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Lili - Heft 126



Thema: Bekenntnisse

Herausgeber dieses Heftes:
Wolfgang Haubrichs




Inhalt

Wolfgang Haubrichs
Einleitung - Introduction

Thomas Scharff
Öffentliche Schuldbekenntnisse mittelalterlicher Herrscher und ihre Darstellung in der zeitgenössischen Historiographie
Public Penance of Medieval Rulers and its Description in Contemporary Historiography

Bernhard Jussen
Confessio. Semantische Beobachtungen in der lateinischen christlichen Traktatliteratur der Patristik und des 12. Jahrhunderts
Confessio. Studies of Wording in Latin Christian Treaties from Patristic to 12th Century

Hildegard Elisabeth Keller
Vom beredten Bekenntnis Verstummender. Kommunikationstheoretische und sprachtheologische Reflexionen zu menschlicher Sprachnot in deutschsprachiger Literatur
“Vom beredten Bekenntnis Verstummender”. Reflections on Lack of Speech in German Literature

Peter Godglück
Wunder – Wende – Konversion. Bemerkungen zu einem Verhalten und einigen seiner sprachlichen, mentalen und handlungslogischen Aspekte
Marvels - moves - conversions. Remarks on a concept of behavior and some of its linguistic, mental, and logical aspects

Ulrich Breuer
Nackt wan­dern. Karin Strucks Klas­sen­liebe im Be­kennt­nis­dis­kurs (der sieb­ziger Jahre)
Wal­king Naked. Karin Struck’s Klas­sen­liebe Within the Dis­course of Confessions (in the Seventies

Hermann Lübbe
Bekennerschreiben und freundlichere Konsensdementis

 

Labor

Martin Maurach
Vom Beobachten und ‚Schreiben’ einer literarischen Kultur. Ruhm und metaphorische Räume in J.M.R. Lenzens Pandämonium Germanicum
Watching and ‚Writing‘ a Literary Culture: Fame and Metaphorical Spaces in J.M.R. Lenz‘ Pandämonium Germanicum

Sandro Jung
The Descriptiveness of James Thomson’s Winter (1726) and the Early Eighteenth-Century ‘Winter’ Poem
Die Art der Beschreibung in James Thomsons Gedicht „Winter“ (1726) und die ‚Winter’-Gedichte des frühen 18. Jahrhunderts

Guntram Haag
Der Klausner in der Sangspruchdichtung Walthers von der Vogelweide: Sprechhandeln zwischen geistlichem Rollenspiel und politischem Spruchdiskurs
The Figure of the Hermit in Walther’s von der Vogelweide Poetry: Between Religious and Political Discourse

 Csaba Földes
Kontaktologische Studien als Gegenstand einer interkulturell orientierten Germanistik
Contactological Research as a Topic of Interculturally Orientated German Studies



Wolfgang Haubrichs

Einleitung


Bekandt ist halb gebuesset
Johannes Agricola, Dreyhundert Gemeyner Sprichwörter, 1529

Seien Sie außer Sorge: Nach Kanossa gehen wir nicht, - weder körperlich noch geistig!
Otto von Bismarck, Reichskanzler, am 14. Mai 1872 im Deutschen Reichstag

Wenn der Präsident Reue zeige und Vertrauen in Jesus als seinen Retter habe, werde er Verzeihung finden.
Southern Baptist Church in einer Empfehlung an den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, September 1998

 

Mea culpa, mea maxima culpa ... Ein größerer Gegensatz als der zwischen der Funktion des Bekennens in der christlichen Kirche, sediert als Weisheit in dem oben zitierten, von Johannes Agricola im 16. Jahrhundert registrierten Sprichwort und dem Tenor des europaweit in die Garde der 'geflügelten Worte' eingestellten Bismarckwortes, welches die Buße Heinrichs IV. vor dem Papste im Jahre 1077 als Schwäche interpretierte und trotzig zurückwies, läßt sich kaum denken (vgl. dazu auch W. Haubrichs: Bekennen und Bekehren, in: Wolfram-Studien 16, 2000, S. 121ff.). Ist damit die Denk- und Sprachfigur des Bekennens, die mit den Bekenntnissen der ecclesia militans, der kämpfenden Märtyrer- und Bekennerkirche, zu Christus und zum christlichen Glauben begann, im Schuldbekenntnis und im Beichtzwang der Priesterkirche öffentlich wurde, schließlich in der autobiographischen Selbstentäußerung eines Augustinus (Confessiones), eines Jean Jacques Rousseau (Les confessions) und vielleicht kryptographisch auch eines Thomas Mann (Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull) zur literarischen Gattung gerann, an ihr Ende gekommen. Gibt es keine standhaften confessores mehr?

