..
Suche
Hinweise zum Einsatz der Google Suche
Personensuchezur unisono Personensuche
Veranstaltungssuchezur unisono Veranstaltungssuche
Katalog plus

Das Mysterium der Masse


Die Suche nach dem Higgs-Teilchen

„Unerträglich“ empfand Milan Kundera die „Leichtigkeit des Seins“. „Unbegreiflich“ empfinden demgegenüber Physiker aus aller Welt die „Existenz der Schwere“. Nein, es geht hier nicht um die melancholischen Dispositionen eines arbeitsüberlasteten Forscherstandes. Angesprochen ist vielmehr eine fundamentale Frage, mit deren Beantwortung sich die physikalische Grundlagenforschung nun schon seit mehr als 40 Jahren herumschlägt.

Eine Frage, die so einfach klingt, dass selbst Sesamstraßen-sozialisierte „wieso, weshalb, warum“-Kinder wohl kaum auf die Idee kämen, sie überhaupt einmal ihren Eltern zu stellen. „Warum gibt es Masse?“ – ‚Gewicht’, würde der Laie sagen – rätselt nun schon in der dritten Forschergeneration die internationale Wissenschaftsgemeinschaft der Teilchenphysik. Zwar gibt es seit den 60er Jahren eine Hypothese, was das eigentlich ist: ‚Masse’. Und auch wie sie zustande kommt. Den Beweis bleibt die Physik allerdings bis heute schuldig. Das könnte sich in den kommenden Jahren nun ändern. Mit dem Aufspüren eines winzigen Materieteilchens von subatomarer Größe wollen die Teilchenphysiker ihre vier Jahrzehnte alte Theorie bestätigen. Tausende von Physikern aus aller Welt versammeln sich zu diesem Zweck am Europäischen Labor für Teilchenphysik CERN, ausgerüstet mit einer gigantischen Maschine: dem ‚Large Hadron Collider’, kurz ‚LHC’. Ab Ende 2007 steht der Teilchenbeschleuniger bereit für die Jagd auf das Phantom. Gesucht wird das sogenannte ‚Higgs-Teilchen’.
Mit dem Large Hadron Collider stößt die Naturwissenschaft zu Beginn des neuen Jahrtausends das Tor zu einer faszinierenden Welt der allerkleinsten Größenordnung und der höchsten Energieskalen auf. Tiefer als jemals zuvor dringen die Teilchenphysiker mit dem LHC in den Phänomenbereich des Mikrokosmos ein. Bis dato waren der Physik diese Areale lediglich in alternativen, zum Teil widersprüchlichen Theorien zugänglich. Der LHC soll nun auch experimentell den Zutritt verschaffen. Er wird zurzeit in Genf am CERN fertig gestellt – dem weltweit größten Labor für Teilchenphysik. Bei der Experimentiermaschine handelt es sich um einen Ringbeschleuniger, der auf Jahre hinaus der leistungsfähigste seiner Art sein wird. Mit dem LHC werden die CERN-Physiker voraussichtlich ab Jahreswechsel 2007/2008 Pakete von Protonen auf einer 27 km langen Kreisbahn auf annähernde Lichtgeschwindigkeit beschleunigen und bei einer Energie von zwei mal sieben Tera-Elektronenvolt zur Kollision bringen. Der neue Teilchenbeschleuniger lässt Alchemisten-Träume wahr werden – wenn auch nur im Allerkleinsten: im Zusammenprall wird die Energie der Protonenstrahlen in neue Materie verwandelt. Tausende von Teilchen entstehen, die von Detektoren – riesigen Messapparaturen – aufgefangen werden.
Um alle Kollisionspunkte herum, insgesamt vier an der Zahl, haben die Physiker am CERN Detektoren installiert, die als eine Art Fotoapparat die entstandenen Teilchen, je nach deren Eigenschaften und Durchdringungsvermögen, in unterschiedlichen Detektorschichten vermessen und absorbieren. Gleichzeitig liefern sie unzählige Messdaten, die den Forschern Antworten auf eine Vielzahl von Fragen über den Aufbau der Welt im subatomaren Bereich liefern. Die Detektoren sind experimentelle Messinstrumente von höchster Komplexität. Sie sind so etwas wie die Augen, mit denen die Physiker in die tiefsten Tiefen des Mikrokosmos blicken. Zwei der vier im Aufbau befindlichen Detektoren, ATLAS und CMS – Messapparaturen von der Größe eines fünfgeschossigen Wohnhauses, bestehend aus Milliarden von Schaltkreisen, Mikrochips und Supermagneten – widmen sich einem breiten Spektrum von grundsätzlichen physikalischen Fragestellungen. Im Zentrum der Forschungsarbeit steht, neben anderen, die Frage nach dem Ursprung der Masse der Elementarteilchen.

