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Staatsbürgerschaft im Spannungsfeld zwischen Inklusion und Exklusion

Tagung von Nachwuchswissenschaftler_innen der Soziologie, 15./16. Oktober 2016, Universität Siegen

(1) Staatsbürgerschaft wird in den Tagen der öffentlichen Diskussion über Fluchtmigration zwangs-läufig mit Migrationsprozessen in Verbindung gebracht. Entsprechend ging es auch bei der in Sie-gen stattfindenden Tagung weniger allgemein um die bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte von allen Mitgliedern eines politischen Gemeinwesens, sondern vorwiegend um globale Migrati-onsbewegungen, Flüchtlinge oder spezifische Inklusionspolitiken für Neuankömmlinge. Diese the-matische Akzentuierung war zwar ursprünglich von den OrganisatorInnen der Tagung nicht beab-sichtigt worden, ihr faktisches Eintreten ermöglichte aber eine gute Anschlussfähigkeit der einzel-nen Beiträge und Beitragenden aneinander. EMMANUEL NDAHAYO (Siegen) begrüßte im Name der Gruppe, die diese Tagung inhaltlich und konzeptionell vorbereitet hatte (SARAH GRÜNENDAHL, JASMIN MOUISSI, CAROLIN SPRENGER, ANDREAS KEWES, alle Siegen), die Teilnehmenden aus dem In- und Ausland bzw. aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen.

(2) Albert Scherr (Freiburg) eröffnete die Tagung mit einem vorwiegend gesellschaftstheoretisch argumentierenden Vortrag. Er fragte, wo denn eigentlich in der an Exklusionsprozessen interessier-ten kritischen Sozialforschung nach z. B. Adorno oder Bourdieu die internationalen Austauschver-hältnisse ausreichend thematisiert seien, die soziale Inklusion und Exklusion zugleich denken könn-ten? Weiterhin fragte er, ob es in diesem Forschungsfeld nicht den Hang zu einer untertheoreti-sierten Formel gebe, nach der Staatsbürgerschaft immer schon Inklusion bedeute? Anschließend bot Scherr eine eigene Reflexion auf das Tagungsthema, wobei er Staatsbürgerschaft lediglich als Inklusionsmodus für einen politischen, nicht aber zwangsläufig für andere gesellschaftliche Teilbe-reiche fasste. Vielmehr sei es so, dass der bei Thomas Marschall mit Staatsbürgerschaft verknüpfte Wohlfahrtsstaat ja gerade als eine Art zentraler Mechanismus der globalen Ungleichheitserzeugung wirke. Bei der Stabilisierung dieser Ungleichheit spielten dann Migrationsregime, also Politiken der Zugangsregelung zu Nationalstaaten, eine wesentliche Rolle.

(3) Chantal Munsch (Siegen) skizzierte in ihrem Vortrag das Dilemma, dass es zwar unglaublich wertvoll sei, den richtigen Pass zu haben, aber der Pass im Alltag eben kein Garant für faktische Teilhabe sei. Vielmehr sei es im alltäglichen Zusammenspiel von Einzelperson und erlebter Bürger-schaft zentral, wie Lebenswirklichkeiten hergestellt würden. Um diese Überlegung zu illustrieren, schilderte sie zwei Formen der Grenzziehung, nämlich einerseits in den symbolischen Ordnungen von Engagementpraktiken im bürgerschaftlichen Engagement und andererseits das nicht ver-schwinden wollende Label des Migrationshintergrunds. Erstgenanntes diskutierte sie mit Hilfe von Effektivitätsanforderungen bei der Planung eines Stadtteilfestes, letztgenanntes anhand ihrer ei-genen biografischen Erfahrung als Luxemburgerin. Dabei bemerkte sie, dass Migrationshintergrund nichts sei, was man im landläufigen Verständnis selber habe und sich zuweise, sondern für die all-tägliche Sinnstiftung sei das ein Klassifikationsmuster, welches nur bestimmte Migrantengruppen betreffe.

(4) Nach den beiden Vorträgen war ein erstes Analyseraster aufgespannt: Demnach sei Staatsbür-gerschaft nicht als ein Königsweg zur gesellschaftlichen Inklusion zu betrachten, schon allein, weil verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche wie Bildung, Jugendhilfe, Arbeitsmarkt, Wissenschaft oder Zivilgesellschaft diese ganz unterschiedlich in Handlungen übersetzten. Für die Inklusions- oder Exklusionsmechanismen von Staatsbürgerschaft seien vielmehr Kontexte wichtig. Diese diffe-renzieren wiederum je nach Verortung des Handelns in einem politischen Mehrebenensystem: Auf kommunaler Ebene sowie im lebenspraktischen Alltag können gelebte Solidarität oder ein aus-grenzender kleinbürgerlicher Habitus manche Exklusion revidieren oder eben auch nicht.