Im Gegenteil: die christliche Form dieses Sprechaktes lebt in saekularer und religiöser und pseudoreligiöser Form weiter, sei es im Treuebekenntnis der heillos Eifrigen zum Führer in unseliger Zeit, sei es im Widerstand der 'Bekennenden Kirche', sei es in der ununterbrochenen Kette politischer Bekenntnisse zu den Alliierten und den Bündnispflichten in der nie endenden Nachkriegszeit, sei es in der Inflation sonstiger Bekenntnisse, Bekennerworte und 'Bekennerbriefe', deren konfortatorischer und legitimatorischer Charakter in der Kultur der westlichen Welt unabweisbar war und ist. Und schließlich ist auch jener öffentliche und private Entsühnungsanspruch, der einst mit dem Institut der christlichen confessio verbunden war, im Rechtfertigungsverfahren, in der Rechtfertigungspublizistik des letzten amerikanischen Präsidenten, die Jacques Derrida treffend ein 'Theater des Pardons' genannt hat, weiterhin anwesend und wirkungsmächtig. Das Bekenntnis ist eine der mächtigsten und dauerhaftesten, wahrhaft abendländischen Denk- und Sprachmuster, mit dem wir die Wirklichkeit prägen und ergreifen. Selbst Bismarck mußte im trotzig gespielten, quasi heroischen Verweigern der Buße die Form des Bekenntnisses wählen.

Es ist ein Akt symbolischer Kommunikation, der im Mittelalter, aber, wie wir sahen, auch weit darüber hinaus, die Unterwerfung der Macht, der Herrschaft unter den Willen des 'Allbeherrschers', des Pantokrators sicherte, wie Thomas Scharff (Münster) an den 'Öffentlichen Schuldbekenntnissen mittelalterlicher Herrscher und ihrer Darstellung in der zeitgenössischen Historiographie' verdeutlicht, vor allem an den "büßenden Herrschern", an Ludwig dem Frommen (mehrfach: 822, 830 und 833) und an dem für den Tod des Thomas Becket, Erzbischof von Canterbury, verantwortlich gemachten Heinrich II. von England (1172). Damit sind wir schon in der Akzeptanzphase der semantischen Kontextualisierung von Buße, Sündenvergebung und Bekenntnis, der Bernhard Jussen (Bielefeld) in seinem Beitrag 'Confessio. Semantische Beobachtungen in der lateinischen christlichen Traktatliteratur der Patristik und des 12. Jahrhunderts' mit neuartigem Ansatz nachgeht. Dabei wertet der Autor mit Hilfe größerer Textcorpora in zwei Schritten (4./5. Jh. und 12. Jh.) die Kollokationen der Schlüsselwörter confessio, confiteri und anderer Begriffe wie credere "glauben", fides "Glauben", negare "verneinen", peccare "sündigen", paenitentia "Buße", os "Mund" usw. aus, die in der Tat einen Wandel vom Glaubenskontext der confessio zum paränetischen Kontext der Seelsorge und Buße erkennen lassen. Dieser neue, die Mündlichkeit des Bekennens akzentuierende Gebrauchszusammenhang des Wortes confessio zeigt sich auch in seiner frühen, seit dem 9. Jh. belegten Übersetzung bîgiht, einem Verbalabstraktum zu althochdeutsch bî-jehan aus *jehan 'sprechen, versichern'.

'Bekennen' ist ein durchaus komplexer Sprechakt, in dem sich Mitteilung, Preisung ("Gott bzw. den Glauben bekennen"), offenbaren ("Schuld bekennen", "das Leben offenlegen") und die rechtlich verbindliche öffentliche Erklärung in wechselnder Stärke mischen können. Hildegard Elisabeth Keller (Zürich) geht in ihrem Beitrag 'Vom beredten Bekenntnis Verstummender, Kommunikationstheoretische und sprachtheologische Reflexionen zu menschlicher Sprachnot in deutschsprachiger Literatur' des Mittelalters, in denen sich das "bekennende Ich" in Lyrik und Mystik der Projektionsfläche der stummen Kreaturen als Medium des Unsagbaren bedient. Ist das Bekenntnis etwa das Fensterlein oder gar die "Ritze", um in die "dunkle Kammer" des Nicht-Mitteilbaren zu spähen?

