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Buch des Monats Dezember 2014

Andreas Steinhöfel: Anders
Hamburg: Königskinder/Carlsen, 2014.
Ein neues Buch von Andreas Steinhöfel weckt hohe Erwartungen. Ob dieses Buch sie einlösen kann, wird jede Leserin/ jeder Leser selbst entscheiden müssen. Zweifellos hat der Autor ein ausgesprochen komplexes Buch vorgelegt, das eine relativ simple Geschichte, wie man sie vielleicht schon kennt, mit mystischen, mythologischen und philosophischen Andeutungen und Reflexionen und zudem auch mit anspruchsvollen Erzählweisen verbindet.
Felix, die Hauptfigur, hat einen Unfall und liegt lange Zeit im Koma. Als er daraus erwacht, ist er verändert und kann sich an die Zeit davor nicht mehr erinnern. Man ahnt schon bald, dass es in der Vergangenheit etwas gibt, das die Erinnerung des Jungen blockiert. Szenisch-episodenhaft und gebunden an einzelne Figuren entfaltet sich nach und nach nicht nur die Vor- und Krankheitsgeschichte des Protagonisten – gleichsam zusammengesetzt aus vielfältigen Stimmen, sondern auch eine Vielfalt einzelner Lebensgeschichten. Dass Felix schließlich ins Leben zurückfindet, einen Vater und einen Freund gewonnen hat, wirkt fast zu banal angesichts der Fülle vorab entwickelter Denk- und Fühlwelten, ist wohl aber eine Reminiszenz an das Harmoniebedürfnis (nicht nur) kindlicher Leserinnen/Leser:  
„Seine eigene Kindheit […], daran erinnert [der Vater von Felix/Anders] sich gut, war da nie Angst vor einer konkreten Strafe gewesen, sondern eine ganz fürchterliche Angst vor Disharmonie, […] auch noch in seiner Jugend, […] auch noch als Erwachsener, bis Melli gekommen ist und Ich liebe dich gesagt hat, so, dass er es glauben konnte […]“ (Steinhöfel 2014, S. 95).  

Durchgängig sehr anspruchsvoll ist dagegen die Erzählweise Steinhöfels: Der Autor webt ein vielschichtiges Netz aus realitätsnahen, bisweilen philosophisch und psychologisch ernsthaften Daseinsfragen und phantastisch-märchenhaften, möglicherweise übersinnlichen Elementen voller Bildhaftigkeit, Symbolik und Intertextualität. Gleich zu Beginn erfahren die Leserinnen/Leser:
„Felix bedeutet der Glückliche. Der Name stammt aus dem Lateinischen, und er war, als die Winters ihn für ihren Sohn aussuchten, in der Hitparade der Jungennamen soeben auf Platz elf vorgerückt – Tendenz leicht steigend." (Ebd., 2014, S. 5.)
Obwohl die Unglück verheißende Primzahl elf den Vater etwas „nervös“ macht, gibt er dem Drängen seiner Frau nach und sie nennen das Kind Felix.  
„Und alles ging gut, elf Jahre lang.
Am ersten Tag des zwölften Jahres wurde alles anders.“ (Ebd., S. 6.)

