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Form und Präsenz


Immer wieder Neue (Groß-)Medien: um 1900 die Massenpresse, 1950 das Fernsehen und um 2000 das Universalmedium Computer. Immer wieder Leitmediendebatten: Das Siegener Forschungsprojekt ‚Mediendynamik‘ bietet hinsichtlich dieser Frage den Begriff ‚Präsenz‘ an, um Struktur an die Konkurrenz der Medien anzulegen. Im Folgenden geht es darum, Wechselwirkungen zwischen ‚Präsenz‘ und medialer ‚Form‘ – einem weiteren zentralen Begriff innerhalb des Siegener Forschungsvorhabens – zu kontextualisieren. Mit neueren Formen, wie das zu beobachtende Info- und Edutainment, reagiert die Presse – das Leitmedium der Moderne – auf zunehmende, prekäre Präsenzverluste.

Die Frage nach dem Leitmedium scheint stets dann aufzukommen, wenn ein Neues Medium sich in der ‚Konkurrenz‘ der Alten in den Vordergrund drängt. Nun war mit Sicherheit auch das zweitälteste Medium einmal ein Neues. Für den Zeitraum um 1900 reklamiert die (Massen-)Presse dieses Attribut, die seit den 1850er Jahren, technisch flankiert von Rotationspresse und Zeilensatzmaschine, über gut 100 Jahre das präsenzstärkste Medium der Konkurrenz war. Um 1950 gilt dies für das Fernsehen und um 2000 für das ‚Universalmedium‘ Computer. Jedes dieser drei war einmal ein ‚Neues Medium‘; jedes dieser medialen Artefakte setzt ursprünglich auf einem spezifischen technischen Paradigma auf (Mechanik, Elektronik, Digitalität); jedes sorgte für Verschiebungen in der ‚Medienkonkurrenz‘; jedes fachte die Leitmediendebatte an.
Die vorerst letzte Wortmeldung dazu erscheint – gleichermaßen programmatisch wie pathetisch – in der Presse1. Darin wird der Formbestand des politisch-räsonierenden Diskurses der Presse an den Fortbestand ihrer ‚patriarchalen Verlagsstrukturen‘ geknüpft. So polarisiert zumindest die Süddeutsche Zeitung in der
Einleitung zu einem Essay von Jürgen Habermas zwischen traditionellen Familienstrukturen und der börsennotierten Wahlverwandtschaft, zwischen national und möglicherweise bald international strukturierten, notorisch kapitalfixierten Herausgeberattitüden. 

Kompensation von Präsenzverlust durch Formadaption

Eine Theorie der Mediendynamik – wie sie im Projekt A4 des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs ‚Medienumbrüche‘ formuliert wird – nimmt den von Habermas beklagten Formenmix ernst, versteht dies als Genredynamik und integriert diese wiederum in eine generelle Mediendynamik, die schließlich die Frage nach dem Leitmedium mit dem Begriff der ‚Präsenz‘ zu beantworten versucht. Insofern wird im Siegener A4 Projekt ‚Mediendynamik‘ ‚Präsenz‘ als „Konstrukt aus Reichweite, Medienwissen, öffentlicher und subjektiver Aufmerksamkeit“2 beschrieben. Im Anschluss an die Habermas’sche Symptomatik wollen wir die These plausibilisieren, der gemäß Präsenzverluste durch Formadaption kompensierbar sind. Dazu bedient sich die Presse aktuell offenbar beim Fernsehen. Die Genre- bzw. Formenbestände der Medien begreifen wir daher als bloß temporär konventionalisierte, mehr oder weniger metastabile Inventare, die nicht strikt voneinander separierbar, geradezu als hybrid und fluide anzusehen sind. Wenn nun die Presse vermehrt in den Unterhaltungsbeständen des Fernsehens wildert, so zeigt uns dies die forcierte Kombinatorik von Inventaren ‚genereller Formen‘ bzw. Metagenres. Im Kontext einer Mediendynamik unterscheiden wir diese als Information, Bildung und Unterhaltung.  