Das Massenproblem und der Higgs-Mechanismus

Das Standardmodell der Teilchenphysik, das Modell, in dem das gesammelte Wissen der teilchenphysikalischen Forschung der letzten Jahrzehnte zusammenfließt, wurde in den 60er Jahren entwickelt und seitdem einer Vielzahl von Präzisionstests unterzogen – mit großem Erfolg. So konnten die Forscher keine Abweichungen zwischen theoretischen Vorhersagen und experimentellen Befunden beobachten. Die Freude ist allerdings getrübt. Denn es gibt da ein nicht unbedeutendes Problem: das Modell in seiner ursprünglichen Form kann nur masselose Elementarteilchen beschreiben.
Man braucht nicht Physik studiert zu haben, um zu erkennen, dass sich die Wissenschaft an dieser Stelle in Erklärungsnot befindet. Wenn die Materie unseres Universums aus Elementarteilchen aufgebaut ist, wie kann es dann Elementarteilchen ohne Masse geben? Das klingt unplausibel: werden wir doch jeden Tag erneut mit unserem eigenen Körpergewicht und dem Gewicht der uns umgebenden Gegenstände – zuweilen auf unangenehme Weise – konfrontiert. So haben Experimente an älteren Teilchenbeschleunigern auch bestätigt, was die Alltagserfahrung ohnehin schon immer vermuten ließ: Für nahezu alle bekannten Teilchen lässt sich eine spezifische Masse ausmachen; die schwersten subatomaren Teilchen sind das Top-Quark und die Austauschteilchen der schwachen Kernkraft, die etwa der Masse bzw. der halben Masse eines Goldatoms entsprechen.

Der Schotte Peter Higgs und zeitgleich andere Kollegen entwickelten aufbauend auf Ideen von Philip Anderson in der Festkörperphysik einen ‚mathematischen Kniff’, der das Erklärungsproblem des Standardmodells, zunächst nur auf dem Papier, lösen kann: den nach seinem Erfinder benannten ‚Higgs-Mechanismus’. Dieser erlaubt es, den elementaren Bausteinen der Materie (Elektronen und Quarks) und den Kraftteilchen eine effektive Masse zu geben, und die Theorie dennoch selbstkonsistent zu bewahren. Nun mag der physikalisch Gebildete einwenden, dass die Masse unserer Umwelt hauptsächlich auf den Massen von Protonen und Neutronen in den Atomkernen beruht, die zum größten Teil von der Bewegungsenergie und anderen Effekten der starken Kernkraft herrührt. Ein Mechanismus, den das Standardmodell schon immer problemlos beschreiben konnte. Demnach beruht die Masse von Materie nur im kleineren Prozentbereich auf den Massen der Quarks und Elektronen – die Erklärungslücke, die mit dem Higgs-Mechanismus geschlossen werden soll, könnte aus dieser Perspektive als vernachlässigbar erscheinen. Allerdings bestimmt die winzige Elektronmasse, um die es dem Higgs-Mechanismus geht, die Längenskala unserer Welt. Ohne Elektronmasse keine Atombindung und daher auch keine komplexeren Strukturen wie Pflanzen, Tiere oder – Menschen. Die spezifische Masse der Atomkerntrabanten, der Elektronen, ist dabei außerdem keineswegs beliebig. Würde man die Elektronmasse um einen Faktor zehn vergrößern, wären wir Menschen – vorausgesetzt die Evolution wäre gelungen – plötzlich nur noch zwanzig Zentimeter groß und das Tageslicht läge im Röntgenbereich. Ähnliche Argumentationsketten, die die Bedeutung des Higgs-Mechanismus belegen, lassen sich für die Massen der Quarks aufstellen. Fazit: Elementarteilchen haben Masse und das ist nicht nur gut so, sondern für das Leben auf der Erde sogar existentiell notwendig!