Einen sprachhandlungsbezogenen Ansatz wählt Peter Godglück (Saarbrücken) in seinem Aufsatz 'Wunder - Wende - Konversion. Bemerkungen zu einem Verhalten und einigen seiner sprachlichen, mentalen und handlungslogischen Aspekte'. Die Wörter Wunder, Wende, Konversion, aber auch Bekenntnis und Geständnis, können als Propositionen begriffen werden, deren logische Eigenschaften, die vor allem Negationen betreffen, herausgearbeitet werden. Diese Propositionen werden an Erzähltexten, vorwiegend mittelhochdeutschen maeren, die Wendepunkte, ja 'komische' Konversionen enthalten, an denen die Brüche besonders deutlich werden, exemplifiziert.

'Bekenntnisse' sind seit Augustin auch zu einer literarischen Form geworden, es war schon zu erwähnen, ja stehen am Beginn des autobiographischen Sprechens und Schreibens. Peter Beicken und Helmut Kreuzer haben Anfang der 80er Jahre für die vom Aufbruch der Achtundsechziger Bewegung beeinflußte Literatur des vorhergehenden Jahrzehnts das Aufblühen dieser "rhetorischen Figurationen des Individuellen", in denen der Sprecher/die Sprecherin sich selbst darbietet und 'entblößt', beobachtet und diese Beobachtung in die Epochenformel 'Neue Subjektivität' gekleidet. Ulrich Breuer (Jyväskylä) behandelt in seinem Beitrag 'Nackt wandern. Karin Strucks Klassenliebe im Bekenntnisdiskurs (der siebziger Jahre)' an prägnantem Beispiel diesen literarischen Typus "einer Art offenen Tagebuchs" und bestimmt seine Funktion in der politisch-literarischen Diskussion der Zeit als einen Versuch, dem privaten Leben, ohne es zu verleugnen, einen öffentlichen Status zu erwerben.

Um die öffentliche Funktion von Bekennen und Bekenntnis in der politischen Kultur unserer Gegenwart geht es explizit in Hermann Lübbes (Zürich) Essay über 'Bekennerschreiben und freundlichere Konsensdementis', in der er im Widerspruch zu manchen veröffentlichten Meinungen, nach denen "Bekennertum", vor allem "radikalisiertes Bekennertum", ein "Phänomen kultureller Vormodernität" sei, die funktionale Rolle der Widerständigkeit von "Bekenntnistreue" in der Moderne erarbeitet, die gerade in ihrer Pluralität jenseits des Wissens angesiedelte, menschenrechtlich geschützte persönliche Freiheiten auf den Feldern der Religion, der Sprache, der Meinungen und der Identität von Minderheiten hervorgebracht oder bestärkt habe. So steht die aus philosophischen Wurzeln der Antike und des Christentums erwachsene Denk- und Sprachfigur des 'Bekenntnisses' fest verankert auch in der öffentlichen Kultur der Gegenwart.



Summaries



Thomas Scharff


Public Penance of Medieval Rulers and its Description in Contemporary Historiography

Public proclamations of guilt and penitential acts by medieval rulers have always been the subject of historical research. The topics “power” and “penitence” bring together two extremely important fields of mediaevalist investigation. Earlier research was strongly influenced by ideas of the relationship between “church” and “state” which had been formed in the nineteenth century. As a result, humiliating penitential rituals by kings were seen as either a scandalous form of degradation in front of representatives of the church or as a clever move to achieve a “real”, that is political goal. In recent times, however, historians have forcefully emphasised the importance of acts of ritual communication for the functioning of pre-modern societies and have discovered in these rituals a completely new purpose and refinement. This article examines how this ritualised thinking affected the description of acts of penitence in contemporary historiography. It can be shown that in each case certain key terms, which played a role in particular events, became ciphers for complex courses of action. Today these narratives, which were accessible to the contemporaries and transported multifarious messages, thus need to be “deciphered” again.



Bernhard Jussen

Confessio. Studies of Wording in Latin Christian Treaties from Patristic to 12th Century

The contribution attempts to grasp shifts of meaning in the semantic field of confessio in Christian latin treaties from patristic times to the 12th century with the help of distribution tables. The collocations of confessio in 4th/5th century and in 12th century treatises serve as examples. Basis for the tables is the mayor digital edition of Christian Latin texts CETEDOC. The study of collocations helps to see, how the dominant situations for the use of the term confessio changed fundamentally several times. Patristic authors used it mainly as confession of belief, 12th century authors mainly as confession of sin. Up to around 300 collocations like confessio/negatio lead to contexts that discuss the questions of confession versus retraction in a situation of persecution, the same collocation is used in the following two centuries to structure the christological debates. From the 6th century on negare is no longer present among the collocations of confessio. In the 12th century, new collocations like paenitentia/confessio point to the new collective use of confessio. It is especially remarkable to see, how the new ideology and organization of penitence in the 12th century (that made direct communication with god impossible in favour of the necessary intercession of a priest) is institutionalised in the collocations like confessio/sacerdos or confessio/os.