Habermas: ‚Verunreinigung‘ von Form und Norm

Die gescholtene Mixtur des ‚Infotainments‘ zeitgenössischer Presse wollen wir jedoch nicht wie Habermas als ‚Verunreinigung‘ von Norm und Form begreifen. Vielmehr wollen wir die Wechselseitigkeit der Prozesse von formadaptiver Dynamik als Normalfall stark machen und darin den Austausch medialer Forminventare als Balancierung von Fusion und Differenzierung verstehen. Nicht nur sind es aktuell Formelemente des Unterhaltungsfernsehens, die der Presse als importfähig erscheinen; in den 1920er Jahren beispielsweise wurden Formelemente aus der Literatur von der Presse adaptiert.
Werfen wir daher einen Blick auf die Frankfurter Zeitung, so lässt sich beobachten, dass der Journalismus eines Kracauers, Benjamins oder Tucholskys sich gleichsam programmatisch aus den Formbeständen der Literatur bedient. Das Großstadt-Feuilleton vor allem Berliner oder Wiener Provenienz ist ohne die Adaption eben des literarischen Maschinen-Motivs (i.e. die Form) kaum denkbar. Emporschnellende Bevölkerungszahlen, sich beschleunigender Verkehr oder die wachsende Kinodichte – eindrucksvolle Phänomene und ausdrucksstarke Themen des zeitgenössischen Feuilletons – lassen sich besonders sinnfällig in Begriffen des Maschinen-Motivs verstehen. Sicherlich träfe es die Sache nicht adäquat, wenn wir gerade das Feuilleton der informativen Funktion der Presse subsumierten. Vielmehr galt es immer schon als das unterhaltend-informative Produkt einer Zeitung, das eben – auf der Ebene von Metagenres bzw. ‚generellen Formen‘ – nicht ohne die Adaption von literarischen Formelementen funktional wird. Die informative Funktion der Presse allein, aus der das diskursive Ideal Habermas’ abgeleitet wird, scheint schon seit geraumer Zeit keine leitmediale Qualität mehr aufweisen zu können; sei es nun in Hinsicht auf Wechselwirkungen mit den unterhaltenden Audiovisionen oder mit der ‚gebildeten‘ Literatur.
Die nach der Zeitungskrise der späten 1990er Jahre, so legt nun wiederum Habermas nahe, wiedererlangte ökonomische Prosperität der ‚Verlagsobjekte‘ – eine überdehnte Momentaufnahme von Volatilität – suggeriert also den Verlegerfamilien die Gelegenheit zum Verkauf von Firmenanteilen. Nicht näher bestimmte, jedoch glaubhaft journalistische Mittelmäßigkeit versprechende ‚weltweite Finanzinvestoren‘ kaufen diese und dringen damit durch die ‚Poren‘ des Pressesystems, wie Habermas sich ausdrückt, in dessen diskursive Hoheitsgebiete ein. 

Kampf um die Vorherrschaft im öffentlichen Diskurs

Dem Pressesystem droht nicht nur die Aufweichung seiner Formbestände, sondern auch der ‚Präsenzverlust‘ in den Vorherrschaftsfragen der Leitmedien, so Habermas. Seine Medienkritik klagt, so wäre genauer zu zeigen, über den Zusammenhang von Formverlust und Präsenzverlust. Eine Theorie der Mediendynamik hingegen beabsichtigt, Formadaption als Kompensation von Präsenzgewinnen oder -verlusten zu begreifen.
Die institutionalisierten Produktionszusammenhänge einer – die handelbaren ‚Verlagsobjekte‘ historisch erst hervorbringenden – ‚räsonierenden Publizistik‘, deren nobelste Ausdrucksweise die Mittel ‚Recherche‘, ‚Argument‘ und ‚Expertise‘ ausmachten, werden gegenwärtig offenbar neu instrumentiert. Habermas versteht das Amalgamieren des Metagenres Unterhaltung mit den Metagenres Information und Bildung als symptomatisch für die verlorene ‚porentiefe Reinheit‘ journalistischer Produktionszusammenhänge – um im Habermas’schen Motiv zu bleiben. Nun also bestücken neueste, sogar bindestrichartig organisierte Formbestände des Info- und Edutainments den Journalismus.  

Verfall von Diskursidealen?