Mit was für einem theoretischen Trick erklären aber nun Peter Higgs et al. die Masse von Elektronen und Quarks? Anschaulich lässt sich der Higgs-Mechanismus durch folgende Analogie beschreiben: betrachten wir die Bewegungen eines Menschen, der der Tristesse des deutschen Winters entfliehend, seine Runden durch eine Poollandschaft in Südspanien dreht – korrekter gehen wir davon aus, dass der Badegast nicht schwimmt sondern sich laufend über den Beckenboden bewegt. Sehen können wir, dass sich der Urlauber im Wasser vergleichsweise nur langsamer fortbewegen kann, als der Bademeister, der am Beckenrand entlang spaziert. Würde man diese triviale Beobachtung auf ihre Ursachen zurückführen wollen, so würden sich zwei Erklärungsmöglichkeiten anbieten.
Erstens: man vernachlässigt für die Erklärung die Existenz des Wassers. Warum bewegt sich der Winterflüchtling im Pool bei gleicher Muskelkraft dann auf einmal langsamer fort als der Aufseher am Beckenrand? Einzige Erklärung: sein Gewicht – der Physiker würde präziser sagen: seine Masse – muss plötzlich zugenommen haben, so dass die Muskelkraft den Körper nur schleppender nach vorne bringen kann.
Zweite Erklärungsmöglichkeit: man bezieht das Wasser in die Erklärung mit ein. Dann lässt sich plausibel behaupten, dass der Urlauber gegen den Widerstand des Wassers anlaufen muss; das Wasser ‚bremst’ den Urlauber aus, so dass er bei derselben Kraftanstrengung nur langsamer vorankommt. Was wir bei der ersten Begründung noch Masse genannt haben, würden wir jetzt ‚Reibungswiderstand’ nennen.
Bezogen auf die Massenerzeugung der Elementarteilchen ähnelt unsere kleine Episode aus den warmen Gefilden des sonnigen Südens dem Bild der Teilchenphysiker von der Natur. Der Higgs-Mechanismus behauptet die Existenz eines omnipräsenten Hintergrundfeldes. Wie das Wasser den Pool, füllt demnach das Higgs-Feld das Weltall homogen und isotrop aus.
Gäbe es kein Higgs-Hintergrundfeld (Äther) würden sich alle Teilchen mit Lichtgeschwindigkeit durchs Weltall bewegen – der Urlauber würde sich quasi in einem leeren Schwimmbecken befinden. Existiert nun der Higgs-Äther, so lässt sich die Trägheit der Elementarteilchen analog zur Spaniengeschichte auf zwei Arten erklären: Erstens: man ignoriert den Äther und behauptet alle Teilchen verfügen über Masse (wie es ja auch alltagssprachliche Praxis ist) oder zweitens, entsprechend dem Vorschlag von Peter Higgs: man berücksichtigt den Äther und beschreibt die Interaktion der Teilchen mit dem Hintergundfeld als Effekt von ‚Reibungskräften’. Die effektive Masse der Elementarteilchen hängt dann von zwei Faktoren ab. Zum einen von der ‚Zähflüssigkeit des Äthers’ oder in der Sprache der Elementarteilchenphysik dem ‚Vakuumerwartungswert’ des Higgs-Feldes; zum anderen von dem ‚Reibungskoeffizenten’ der spezifischen Teilchensorte oder in der Sprache der Physik den ‚Kopplungskonstanten’ der Wechselwirkung zwischen Higgs-Feld und Teilchen. Ein Teilchen ist deshalb massiver als das andere oder übersetzt: der eine Urlauber liegt ‚schwerer’ im Wasser als der andere.
Man fragt sich nun: Was hat man durch die Einführung des Higgs-Feldes gewonnen? Die Antwort: Die Erklärungslücke des Standardmodells schließt sich; das Gesamtmodell behält seine Gültigkeit und Aussagekraft auch für Elementarteilchen, die über Masse verfügen. Der Higgs-Mechanismus stärkt somit die Prognosefähigkeit des Standardmodells. So erlaubt er im Prinzip beliebig genaue Vorhersagen für den Ausgang von Experimenten bei beliebig hohen Kollisionsenergien.
Einen Preis muss man jedoch bezahlen: die Selbstkonsistenz der Theorie verlangt nach einem weiteren Teilchen – dem ‚Higgs-Teilchen’, auch ‚Higgs-Boson’ genannt. Dieses von der Theorie postulierte Elementarteilchen tritt als energetische Anregung des Higgs-Feldes auf; in unserem Vergleich mit dem Swimmingpool entspräche es einem Strudel im Wasser. Das Higgs-Teilchen ist zum einen der notwendige Begleiter des omnipräsenten Äthers. Zum anderen hilft es aber auch die Theorie experimentell überprüfbar zu machen und sie notfalls zu falsifizieren. Der allgegenwärtige, homogene Äther lässt sich nämlich nicht direkt nachweisen. Das Higgs-Teilchen bildet somit den letzten, noch fehlenden Baustein im strahlenden Theoriegebäude des Standardmodells der Teilchenphysik; was den Alchemisten des Mittelalters der ‚Stein der Weisen’ war, ist einigen Physikern der Gegenwart das Higgs-Teilchen. Einzelne, wie der Nobelpreisträger Leon Lederman, gehen sogar soweit, es als ‚Teilchen Gottes’ zu betiteln.
Der Nachweis und die Vermessung des Higgs-Teilchens wäre nicht nur das fehlende Puzzlestück zur Komplettierung des Standardmodells – es wäre auch die Krönung der physikalischen Forschungsbemühungen von Tausenden von Wissenschaftlern der letzten Jahrzehnte. Alle Versuche, das Higgs-Teilchen experimentell zu orten, sind bislang allerdings fehlgeschlagen. So konnte es weder mit dem ‚Large Electron-Positron Collider’, kurz ‚LEP’, dem Vorgängermodell des LHC am CERN (1989 bis 2000) noch mit dem TEVATRON-Beschleuniger (2000 bis heute) am Fermilab in den USA nachgewiesen werden. Der neue Teilchenbeschleuniger, der LHC, wird leistungsstärker sein als alle Vorgängermodelle. Mit ihm soll nun endlich die Ortung des Higgs-Partikels gelingen – und die Jagd nach 40 Jahren ein gutes Ende nehmen.

