des Scheiterns. Paralipomena zur Poesie Mauricio Kagels
The Art of Failing. Paralipomena on Mauricio Kagels’ Poetry
Labor
Christa Karpenstein-Eßbach
Diskursanalyse als Methode
Gerald Funk
Zwischen Apokalypse und Arkadien. Zu den Bildwelten Hort Langes im Dritten Reich.
Fee-Alexandra Haase
Verliebte Gedichte. Zur Gattung des Liebesbriefes .... Christian Hoffman von Hoffmannswaldaus
Georgeta Vancea
Ralf Schnell
Einleitung
"Ich würde dieses Wort 'scheitern'
überhaupt nicht benutzen. Ich messe
Scheitern oder Erfolg an vollständig
anderen Maßstäben als zum Beispiel die
Wirtschaft oder die Politik. Das ist ja
gerade das, was die Literatur in unseren
Gesellschaften - vielleicht - leisten kann,
ohne größere Wirkung natürlich: eine der
wenigen Möglichkeiten zu sein, mal andere
Maßstäbe einzuführen. Menschliche."
Christa Wolf, 1978, nachdenkend über Christa T.
In seiner Danksagung anläßlich der Verleihung des mit DM 250 000 dotierten Internationalen Musikpreises der Ernst-von-Siemens-Stiftung - nicht zu Unrecht auch 'Nobelpreis für Musik' genannt - bekannte sich der fast 70jährige Preisträger Mauricio Kagel am 20. Juni 2000 zu einer Lebensmaxime, die sich als eine kleine Philosophie des Scheiterns verstehen läßt: "Krisen begleiten uns treu in schlechten wie in guten Zeiten, lebenslang. Ich kann mir Vergangenheit und Gegenwart ohne Ungewißheit, Gefahr und bedrohliche Wendepunkte nicht vorstellen. Und der Begriff Zukunft löst in uns Ratlosigkeit aus, weil niemand imstande ist, mittelfristig die Qualität kommender Zeiten vorherzusagen. Es wird immer anders als man glaubt und hofft." (FAZ v. 21.6. 2000)
Nähme man diese Maxime als Grundriß einer Poetik des Scheiterns, so wären nach deren Koordinaten die Archive der Literarhistorie wohl einigermaßen erschöpfend zu vermessen. Denn wovon, wenn nicht vom Scheitern, handelt alle Literatur, die diesen Namen verdient? Was, wenn nicht das Mißlingen, beschäftigt die großen Autor/innen, stofflich wie (auto-)biographisch? Die Geschichte der Literatur ist prall gefüllt mit Not und Elend, Mord und Totschlag, Schuld und Sühne. Von den Heroen der Antike, den Helden Homers oder den dramatischen Figuren bei Sophokles, über die Apokalyptik Dantes und die Abenteuer des Simplizissimus bei Grimmelshausen bis zu Franz Kafkas K. und Heiner Müllers Hamletdarsteller spannt sich ein Bogen aus Ungewißheiten und Gefährdungen. Und nicht weniger spannungsreich ist die (Lebens-)Geschichte ihrer Autoren: Drogen, Alkohol, Exzesse - ein einziges Arsenal aus Zusammenbrüchen und Katastrophen, Suiziden und Untergängen.
Freud wußte, weshalb er sich für seine Psychoanalyse des Unheimlichen in den Werken E.T.A. Hoffmanns bediente - und warum er seine Studien über den Dichter und das Phantasieren (1907) mit dem Satz pointierte: "der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte".
Zwei Seiten des Scheiterns also sind sorgsam zu unterscheiden: Literatur und Leben. Doch von Belang und Interesse ist gerade deren widerspruchsvolles Wechselspiel. Deshalb fällt es schwer, beide Seiten säuberlich voneinander zu trennen. Häufig genug repräsentieren sie ein produktives, ja konstitutives Bedingungsverhältnis, bisweilen auch zerstörerischer Art. Um so erstaunlicher, daß diesem Phänomen von Seiten der Literaturwissenschaft - zumindest in systematischer Absicht - bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Denn das Ineinanderspielen von künstlerischem Werk und schöpferischer Disposition in der Perspektive des Scheiterns ließe sich produktiv, womöglich polemisch in eine Theoriedebatte einführen, die mit der These vom "Tod des Autors" (Roland Barthes) zur Basis einer höchst aktuellen Produktionsästhetik geworden ist, zumal im Hinblick auf das technologische Dickicht der Neuen Medien. Das vorliegende LiLi-Heft will hierzu einen Anstoß bieten, anhand sehr unterschiedlicher Aspekte des Themas, die zugleich seine Variationsbreite dokumentieren mögen: Leben des Autors, Problematik des Werks, Konstitution der Figuren.