Dies scheint aus einem gewissen Missverhältnis zwischen den evolvierten ‚Metapräferenzen‘ der ‚politischen Öffentlichkeit‘ – zumindest also dem lesenden Bürgertum – und dem Verfall des entsprechenden Diskursideals zu resultieren.
Die Abbildung von ‚freiheitlich demokratischer Grundordnung’ als politikwissenschaftlicher Grundnorm auf den ‚herrschaftsfreien Diskurs‘ als kommunikations- bzw. medienwissenschaftlicher Grundnorm soll vielmehr entsprechende Qualitätsstandards im Journalismus sichern, demokratische Kontrollfunktionen wahrnehmen, rezeptionsseitige Metapräferenzen stabil halten und darüber hinaus auch kalkulierbar sein. Ein universalistisches Modell der Presse also, das spätestens seit dem Ende des zweiten Weltkriegs per alliiertem Befehl in den zahllosen Presseverordnungen und -vorschriften formuliert und installiert ist. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Habermas’sche Rede von ‚porentiefer Verschmutzung‘ für dessen normativen Diskursbegriff optieren soll, oder aber ob neben der Wirtschaft noch ganz andere Poren – Luhmann würde freilich von Kopplungen reden – denkbar sind und so auch die Dynamik der Metagenres, mitunter also der generellen Formbestände, Effekte von Präsenzverlusten und Präsenzgewinnen sind.
Dazu wären allerdings Metagenres in ihren mediensystemischen Zusammenhang einzubetten und ihre Abhängigkeit vom Faktor Wirtschaft neben der von den Faktoren Technik, Gesellschaft und Kognition darzustellen. Vor allem letzterer scheint uns zunächst notwendig, um Reflexion und Nutzung von Medien, die sich in Medienwissen und Medienhandeln kristallisieren, als dem Mediensystem immanenter Treiber der Dynamik von Metagenres zu identifizieren. Erst wenn wir jedoch ebenso die genannten zusätzlichen Faktoren der Mediendynamik samt ihrer prozessualen Verflechtungen auszubuchstabieren in der Lage sind, lassen sich Präsenzgewinne und -verluste für die Frage nach den Leitmedien fruchtbar machen. Jedem Medium kann dann in seiner synchronischen Konstellation mit seinen ‚Konkurrenten‘ ein gewisses Maß an Präsenz zugeschrieben werden.  

Normallfall: mediale Präsenzgewinne und -verluste

Mit jedem Medium können dann ebenso in der diachronischen Variabilität solcher Konstellationen entsprechende Präsenzgewinne und -verluste bilanziert werden.
Die Wegmarken 1900/2000, die im Forschungskolleg 615 den Medienumbruch rahmen, markieren insofern ein Stück der Geschichte dieser Konstellationen. Das moderne, industriell und arbeitsteilig organisierte Pressesystem, und mit ihm die im Großen und Ganzen metastabilen Forminventare des Journalismus, sind um 1900 schon gut 50 Jahre etabliert. Film, Radio und nach dem zweiten Weltkrieg das Fernsehen treten hinzu. Zusammen mit dem ‚Universalmedium‘ Computer bilden diese Medien zueinander Konstellationen, Konkurrenzen und Interaktionen, die in den genannten Präsenzeffekten resultieren.
Derlei scheint auch Habermas – zumindest implizit – mitzudenken. Aus der Sicht der Presse, die er als Leitmedium setzt, hängen die konkurrierenden elektronischen Medien ‚Funk‘ und ‚Fernsehen‘ und neuerdings auch die ‚digitale Konkurrenz‘ ab von den thematisierenden und sinnstiftenden Funktionen des so genannten Qualitätsjournalismus – wenigstens was den politisch-kulturellen Diskurs betrifft. Wenn nun der Journalismus unterhaltende Elemente importiert, die offenbar den ‚Programmbouquets‘ des Fernsehens genügen, so scheint man dort zu beabsichtigen, unter Umständen flankiert durch ökonomischen Druck, erfolgreiche Forminventare zu adaptieren. Dass diese nun gerade aus dem Fernsehen stammen, und damit bloß zahlenmäßig Erfolgreiches zum Entscheidungskriterium stilisiert wird, spricht weder für das Fernsehen noch für die Presse.

Verfasser: Henning Groscurth

Texte und Bilder sind frei zum Wiederabdruck

Ansprechpartner

Henning Groscurth
Universität Siegen
Forschungskolleg SFB/FK 615 'Medienumbrüche‘
Teilprojekt A4: Mediendynamik. Prinzipien und Strategien
der Fusion und Differenzierung von Medien
Am Eichenhang 50
57076 Siegen
Telefon: +49 271 740 4933
Telefax: +49 271 740 4924
henning.groscurth@gmx.de

Forschungskolleg 'Medienumbrüche‘
www.fk615.uni-siegen.de