Die Suche nach dem Higgs-Boson mit ATLAS am LHC

Nach dem Higgs-Teilchen suchen: wer, wie, was? Zunächst das ‚was’: das Higgs-Teilchen ist als solches nicht direkt zu fassen. Im Moment seiner Entstehung zerfällt es auch schon wieder in so genannte ‚Sekundärteilchen’. Nur über diese Sekundärteilchen kann es dann schließlich identifiziert werden. Allerdings ist nur die Masse des Higgs-Teilchens unbekannt. Nimmt man einen Wert für diese an, so sind alle weiteren Eigenschaften im Standardmodell festgelegt und sein Steckbrief kann präzise berechnet werden. Je nach Massenbereich, in dem das Higgs-Teilchen auftritt, sind aber auch die Zerfallsprodukte jeweils andere. Entsprechend muss man verschiedene Nachweistechnologien im ATLAS-Experiment hintereinander schalten, um alle möglichen Arten von Zerfällen bestimmen und vermessen zu können.
Das führt uns zum ‚wie’ und ‚wer’. ATLAS steht für ‚A Toroidal LHC Apparatus’ und bezeichnet zum einen den riesigen Nachweisapparat, zum anderen aber auch die entsprechende, etwa 2000 Personen zählende Kollaboration aus 153 Universitäten und Forschungseinrichtungen aus 34 Ländern in aller Welt. Bereits seit Beginn der 90er Jahre studieren und entwickeln hunderte von Physikern das Design und die Technologien, die für das ATLAS-Experiment angestrebt werden. Zurzeit wird sowohl der Aufbau des Detektors in der Kaverne 100 Meter unter der Erdoberfläche am CERN, als auch die Entwicklung der Software zur Auslese und Rekonstruktion der Daten abgeschlossen.
Im 44 Meter langen ATLAS-Detektor bauen sich, ausgehend vom Kollisionspunkt, um die Strahlachse des LHC-Bescheunigers bis zu einem Durchmesser von 22 Metern die unterschiedlichsten Messschichten –Spurdetektoren, Kalorimeter, Myonspektrometer – auf. Jede hat als eigener Subdetektor seine spezifische Funktion. Nur wenn die Subdetektoren von ATLAS harmonisch wie in einem Symphonieorchester zusammenspielen, können die zahlreichen ATLAS-Physiker die in der Kollision entstehenden Teilchenarten bestimmen und analysieren und sich der Beobachtung des Higgs-Teilchens annähern.