Den Auftakt bildet im Beitrag von Martin Rector ein nachgerade 'klassischer' Fall literarhistorischen Scheiterns: Jakob Michael Reinhold Lenz. Ein Dichter, dessen Wertschätzung in der literarhistorischen Rezeption maßgeblich durch Goethes Geringschätzung geprägt worden ist, ein Urteil, das evident schien und sich vielfältig begründen und belegen ließ mit Argumenten und Beispielen aus der Gegen-Welt des Gelingens im Umkreis der Weimarer Klassik. Daß man dem Dichter Lenz mit dieser vergleichenden Wahrnehmung Unrecht getan hat, hat die Literaturwissenschaft mittlerweile hinlänglich nachgewiesen: Sein Werk steht literarästhtetisch heute außer Frage. Die Frage ist jedoch gerade, ob Lenz nicht tatsächlich gescheitert ist: in und an seinen Selbst-Entwürfen, denen der künstlerischen Bestimmung und des Werks, aber auch denen der Person, des eigenen Ich. Martin Rector geht dieser Frage in Form einer "inneren Biographie" des Autors Lenz nach, die im Werk zwar reflektiert wird, aber doch in diesem nicht - im Sinne Hegels - 'aufgehoben' wird.
Von der dunklen Aura des Scheiterns umgeben scheint auch das literaturgeschichtliche Schicksal Wolfgang Koeppens. Das als 'schwierig' geltende Nachkriegswerk dieses Schriftstellers, insbesondere seine drei Romane Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom können Anfang der fünfziger Jahre als literarhistorische Paukenschläge gelten, deren Innovations- und Modernitätsdruck nur die Anfänge Arno Schmidts nach 1945 gleichkamen. Seither hat man - Verleger und Leser, Literaturkritik und Literaturwissenschaft - auf den nächsten, den weiteren, den letzten großen Roman eines der bedeutendsten Autoren deutschsprachiger Prosa im 20. Jahrhundert bis zu seinem Tod. Von Anfängen konnte man hören, Fragmente und Skizzen wurden sporadisch veröffentlicht, doch das erwartete Werk blieb aus. Den Gründen für dieses 'Scheitern' an einem selbst gesetzten Anspruch – also auch Profil und Substanz dieses Anspruchs - geht der Beitrag von Eckhardt Momber nach. Seine Titel "Gelingendes Scheitern" signalisiert vorab, worum es geht: die Voraussetzungen und Konturen der Entwicklung Koeppens - von den im Dritten Reich erschienenen Oppositions-Romanen Die Mauer schwankt und Die Pflicht bis zur hinreißenden Prosaskizze "Ich liebe Venedig warum" - als Ausdruck einer immanenten Logik eines künstlerischen Prozesses zu begreifen, für den "die Zeit der nächste Feind" gewesen ist: die Zeit des Schreibens mit ihren "furchtbaren Anstrengungen" (Koeppen) ebenso wie die eigene Lebenszeit.
Von einem anderen Scheitern handelt hingegen der Beitrag von Hannes Fricke. Er befaßt sich mit dem Werk einer der erfolgreichsten Autorinnen unserer Gegenwart: Elfriede Jelinek. Ihr Erfolg verdankt sich seinerseits dem Kalkül des Scheiterns, dem Jelinek ihre Figuren unterwirft. Von den experimentellen Anfängen in wir sind lockvögel baby! bis zu ihrem opus magnum Die Kinder der Toten - eine einzige Genealogie von Aufbrüchen und Abstürzen, die Jelinek in ihrem Roman "Die Klavierspielerin" zur exemplarischen Tragödie einer einzigen Figur verdichtet hat. Der Entwicklung dieser Figur geht Hannes Fricke mit Hilfe einer literaturwissenschaftlichen Psychoanalyse nach. Er untersucht die Faktoren und Facetten eines "selbstverletzenden Verhaltens", das im scheiternden Bezug zum eigenen Körper seinen ebenso prägnanten wie prekären Ausdruck findet. Es ist ein Versuch, den psychoanalytischen Blick auf Literatur unter dem Aspekt der 'Gegenübertragung' ins Recht zu setzen - als Möglichkeit einer Lektüre, die ihre eigenen Voraussetzungen nicht nur ausweist und begründet, sondern sie auch im Gegenlicht des Textes und seiner Formelemente einer Prüfung unterzieht. 'Scheitern' als das nicht nur thematische, sondern zugleich psychoanalytische und literarästhetische Konstituens einer weiblichen Romanfigur, die man allzu gern zum Gegenbild ihrer Autorin hat verkürzen wollen.
