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Buch des Monats Januar 2014

Kirsten Boie: 

Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen.

Illustriert von Regina Kehn.

Hamburg: Oetinger 2013.

Ab 12–14 Jahren.

Wieder einmal hat Kirsten Boie ein Buch geschrieben, das tief beeindruckt und zu größter Bewunderung veranlasst. Schon der januar_2014Titel deutet an, dass wir es mit den Grenzen von Erzählbarkeit zu tun haben. Umso gelungener ist die gewählte Form: In vier ebenso poetischen wie bedrückenden Einzelgeschichten wird von Kindern und deren Alltag in Afrika, genauer: in Swasiland, erzählt. Eine nur zu Beginn in Erscheinung tretende Erzählinstanz erzählt in großer Nähe zu den Figuren, z. B. von Lungile, dem Mädchen aus einem kleinen abgelegenen Dorf in den Hügeln, die ihren Körper verkauft für ein paar Schuhe.  Denn ohne Schuhe darf ihr kleine Schwester Jabu nicht zur Schule gehen, so will es der König des Landes.  Erzählt wird von Thulani, der manchmal nachts mit seiner toten Mutter spricht, die neben der Hütte begraben ist. Als Waise dürfte er die Schule ohne Schulgeld besuchen, doch er weiß nicht, wie er an den dafür nötigen Totenschein kommen soll. Erzählt wird die Geschichte von Sonto, Pholile und Bheki, deren Mutter ein Erinnerungsbuch für ihre Kinder geschrieben hat, bevor sie gestorben ist. Sonto und Pholile machen sich auf den langen, beschwerlichen  Weg zur Krankenstation, um sich untersuchen zu lassen und so den letzten Wunsch der Mutter zu erfüllen. Erzählt wird von Sipho, der zwar wenigstens seine Gugu noch hat, die Schuldgefühle aber kaum erträgt. Wegen eines Streits um ein Ei hatte er sich einmal geweigert, Wasser vom Brunnen zu holen, was zur Katastrophe führte, als der Rock der Großmutter Feuer fing.
Alle Kinder müssen viel zu schnell erwachsen werden und eben auch Dinge tun und ertragen, die man nicht erzählen kann. Das Buch handelt von Armut, Hunger, immer wieder von der schrecklichen Krankheit und Tod, ohne Details zu benennen. Es handelt aber auch davon, wie die Kinder trotzdem leben und Tag für Tag versuchen, zu überleben und für sich und ihre Familien zu sorgen.
Die Erzählweise Kirsten Boies schafft es, dass man als Leserin/Leser die Figuren durch ihren Alltag begleitet. Man fühlt mit den individuellen Schicksalen und gewinnt zugleich eine Ahnung von den großen und vielfältigen gesellschaftlichen Schwierigkeiten im afrikanischen Swasiland. Erzählt wird in kurzen, einfachen Sätzen überwiegend im Präsens oder Perfekt,  was die Leserinnen/Leser ganz dicht an die Figuren und Ereignisse heranführt.
Das Erzählte wie auch die fast sachliche, leise Erzählsprache vermitteln aber auch ein Gefühl von außenstehender Fremdheit, Hilflosigkeit – ja Sprachlosigkeit. Kirsten Boie lässt die Leserinnen/Leser teilhaben am Geschehen und gibt ihnen auf, eigene Vorstellungen und Empathie zu entwickeln, ganz ohne zu werten oder gar zu moralisieren. Als Leserin/Leser spürt man, dass unsere (westlichen) Wertvorstellungen und Lebensentwürfe hier nicht taugen und bleibt letztlich ratlos zurück.
Es ist nicht neu, dass Kirsten Boie kindliche und jugendliche Leserinnen/Leser mit den Schwierigkeiten des Daseins konfrontiert und zum Nachdenken anregt, ohne ihnen Auswege oder Lösungen anzubieten (siehe z. B. in Nicht Chicago, nicht hier). Anders als sonst erklärt sie diesmal in einem Nachwort, dass in den Geschichten aus Swasiland Erlebnisse verarbeitet sind, die sie selbst auf ihren Reisen gemacht hat und dass das Erzählte in doppeltem Sinne wahr ist: Denn zum einen ist sie den vorgestellten Menschen und deren Lebensgeschichten tatsächlich begegnet, und zum anderen handelt das Buch von einer wirklichen Wahrheit, die den Leserinnen/Lesern ins Bewusstsein gerufen wird. Kirsten Boie dazu:
„Wenn die Geschichten traurig sind, kann ich es darum nicht ändern. Trauriger als die Wirklichkeit sind sie nicht.“  (Boie 2013, S. 112)

Denn in Swasiland „sind so viel Menschen mit dem HI-Virus infiziert […] wie sonst nirgends auf der Welt. […] 120 000 Kinder in Swasiland haben mindestens einen Elternteil verloren, viele von ihnen auch beide; dabei leben im ganzen Land nur 900 000 Menschen (ebd., S. 109–110).   

Sich solchen Wahrheiten zu stellen allein schon, kann ein Grund sein, dieses Buch zu lesen, und nicht erst, wie es vom Verlag vorgeschlagen ist, ab 14 Jahren (mitunter findet man eine Altersangabe von 12 Jahren, der man eher zustimmen kann). Kinder, und zwar schon viel jüngere, werden auch hierzulande mit solchen und anderen grausamen Wahrheiten des Lebens und der Welt konfrontiert. Und, sie sollten die Chance haben, sich auf unterschiedliche Weise damit auseinanderzusetzen.
Kirsten Boies Buch ist Literatur im besten Sinne und ein ebenso herausforderndes wie wunderbar poetisches Angebot, dies zu tun.
Unterstützt wird die Wirkung des Textes durch die gelungenen Illustrationen von Regina Kehn, die sich an afrikanischen Stilen orientieren und durch ihre Schlichtheit und Farbgebung bei den Betrachterinnen/Betrachtern ebenfalls ein Gefühl zwischen Vertrautheit, Nähe und Fremdheit entstehen lassen, je nach kultureller Erfahrung und individueller Assoziation. 

   
(Viola Oehme, 2014)