Markus Schumacher ist Teil dieses Wissenschaftskrimis. Der Professor für experimentelle Teilchenhysik von der Universität Siegen geht selbst schon seit zwölf Jahren auf Higgs-Safari. Auch nach mehr als einer Dekade mühevoller Forschungsarbeit ist seine Leidenschaft den Winzling zu stellen noch immer ungebrochen. Ermöglicht wird die jahrelange kontinuierliche Forschungsarbeit durch die Förderung des BMBF und die ‚Deutsch-Israelische Projektkooperation’ (DIP).
Derzeitig koordiniert er die 200 Kopf starke, internationale Arbeitsgruppe bei ATLAS, die für die Suche nach dem Higgs-Teilchen verantwortlich zeichnet. Von Beginn des Jahres 2008 an wird Schumacher mit seinen Kollegen aus allen Teilen der Welt die immensen Datenberge durchforsten, die ATLAS ab dann für Jahrzehnte liefert – mit dem Hauptinteresse jenes geisterhafte Teilchen endlich zu finden, dessen Existenz Peter Higgs schon 1963 vorhergesagt hatte. Mit aufwendigen Simulationen trainiert die Gruppe schon seit Jahren den Ernstfall. „Mit ATLAS werden wir das Higgs-Phantom endlich finden“, gibt sich Schumacher zuversichtlich. Und fügt etwas leiser noch hinzu: „Wenn es denn tatsächlich existiert.“ Schumacher spricht aus, was Konsens in der internationalen Forscherszene ist. Weltweit stimmen die Teilchenphysiker überein, dass, falls es das Higgs-Teilchen tatsächlich in der Natur gibt, es mit dem fast fertig gestellten LHC-Beschleuniger und den angeschlossenen Detektoren ATLAS und CMS innerhalb der nächsten Dekade entdeckt werden wird.

„Entdecken“; der harmlos wirkende Begriff verstellt allerdings den Blick auf die komplexe Realität der Suche. Führt man sich die Details des Unternehmens ‚Higgs-Boson’ vor Augen, wird schnell deutlich, dass die Expedition in das Reich des Allerkleinsten den Vergleich mit keiner der größeren Entdeckungsfahrten der Menschheit zu fürchten braucht. Damit nicht genug. Zum Leidwesen der Argonauten des Mikrokosmos handelt es sich bei dem Higgs-Partikel um ein äußerst kamerascheues Wesen. Die Wahrscheinlichkeit, das Higgs-Teilchen in der Kollision von zwei Protonen am LHC zu erzeugen, ist sehr gering. Daher muss man versuchen, möglichst viele Proton-Proton-Zusammenstöße pro Zeiteinheit zu erreichen. In den großen Experimenten am LHC werden sich 40 Millionen mal pro Sekunde zwei Pakete aus jeweils 100 Milliarden Protonen durchkreuzen. Erfüllt der Beschleuniger diese Anforderungen, so wird etwa einmal pro Minute ein nachweisbares Higgs-Teilchen erzeugt. So weit, so gut! Allerdings finden unter diesen Bedingungen etwa eine Milliarde – zumindest für die Higgs-Sucher – uninteressante Kollisionen pro Sekunde statt. Nun beginnt die Arbeit des ATLAS-Detektors und seiner Experimentatoren: wie selektiert man das eine, so genannte Higgs-Ereignis, in den 100 Milliarden Kollisionen oder wie findet man die ‚Higgs’-Nadel im ‚Untergrund’-Heuhaufen? Wollte man im Takt von 25 Nanosekunden die Informationen der 140 Millionen Auslesezellen des ATLAS-Detektors auf Speichermedien schreiben, so wäre die anfallende Datenflut ungefähr eine Million Gigabyte pro Sekunde groß. Dies entspricht der Datenrate von 100 Milliarden Telefongesprächen. Eine solche Zahlenflut kann von keinem Computersystem der Welt gemeistert werden.
Ein dreistufiges intelligentes Filtersystem – der so genannte ‚Trigger’ des ATLAS-Experimentes – erkennt praktisch instantan, ob das Ereignis für die weitere Datenauswertung interessant ist. In weniger als zwei millionstel Sekunden trifft der Filter der ersten Stufe die Entscheidung und reduziert die Ereignisrate auf ein Niveau von 100 000 Ereignisse pro Sekunde, die durch die abschließenden beiden Filter bis auf eine speicherfähige Menge von 100 Ereignissen pro Sekunde verringert werden. Trotz dieses rigorosen Selektionsprozesses, in dem 99.9995 Prozent aller Ereignisse bereits verworfen werden, liefert der LHC alleine durch ATLAS jedes Jahr eine Million Gigabyte Daten oder anschaulich eine CD pro Sekunde. Soweit der erste technische Schritt des Abtragens des Heuhaufens. Die eigentliche Gärtnerarbeit der Higgs-Truppe nimmt hier allerdings erst ihren Anfang.