(5) Die Tagung wurde anschließend mit einer Runde fortgesetzt, die von Akteuren der kommuna-len Verwaltungspraxis besetzt war. An dieser Stelle wurde zudem die Tagung einem außeruniversi-tären Publikum geöffnet. Vor gemischtem Auditorium diskutierten Mitarbeiterinnen aus den Integ-rationsagenturen in Düren und Olpe, SYBILLE HAUßMANN und GEYLA TROT, über die Zusammen-arbeit von MigrantInnen mit kommunalen Verwaltungen. Konkrete Beispiele waren dabei Migran-tenselbstorganisationen. Die gemeinsame These von Haußmann und Trot war, dass Kommunen bei den Themen Staatsbürgerschaft, Migration und Migranteninkorporation Ermessensspielräume hätten. Implizit blieb den Ausführungen der Hinweis, dass es die nationalstaatliche politische Steu-erung von Inklusionspolitiken im Mehrebenensystem nicht immer bis in die Kommune geschafft habe und sich Kommunen erst sehr spät selbst auf den Weg gemacht hätten, solche Politiken zu entwerfen. Moderator WOLF-DIETRICH BUKOW (Siegen) schloss die Diskussion mit einem Plädoyer an kommunalpolitisch Engagierte, die Sorge vor Ausschließungseffekte in Migrantenselbstorganisa-tionen aufzugeben.

(6) Im Abendvortrag fokussierte OLIVER SCHMIDTKE (Victoria) den Blick auf Kanada. Seiner Mei-nung nach zeige der Vergleich Kanadas mit Europa, dass die Frage des Staatsangehörigkeitsrechts nicht diejenige sei, wie schnell es zu Einbürgerungen komme, sondern was von Bürgern erwartet werde und was deren Rechte seien. Dem kanadischen Bürgerschaftsverständnis sei eine dialogi-sche Form inhärent: Nicht nur der Staat verteile Bürgerschaft, sondern Bürgerinnen und Bürger, ungeachtet, ob sie im Land geboren oder eingewandert seien, könnten bzw. sollten sich im Sinne eine Gebots der Teilhabe in dieser aktiv beteiligen. Aber dieser kanadische Republikanismus habe in den vergangenen Jahren Risse bekommen. War Kanada lange Jahre erfolgreich, was das ökono-mische Aufschließen der Neuankömmlinge an die kanadische Mehrheitsgesellschaft betreffe, so sei dieser Lückenschluss in den vergangenen Jahren zunehmend schwieriger geworden. Zugleich gab es die Strategie, Einwanderergruppen stärker zu differenzieren und gegebenenfalls einige Gruppen einzuschränken. Kanada hätte die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge reduziert und somit die humanitäre Ergänzung strategisch ausgewählter Arbeitsmigranten zurückgefahren; auch der Familiennachzug sei stark begrenzt worden. Das Politikfeld Migration sei zunehmend von Nütz-lichkeitserwägungen und Vorstellungen von Sicherheit und nationaler Identität strukturiert.

(7) Die Nachwuchswissenschaftler_innen waren in thematischen Panels eingeladen, die eigenen Arbeiten zu diskutieren. Im Panel zu den normativen Grundlagen von Staatsbürgerschaftspolitik stellte Valerie Lux Schult (Berlin) den enormen Beitrag Will Kymlickas für die Ergänzung des libera-len Staatsbürgerschaftsverständnisses vor. Floris Biskamp (Kassel) verwies anhand Seyla Benhabibs Begriff des Jurispathos auf die Tatsache, dass jegliches philosophisches Legitimieren von Staatsbür-gerschaftspolitiken immer innerhalb der Prämisse von Nationalstaatlichkeit stattfinde. Die Rechts-philosophie sei daran zu erinnern, dass das eigene Handeln immer im Spannungsfeld zwischen Legi-timation und Ideologisierung von Staatlichkeit stattfinde. SARAH STEIDL (Hamburg) schloss das Pa-nel mit einer literaturwissenschaftlichen Studie von Romanen zu Staatenlosigkeit und Fluchtmigra-tion ab. Sie zeigte, dass im historischen Verlauf Migration immer schon ein starker Topos in der Lite-ratur war und diese deswegen einen Zugang zum Verständnis gesellschaftlichen Wandels biete.

(8) Im Panel zu vergleichenden Policies von Zuwanderung stellten LIDIA AVERBUKH (München) und DANI KRANZ (Wuppertal) in je eigenen Vorträgen die Migration nach Israel vor. Erstere fokussierte die ethnische Einwanderung von Aussiedlern aus Russland im Vergleich mit der gleichen Migration nach Deutschland, letztere die Arbeitsmarktinklusion von Arbeitsmigranten. Anschließend disku-tierte MARTIN WEINMANN (Berlin) die Aufrechterhaltung und Gewährung von Staatsbürgerschaft für ausgewanderte Staatsbürger/innen und ihre im Einreiseland geborenen Kinder, wobei er die Bestimmungen in Ländern wie Deutschland, Schweden, Kanada und den USA im Rahmen von De-mokratietheorien reflektierte.