Am wenigsten Aufmerksamkeit wurde dem Scheitern von Seiten der Wissenschaft wohl in jenem Bereich zuteil, in dem sie selbst beheimatet ist. Das Scheitern von Akademikerkarrieren und wissenschaftlichen Projekten, Forschungsaufbrüchen und innovativen Recherchen ist, wenn nicht der Regelfall, so doch geläufige Praxis. Doch dieser Praxis entspricht keine wissenschaftliche Fragestellung. Ein Tabuthema also - und die Gründe hierfür sind komplex. Astrid Helble nimmt sich ihrer in ihrem Aufsatz "... und in vitro ist Nacht" an. Sie zeigt, wie sehr das Scheitern in der Wissenschaft und die Verdrängung dieses Phänomens einander bedingen. Es mag für Geisteswissenschaftler hilfreich sein, dieses Problem im distanzschaffenden Raum von naturwissenschaftlichen Experimenten und Laborversuchen vorgeführt zu bekommen, denn Distanznahme regt den Übertragungsgeist an. Die Niederlagen der Theoriebildung in den Abgründen des Alltags, das Scheitern eines Projekts am eigenen Anspruch, die Ablehnung eines Antrags in der Forschungsförderungsinstitution, der nicht gewährte Zuschuß und die vorenthaltene Stelle - niemand, der, in der Wissenschaft zu Hause, nicht wüßte, worum es hier geht. Der Problemaufriß von Astrid Helble läßt sich insoweit auch als Anregung zur Recherche in eigener Sache verstehen.
Von der "Weisheit des Scheiterns" schließlich handelt der Beitrag von Werner Klüppelholz. Er steht mit Bedacht am Ende dieser kleinen Galerie gelingend-mißlingender Auf- und Abbrüche. Denn sein Autor sucht die Variationen unseres Rahmenthemas nicht im tiefen Ernst deutscher Literatur und Lebensläufe auf, sondern bei eben jenem Künstler, der dem Scheitern in seiner eingangs zitierten Rede philosophisch den Boden bereitet hat: Mauricio Kagel. Der in Argentinien geborene, polyglotte Komponist weist dem Scheitern in seinem Werk gleichsam einen systematischen produktionsästhetischen Ort an. Fehler, Mißverständnisse und Mißlingen fungieren bei Kagel als Ferment einer kompositorischen Technik, die sich aus der langen Reihe der stimmig gelungenen Großen Werke eine provokante Maxime geläutert hat. Sie lautet: Es könnte auch alles ganz anders sein. Das "Hinken" als Basis der Partitur, die "Kreativität der Fehler in der Sprache", eine "winzige Umkehrung der Reihenfolge" als Ursprung einer neuen "Welt" (Kagel) - diese Umkehr-Sicht der Dinge könnte einer Poetik die Grundlage liefern, von der sich für alle Zukunft lernen ließe. Sie setzte freilich die Bereitschaft voraus, das Nicht-Professionelle und den Mangel zu goutieren, Komik und Heiterkeit als Elixiere des Lebens zu verstehen und das "Paradoxon als tägliches Brot" (Klüppelholz) zu essen.
Wahrscheinlich
ist es vor dem skizzierten Hintergrund überflüssig zu erwähnen, daß das
vorliegende LiLi-Heft in der Endphase seines Entstehens von eben dem
Schicksal bedroht war, von dem die Beiträge zu seinem Schwerpunktthema
handeln: vom Scheitern. Das freilich wäre, zumindest in den Augen des
verantwortlichen Herausgebers, eine Pointe zuviel gewesen. Ein
besonderer Dank geht deshalb an die Mitarbeiter, deren
Professionalität, trotz mancher Anfechtungen, das Unternehmen am Ende
glücklich gerettet hat.