Markus Schumacher erläutert die Problematik: „Die Signal-Charakteristik des Higgs-Ereignisses unterscheidet sich von den anderen – auch einfach ‚Untergrund’ genannten – Ereignissen nur minimal. In den letzten Jahren hat sich unsere Gruppe hauptsächlich damit beschäftigt, optimale Methoden zu entwickeln, mit denen wir die ‚Spreu vom Weizen’ bzw. den Untergrund von den Higgs-Ereignissen trennen können.“ Ziel ist es an Hand von Auswahlkriterien das ungünstige Verhältnis von Signal-zu-Untergrund von eins zu einigen Millionen nach dem Trigger auf ein Verhältnis im Bereich von eins zu eins anzureichern. Da es noch keine Daten gibt, stellen die Physiker die erwartete Realität in aufwendigen und detailgetreuen Simulationen der erwarteten Physik und des Ansprechverhaltens des Detektors nach. Beliebte letzte Kenngröße für die Entscheidung, ob es sich um einen Kandidaten für ein Higgs-Ereignis handelt, ist die invariante Masse aller Zerfallsprodukte, die sich aus den gemessenen Richtungen und Energiedepositionen der Sekundärteilchen im ATLAS-Detektor berechnen lassen. Im erhofften Idealfall erhebt sich über einen flachen Untergrund ein Berg aus zusätzlichen Ereignissen, die dann dem Higgs-Teilchen zugeordnet werden. Von Entdeckung wird vereinbarungsgemäß gesprochen, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen Fehlalarm auf Grund von statistischen Fluktuationen handelt, nur 0,0000029 Prozent oder weniger beträgt.

Wie gut aber beschreiben die entwickelten Simulationsprogramme die Rate an Untergrundereignissen, ihre Charakteristik und das Ansprechverhalten des ATLAS-Detektors tatsächlich? Wie genau stimmen Vorstellung und Realität miteinander überein? Das Vertrauen der Physiker ist begrenzt, da sie mit dem LHC Neuland bei bisher nie erreichten Energien betreten. Deshalb werden schon jetzt detaillierte Strategien entwickelt, wie und mit welcher Genauigkeit man später, jenseits aller Simulationen, aus den Daten selbst den Untergrund extrahieren kann. Mit dieser Aufgabe beschäftigen sich die 200 Higgs-Jäger bei ATLAS zur Zeit. Bis zum Sommer 2007 sollen die Studien abgeschlossen sein und in einem neuen Report veröffentlich werden. Einmal im Monat trifft sich die Higgs-Arbeitsgruppe unter Leitung von Markus Schumacher und seines französischen Kollegen Louis Fayard für ein bis zwei Tage am CERN. Hier präsentieren die versprengt in aller Welt arbeitenden Teammitglieder ihre Arbeitsergebnisse. Hier wird festgelegt, welcher Kurs zukünftig eingeschlagen werden soll. Dabei geht es zuweilen munter her: ab und an weichen die Methoden und damit die Ergebnisse des einen Physikers zunächst von denen des anderen ab. Entsprechend gehen dann auch die Meinungen über das weitere Vorgehen und die richtigen Strategien auseinander. Als Koordinator ist es dann Aufgabe von Schumacher, die Wogen zu glätten und in Übereinstimmung mit allen Kollegen Leitlinien zu entwickeln, die das vielköpfige internationale Team zusammenhalten. „Es ist nicht immer einfach alle zufrieden zu stellen“, grübelt Schumacher mit ernster Mine. Im nächsten Moment heitert sich sein Gesicht wieder auf. Lächelnd betont Schumacher, dass er das Erlebnis keinesfalls missen wollte, sich mit so vielen unterschiedlichen Mentalitäten und Kulturen gemeinsam auf die Suche zu begeben. „Letztendlich sind alle Kollegen hoch motiviert. Das gemeinsame Ziel, die Entdeckung des Higgs-Teilchens, schweißt zusammen und hilft Differenzen meist sehr schnell aus dem Weg zu räumen“, beschreibt Schumacher seine bisherigen Erfahrungen.

200 Gefährten haben sich aufgemacht, den Heuhaufen von ATLAS-Daten nach dem Higgs-Teilchen zu durchforsten. Viele und unerwartete Herausforderungen werden sie auf ihrer einzigartigen Entdeckungsreise noch zu meistern haben. Zehnmal mehr Köpfe sind aber letztendlich notwendig, um das Unternehmen ‚Higgs-Boson’ zum Erfolg zu führen. 2000 Wissenschaftler aus aller Herren Länder arbeiten seit vielen Jahren daran, das Schiff zu bauen, mit dem die Abenteuerreise unternommen werden soll. Schumacher wird nicht müde zu betonen, dass die Arbeit derjenigen, die den ATLAS-Detektor konstruiert und installiert haben, derjenigen, die den Detektor warten und kalibrieren und derjenigen, welche die benötigte Software schreiben, mindestens ebenso wichtig ist, wie die Arbeit des Higgs-Teams. Deshalb werden im Falle einer Entdeckung auch alle 2000 Mitarbeiter in alphabetischer Reihenfolge die Publikation unterzeichnen, die den lang erarbeiteten Erfolg verkündet. Mit dem Nobelpreis wird es dann schwer: dieser kann bisher nur maximal an drei Personen vergeben werden.