(9) Im Panel über Teilhabe ging es um Kontexte, in denen Staatsbürgerschaft Bedeutung zukommt. Für heranwachsende undokumentierte Migranten in den USA schilderte Elizabeth Benedict Chris-tensen (Kopenhagen), dass Staatsbürgerschaft für diese aufgrund der Peers zunächst kein Thema sei, im späteren Bildungsverlauf dann aber zu einem werde. Auch bei Jugendlichen im Übergang zwischen Schule und Beruf sei die Staatsbürgerschaft durchaus ein wesentliches Element des Selbstverständnisses, wie IMOGEN FELD (Hamburg) ausführte. Felix Maas (Berlin) skizzierte an-schließend sein Dissertationsprojekt zur Einpassung von Fluchtmigration in stadtpolitische Inklusi-onspolitiken, deren Ziel die Konstruktion eines good citizen subject sei.

(10) Zum Abschluss der Tagung versuchten HARALD BAUDER (Toronto), ANDREAS KEWES (SIEGEN) und KARIN SCHITTENHELM (Siegen) sowohl eine Ergebnissicherung der Tagung als auch die Formu-lierung eines kondensierten Arbeitsauftrages für die Zukunft. Für Bauder war bemerkenswert, dass in der englischsprachigen Tagungsankündigung das Wort „Dialectics“ vorkomme, es aber bei der Tagung eben nicht um Dialektiken gegangen sei. Für zukünftiges Nachdenken über Staatsbür-gerschaft sei eine Reflektion auf die Dialektiken von Staatsbürgerschaft möglicherweise ein er-kenntnisreicher Weg. Schittenhelm stellte zur Diskussion, wie sich Diskurse über Staatsbürgerschaft und politische Anlässe, die eine Veränderung politisch-rechtlicher Bedingungen einleiten, im län-derübergreifenden Vergleich untersuchen lassen. Kewes schlug den Bogen zurück zu dem einlei-tenden Spannungsfeld zwischen Analysemöglichkeiten im Rahmen einer funktionaler Differenzie-rung und eines politischen Mehrebenensystems. Die Tagung hätte gezeigt, dass es für beide Analy-seraster spannende Themen gebe und hier in Zukunft sowohl weitere theoretisch informierte wie theoriegenerierende Arbeit notwendig sei.

Konferenzübersicht

Albert Scherr (Freiburg), Inklusion, funktionale Differenzierung und Staatsbürgerschaft

Chantal Munsch (Siegen), Subtile Ausgrenzungsformen im doing citizenship

Podiumsdiskussion „Lokale Praktiken der Inklusion und Exklusion – ein Austausch zwischen Wissen-schaft und Praxis“:

Sybille Haußmann (Düren), Gelya Trot (Olpe), Wolf-D. Bukow (Siegen)

Oliver Schmidtke (Victoria, Kanada), Citizenship in Action: Praktiken der In- und Exklusion aus trans-atlantischer Perspektive

Politisch-Philosophisches Panel:

Valerie Lux Schult (Berlin), Will Kymlickas Konzeption einer multikulturellen Staatsbürgerschaft.

Floris Biskamp (Kassel), Nationale Staatlichkeit und Jurispathos. Auf dem Weg zu einer gesell-schaftstheoretisch reflektierten politischen Theorie der Aushandlung von Zugehörigkeit.

Sarah Steidl (Hamburg), Verkörperungen von Staatenlosigkeit. Flüchtlingsfiguren in der deutsch-sprachigen Gegenwartsliteratur.

Vergleich von Policies zur Zugehörigkeit:

Lidia Averbukh (München), Ethnische Einwanderung nach Deutschland und Israel. Inklusive und exklusive Dynamiken in der Staatsbürgerschaft von Spätaussiedlern und russischer Alija im Ver-gleich.

Dani Kranz (Wuppertal), When labour market needs collide with the raison d’être of citizenship: The dual helix of exclusion and inclusion in Germany and Israel.

Martin Weinmann (Berlin), Auswanderung als Herausforderung für die repräsentative Demokratie? Ein Vergleich von Generationen-Schnittmodellen in Deutschland, Schweden, Kanada und den USA unter demokratietheoretischen Gesichtspunkte.

Teilhabe:

Elizabeth Benedict Christensen (Kopenhagen), A False Sense of Belonging: Inclusion and Exclusion of 1.5 Generation Undocumented Youth in the U.S.

Imogen Feld (Hamburg), Das Gefühl der Teilhabebefähigung vers. Handlungsohnmacht am Beispiel von jungen Frauen an Berliner Sekundarschulen.

Felix Maas (Berlin), Der Umgang von Berliner Flüchtlingsprojekten mit den gesellschaftlichen Erwar-tungen an das ‚good citizen-subject‘.

Abschlussdiskussion:

Harald Bauder (Toronto), Andreas Kewes (Siegen), Karin Schittenhelm (Siegen)

 
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