Felix Winter liegt 263 Tage im Koma, exakt so lange, wie seine Mutter mit ihm schwanger war (vgl. ebd., S. 15), und erwacht auf wundersame Weise. Er hat „einen Verstand so klar und so hell […] wie das Wasser eines Gebirgsbaches im Frühling“ (ebd., 2014, S. 35), doch ihm fehlt seine Erinnerung. Und auch das Wesen, Denken und Fühlen des „Winterjungen“ hat sich verändert. Konsequenterweise nennt er sich Anders. – Erneut ist also das Anderssein Steinhöfels zentrales Thema. Anders verhält sich seltsam, sieht, hört und fühlt Farben und Töne: z. B. ein blaues Leuchten um seinen Pfleger herum (vgl. ebd., S. 36) oder er denkt „an den Geschmack von roter Musik“ (ebd., S. 40).  Er ist sensibel für Menschen, spürt sogar deren Krankheiten und macht ihnen Angst mit seiner unumwundenen Direktheit. Weniger Anders hat also Probleme mit all den für ihn unbekannten Menschen, sondern die Menschen haben Probleme mit ihm: Denn Anders kehrt ins Leben zurück als seltsames, als fremdes Kind. Seine Lehrerin beobachtet mit Sorge die Wirkung des Jungen auf andere Kinder und ganz besonders, was zwischen ihm und den ehemaligen Freunden Ben und Nisse vor sich geht. Die beiden Jungen sind die einzigen, die sich über die Amnesie freuen. Anders‘ Eltern sind überfordert, v. a. die ehrgeizige Mutter, die große Pläne für Felix/Anders hatte. Die Mutter hat die für sie so wichtige Kontrolle über ihren Sohn verloren.  Und sie bleibt bis zum Schluss seltsam resigniert und unnahbar. Stack, der ehemalige Nachhilfelehrer, nennt sie „die Fliederfarbene“ (ebd., u. a. S. 83) und macht kein Hehl daraus, dass er sie nicht mag. Anders selbst sagt über seine Mutter lediglich: „Sie erträgt es schlecht, wenn Dinge sich ändern. Man muss dafür Verständnis haben, oder?“ (ebd., S. 83).
Die Vaterfigur dagegen ist selbstreflexiv entworfen und macht eine positive Entwicklung durch: Er nutzt die Chance, eine neue Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen (vgl. ebd., S. 50), wenn auch etwas klischeehaft: Die beiden handwerkern zusammen.
Neben der Hauptfigur Felix/Anders entwirft Steinhöfel mit Stack, dem ehemaligen Nachhilfelehrer, dem das „Licht abhandengekommen“ ist (ebd., S. 150), die atmosphärisch stärkste Figur. Auf geradezu unheimliche Weise zieht es Anders immer wieder zu dessen Haus. Stack ist der einzige, der den neuen Jungen mag und ihm auf Augenhöhe begegnet. Und um Stack herum verdichtet sich das dem Unfall vorangegangene Geschehen und letztlich die Auflösung der Geschichte.   
Für junge Leserinnen/Leser werden wohl v. a. die ebenso sparsam wie sorgsam, manchmal auch humorvoll gezeichneten Figuren und deren jeweilige Bedeutung für das Geschehen vor und nach dem Unfall wie auch manche sensibel erzählte Kindheitsgeschichte von Interesse sein.
Im bisweilen distanziert-ironischen, beinahe schon sarkastischen Blick auf Menschen dagegen dürften nur erfahrene Leserinnen/Leser die hintergründigen Wertungen und einen bekannten Steinhöfel-Sound erkennen. Grundsätzlich aber ist die erzählerische Gesamtgestaltung dieses Kinderromans anders als die zuvor erschienener. Und, sie ist inhaltlich wie formal eine Herausforderung: Erzählt wird teils im Präteritum, teils im Präsens; heterodiegetisches Erzählen mit unterschiedlichen Fokussierungen, Erzählberichte, innere Monologe, Untersuchungsprotokolle und Zeitungsberichte wechseln sich ab. Zeitraffende Passagen und Sätze wie die folgenden wirken neutral-distanziert, erinnern an Erzählweisen großer Erzähler, bspw. an Thomas Mann:
„Nach dem Unfall waren Zeit und Welt für eine Weile aus den Fugen. Der Herbst verstrich, der Winter kam und ging mit einem schmuck- und freudlosen Weihnachtsfest, …“  (ebd., S. 9).

Zudem ist Märchen- und Sagenhaftes, Phantastisches und Romantisches, Philosophisches und Psychologisches kunstvoll eingebunden, lässt mal das Innenleben der Figuren aufscheinen, ermöglicht dann wieder einen (ebenfalls meist distanzierten) Außenblick oder lässt eine mystisch-übersinnliche Atmosphäre entstehen.
Passend dazu ist auch die paratextuelle Gestaltung bemerkenswert: Bedeutsame Gedankengänge werden kursiv gedruckt, Protokolle u. Ä. grafisch abgesetzt, goldene Schrift schließlich lässt Assoziationen des Wunderbaren und Wertvollen zu, wie auch das gesamte Buch in seiner bibliophilen Aufmachung.
Alles in allem komponiert Steinhöfel einen Text, der mit vielfältigen Formen spielt und an verschiedene Erzähltraditionen anknüpft. Zudem greift er zahlreiche Stoffe und Themen auf, die nur bei sehr genauem und evtl. mehrfachem Lesen entschlüsselt werden können. Und wahrscheinlich bleiben manche Zusammenhänge und tiefere Bedeutungen zumindest jungen Leserinnen/Lesern selbst dann noch im Verborgenen. Vielleicht sollte man aber auch gar nicht danach suchen, sondern die ausgesprochen angebotsreiche und spannend erzählte Geschichte einfach auf sich wirken und sich ggf. irritieren lassen. Schon das anspruchsvolle Äußere des Buches lässt wohl erahnen, dass es eher an literarisch erfahrene Leserinnen/Leser gerichtet ist. In jedem Fall braucht man aber solche Bücher, um literarische Erfahrungen sammeln zu können (wozu sich übrigens auch das vom Autor selbst sehr stimmungsvoll eingelesene Hörbuch gut einbeziehen lässt).   
        (Viola Oehme, 12.12.2014)