Hildegard Elisabeth Keller

“Vom beredten Bekenntnis Verstummender”. Reflections on Lack of Speech in German Literature

What is a confession? If we look at its (at first sight: non-ritualised) forms in medieval literature, it performs a speech act from a first-person perspective (in the texts considered in my article this is the perspective of lovers in medieval religious and secular contexts) which is directed both to a transcendental partner and to the readers and refers to an experience which is apparently virtually impossible to express. At these limits of verbal expressivities in literary texts, a surprising observation can be made: a human being appeals to nature, either as a collective entity or in the form of individual creatures such as blades of grass, stones, stars, flowers, the waters, mountains or any kind of animal (they are commonly said to be dumb, i.e. speechless) and draws it into a communicational community, in order to enlist its help in confessing adequately. This gesture of communication raises questions which will be the main focus of the analysis of Das fließende Licht der Gottheit (by Mechthild von Magdeburg) and of three courtly love songs attributed to Heinrich von Morungen and Heinrich von Breslau: what concepts of language and Creation lie behind the tacit belief that dumb creatures could participate – as active speakers – in the communication (precisely of the inexpressible) between a human being and his or her transcendental partner? What poetic ingenuity is developed in order to represent the eloquent silence of the confessor?



Peter Godglück

Marvels - moves - conversions. Remarks on a concept of behavior and some of its linguistic, mental, and logical aspects

The paper discusses some basic conditions for the use of the german words Wunder, Wende, Konversion, Bekenntnis and Geständnis. They are modeled as propositions or propositional attitudes. Then some of their logical properties, above all concerning negation, are described. The second part ist dedicated to the analysis of historical texts: miracles are treated as a sort of scheme based texts, turning points being constitutive for the scheme. A further section deals with middle high german maeren, and within the texts with a specific kind of comic conversions.



Ulrich Breuer

Wal­king Naked. Karin Struck’s Klas­sen­liebe Within the Dis­course of Confessions (in the Seventies)

The essay evaluates Karin Struck’s autobiographical novel Klas-sen-liebe as radicalization of the autobiographical dis-course in the seventies, which on his part is understood as specific form of confessional literature. The ana-lysis of the themes, forms and intentions of Klas-sen-liebe points out that the text has developed the rhetorical technique of confessum fur-ther into the poetics of writing naked. This kind of poetics constitutes a model of reflec-tion which makes a distinction between a (new) kind of literature for everybody and a (tradi-tional) kind of literature for the happy few. While executing this distinction in a dynamic way, a specific form is being emerged, typical for the seventies. This form tries to link pri-vate life to politics.



 

Hermann Lübbe

Bekennerschreiben und freundlichere Konsensdementis

Was bekenntisförmig vertreten wird, soll eben damit Diskursen entzogen bleiben. Noch in der Reaktion religionsfreiheitsgewohnter Politiker und Kirchenre­präsentanten der fundamentalistisch in Frage gestellten liberalen Gesell­schaften zeigt sich das. Zu den Reaktionen des amerikanischen Präsidenten auf den fundamentalistischen Terror gehörte ja nicht nur die Ankündigung eines Kriegs gegen ihn, vielmehr auch der Besuch einer Moschee, und auch in Deutschland folgte man diesem Beispiel. Der Sinn der Moscheenbesuche war gerade nicht der Versuch einer Konfliktentschärfung durch Aufweichung von Glaubensdifferenzen, vielmehr deren Bekräftigung mit der Zusatzbekundung, dass sich doch unbeschadet inkompa­tibler religiöser Orientierungen sozial und politisch koexistieren lasse. Bekenntnisse werden in solchen Vorgängen, statt zum Dialogthema, zum Gegenstand wechselseitiger Bekundung ihrer Unaufgebbarkeit gemacht, und das in der gewaltprovozierten Absicht zu bekunden, dass konsenslos-gewalt­freie Koexistenz nötig und möglich sei und im wechselseitigem Interesse aller gelegen.