Summaries
Martin Rector
A plan for life gone wrong. Notices on Jakob Michael Reinhold Lenz.
The conventional view of Lenz as a person who failed in an exemplary way does only make sense if you measure his life and works not – as older literary criticism did – by the yardstick of Goethe’s classical succeeding, but by Lenz’ own demands. The analysis of his letters shows that he failed because of the for him insoluble conflict of detaching himself from his father. Externally, he tore himself away from his father’s authority by breaking off his divinity study at Königsberg in the spring of 1771 to become a freelance writer instead of a parson. On the other hand, however, internally he remained bound to the father who had been elevated to a god-imago. Thus, his secret plan for life was not the irrevocable break with his father, but the attempt to reconcile him quasi in retrospect through a successful career as an acknowledged and famous poet, thus vindicating the legitimacy of his own way of life. This double-bind is what caused Lenz’ failure, as the literary renown he craved did not materialise; it could not materialise anyway, however, because he turned his works into the medium for articulating the conflicts arising from his detachment, his works serving this purpose less through their action, more through their aporetic structure.
Eckhardt Momber
Failing in succeeding
Wolfgang Koeppen (1906–1996) tried as a narrator to attack the world he lived in. He succeeded with two novels in Hitler’s Germany and three in Adenauer’s Germany (1934 and 1935/39, and 1951, 1952 und 1954 respectively). He failed, however, to explore and to recreate in his further writing the peculiar, yet economically miraculous shift from fascist Germany to cold-war Germany. He failed in so far as he fell short of his own goals and artistic values in narrating a world that seemed even more unfathomable then the previous fascism.
His travel books, which were – in comparison to his scandalous novels – suspiciously well recieved, did ultimately not come to be the route to realising his project of a ‘great novel‘, a project which he pursued throughout the second half of the twentieth century. Eventually, he grew silent. Some complained about his silence, others loved it. The reading public considered him, the author, to have failed and critics and academics continued to sing their praise of his beautiful, sensual prose. The present article aims to investigate these contradictions.
Hannes Fricke
Self-cutting: About Hopelessness, Attempts of Control, Language, and the Failure of Erika Kohut in Elfriede Jelinek’s Die Klavierspierin.
It has been widely accepted that Erika Kohut in Elfriede Jelinek’s Die Klavierspielerin is a victim and can’t stand the overwhelming power of her mother – who represents the patriarchial system. Erika’s Self-Cutting with razors and needles was interpreted as masochistic behaviour. This paper tries to apply Tilmann Moser’s technique of clinical reading to examine the failure of Erika as an attempt to survive (Self-cutting as a technique to get out of dissociative situations and masochistic phantasies as reinscenations of childhood trauma) and the end of the novel where Erika returns to her mother as a failure to get in contact with the child in her – but as the only possible way to survive.
Astrid Helble
Between Detection and Desaster. Thoughts about Failure in Science
This paper deals with reasons and consequences of scientific failure: When do we talk of »failure« in science? How definite is desaster in experiments? Can we characterize a certain type of scientist who might be bound to fail? How do scienists try to avoid getting defeated and how do they manage to get up again if they were? What will happen to the forework of a lost project? Will it be lost, too? What will happen to the forethoughts, to the scientist's intentions, what will happen to his hopes? Do we actually need to prevent it by any means and to reveal any moment it has happened?
Perhaps, there might be a creative potential hidden in situations of failure, an additional painful motivation deriving from being left with one's mere honesty as a researcher in absence of honours as a successful finder. Perhaps, the very moment of failure is just the one to discover one's identity as a scientist, having worked for nothing than the simple truth of error.
Perhaps, failure is one of the greatest chances scientists have.
Werner Klüppelholz
The Art of Failing. Paralipomena on Mauricio Kagels’ Poetry
The author gives some examples of mistakes, misunderstanding and failure (in music, dance and language) in the work of Kagel. These mediate the connotations and historical associations of his poetry from which appears an idea of a different reality.