Dem Beginn der Datennahme fiebern die Higgs-Jäger mit gespannter Erwartung entgegen. „Allerdings wird es einige Zeit brauchen, bis die Qualität der Daten verstanden ist und erste Anzeichen eines Higgs-Teilchens sich zeigen könnten“, dämpft Schumacher Hoffnungen auf einen schnellen Durchbruch. Nach drei Jahren erfolgreicher und bewährter Datennahme sollte es dann soweit sein: „Dann wissen wir, ob es das Higgs-Teilchen des Standardmodells in der Natur tatsächlich gibt oder nicht. Die Entdeckung wäre wunderbar aber auch nur der erste Schritt“, so Schumacher. „Danach fängt der Spaß erst richtig an. Es gilt das neu entdeckte Teilchen und seine Eigenschaften zu vermessen, um wirklich abschließend klären zu können, ob es sich um das von uns erwartete Higgs-Teilchen handelt.“

Alle Fragen beantwortet oder doch offen !?

Ende des 19. Jahrhunderts. Ein junger Abiturient sucht die physikalische Fakultät der Universität München auf, um den Physikprofessor Phillipp von Jolly um Rat zu fragen. Der Schulabgänger trägt sich mit dem Gedanken ein Physikstudium zu beginnen. Ob das sinnvoll sei, fragt er Jolly. Dieser rät dem Abiturienten ab. Jolly vertrat die Ansicht, dass in dieser Wissenschaft schon fast alles erforscht sei und dass es nur noch einige unbedeutende Lücken zu schließen gelte – viele Zeitgenossen teilten damals Jollys Überzeugung. Der Name des jungen Abiturienten: Max Planck. Der spätere Nobelpreisträger studierte wider alle damalige Vernunft doch Physik und begründete mit Albert Einstein ein Jahrhundert der Physik. Wie sieht die physikalische Welt nun im 21. Jahrhundert aus. Riskieren wir einen Blick in die Zukunft; das Higgs-Boson ist entdeckt und der Higgs-Mechanismus hat inzwischen seinen festen Platz im Standardmodell eingenommen. Wird man Abiturienten nun wieder, wie schon 130 Jahre zuvor, von einem Studium der Physik abraten, da möglicherweise schon „alles erforscht“ ist?

Die Antwort ist ein klares „Nein“. Viele Fragen bleiben auch nach Erforschung des Higgs-Partikels in Teilchenphysik und Kosmologie noch offen (natürlich auch in anderen Teilgebieten der Physik). Ein kurzer Ausblick: Selbst wenn die Physik das Geheimnis der Masse mittels des Higgs-Mechanismus gelöst hätte, so wäre damit noch längst nicht das Universum als Ganzes verstanden. Insbesondere der ‚Energiehaushalt’ des Universums gibt weiterhin viele Rätsel auf. Denn das Universum besteht insgesamt nur zu fünf Prozent aus sichtbarer Materie, jenem Stoff also aus dem alle Sterne, Planeten und auch wir Menschen aufgebaut sind und zu dessen Verständnis der Higgs-Mechanismus seinen Beitrag liefert. 95 Prozent des Universums bleiben damit im Dunkeln – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn das Universum besteht nach aktuellen Forschungserkenntnissen zu 25 Prozent aus so genannter ‚Dunkler Materie’ und zu 70 Prozent aus ‚Dunkler Energie’. Zwei mysteriöse Substanzen, die ihrem Namen entsprechend vollkommen unsichtbar sind. Ausschließlich durch ihr Wirken können Forscher auf die Existenz dieser Substanzen schließen: ‚Dunkle Materie’ macht sich über ihre Schwerkraftwirkung bemerkbar, ‚Dunkle Energie’ bewirkt, dass unser Universum heute beschleunigt expandiert. Für die ‚Dunkle Materie’ gibt es viele Kandidaten – z.B. das leichteste Objekt aus der Riege der supersymmetrischen Partnerteilchen. Die Theorie der Supersymmetrie postuliert für alle Bosonen und Fermionen die Existenz von Partnerteilchen, die sich lediglich im Wert des Eigendrehimpulses und der Masse von ihren ansonsten eineiigen Zwillingen unterscheiden. Falls es supersymmetrische Teilchen gibt, stehen die Chancen gut, dass sie mit dem neuen LHC entdeckt werden können. Woraus die ‚Dunkle Energie’ besteht ist hingegen völlig unklar. Einen Beitrag zur Erklärung des Wirkens der ‚Dunklen Energie’ können partiell auch das ‚naive’ Modell des Higgs-Äthers und der Wert seiner ‚Zähflüssigkeit’ leisten. Der Beitrag wartet aber leider mit einem falschen Vorzeichen auf; außerdem ist er um einen Faktor 1050 zu groß. Dieser Erklärung nach hätte das Universum lediglich die Größe eines Fußballs erreicht und wäre dann wieder kollabiert. Auf dem Weg zu einer umfassenden physikalischen Erklärung des Universums als Ganzem wird das Standardmodell wohl auch nach Entdeckung des Higgs-Bosons nur eine Etappe bleiben. Theorien der ‚Supersymmetrie’ und von so genannten ‚Extra Dimensionen’ stehen jenseits des Standardmodells bereit, um Erklärungslücken bei fundamentalen Fragen zu schließen. Gibt es eine Urkraft im frühen Universum und sind unsere heutigen vier Kräfte nur verschiedene Erscheinungsformen dieser einen Urkraft bei niedrigen Energien? Was ist die Struktur der Raumzeit; leben wir eigentlich in mehr als drei Raumdimensionen, die nur zu klein sind, als dass wir sie erleben können? Selbst nach der Entdeckung des Higgs-Teilchens am LHC gibt es weitere große Herausforderungen für die Teilchenphysik im 21. Jahrhundert zu deren Bewältigung der LHC hoffentlich erste Hilfestellungen leistet.


Das Standardmodell in der ‚Nussschale’

Die uns umgebende Materie besteht aus Atomen, die­se wiederum aus den fundamentalen Elektronen und den zusammengesetzten Kernen, die aus den Nukleonen ‚Proton’ und ‚Neutron’ aufgebaut sind. Jedes Nukleon ist wiederum ein Bindungszustand aus drei Quarks. Das Proton besteht aus zwei up-Quarks und einem down-Quark, das Neutron aus einem up-Quark und zwei down-Quarks. In Beschleunigerexperimenten und in der kosmischen Strahlung wurden jeweils noch zwei schwerere Partner für up-Quark, down-Quark und Elektron entdeckt. Zusätzlich gibt es für jedes der drei Leptonen, das Elektron und seine beiden Verwandten, noch jeweils ein Neutrino.
Alle diese zwölf fundamentalen Teilchen haben einen halbzahligen Eigendrehimpuls und gehören damit zur Gruppe der Fermionen. Ihre Anzahl ist für die Entwicklung des frühen Universums bedeutsam. Die Fermionen lassen sich in drei Familien gemäss aufsteigender Masse, bestehend aus jeweils zwei Quarks und zwei Leptonen einteilen.
Insgesamt stehen sechs Quarks up (u), down (d); charm (c), strange (s); top (t), bottom (b) sechs fundamentalen Leptonen (Elektronen (ε), Myonen (μ) und Tauonen (τ) mit ihren jeweiligen Neutrinos (νε, νμ, ντ )) gegenüber.
Kräfte - der Physiker spricht hier von Wechselwirkung - zwischen den elementaren Fermionen werden durch den Austausch von Vektorbosonen beschrieben. Diese tragen Eigendrehimpuls eins. Die elektromagnetische Wechselwirkung wird durch das Photon (γ), die starke ‚Farb’-Wechselwirkung durch Gluonen (g) und die schwache Wechselwirkung durch Weakonen (W+ und W-) und durch das neutrale Vektorboson Z vermittelt. An einer bestimmten Wechselwirkung nehmen nur die Fermionen teil, die die entsprechende Ladung aufweisen. Quarks besitzen Farb-, elekromagnetische und schwache Ladung, geladene Leptonen (ε, μ, τ) elekromagnetische und schwache Ladung und die Neutrinos nur schwache Ladung.
Die Masse der fundamentalen Materieteilchen als auch einiger Austauschteilchen (W+, W-, Z) wird durch die Wechselwirkung mit dem Higgs-Feld verliehen. Der notwenige Begleiter dieses Higgs-Mechanismus ist das Higgs-Boson, welches als einziges elementares Teilchen Eigendrehimpuls null besitzt.


Ansprechpartner
Prof. Dr. Markus Schumacher
Experimentelle Teilchenphysik
Telefon: +49 271 740 3789
Telefax: +49 271 740 3886
markus.schumacher@hep.physik.uni-siegen.de
www.hep.physik.uni-siegen.de/~schumach/

www.teilchenphysik.org

ATLAS - Kollaboration