..
Suche
Hinweise zum Einsatz der Google Suche
Personensuchezur unisono Personensuche
Veranstaltungssuchezur unisono Veranstaltungssuche
Katalog plus

Langzeitstudie Teil 2: Wenige Masken für viele Gesichter. Oder: Was sagt ein Test?


PISA zielt auf Aussagen über ‚die Fünfzehnjährigen‘. Die Lernstandserhebungen im Gefolge der internationalen Systemvergleiche wollen die Fertigkeiten einzelner Schüler messen. Aber kann ein einstündiger Test wirklich erfassen, was die ‚Kompetenz‘ einer Person ausmacht?

Selbst innerhalb eines Faches streuen die Leistungen breit. Große Unterschiede im Wissen und Können sind schon vor der Schule augenfällig und bleiben über die Schulzeit bestehen. Manche Kinder können bereits rechnen und lesen, andere wissen kaum etwas über Zahlen und Schrift. Dies hängt mit Erfahrungen in der Familie und im übrigen Umfeld zusammen. Aber es gibt auch Kinder, die sich sozusagen ‚gegen‘ ihre Umwelt Kenntnisse angeeignet haben. Manche erwerben wichtige Voraussetzungen ohne äußere Hilfe. Andere wiederum nutzen nicht, was ihre Umwelt ihnen bietet. Insofern sind Kinder nicht einfach ‚Opfer‘ oder ‚Produkt‘ ihrer Umwelt. Schon fünfjährige Kinder haben persönliche Interessen. Besondere Begabungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Das wird deutlich bei Kindern, die in dem einen Bereich (Schrift ODER Zahlen) viel wissen und können, im anderen dagegen nicht.


In der Schule ganz anders

Auffällig ist, dass sich die Einschätzungen von Frau Koch und der Lehrerin, was Annas Persönlichkeit betrifft, stark unterscheiden. Übereinstimmungen gibt es nicht. Etwa die Hälfte der Angaben ist sogar gegensätzlich. Abgesehen von der natürlichen unterschiedlichen Wahrnehmung der einzelnen Personen, liegt also die Vermutung nahe, dass sich Anna in der Schule anders verhält, als zu Hause. Und in der Tat ließ sich im Rahmen der Erhebungen beobachten, dass Anna in der Schule ein völlig anderes Mädchen als zu Hause darstellt. In der Schule wirkt sie ‚unglücklich‘, unsicher und zurückgezogen, zu Hause lebhaft, selbstbewusst und fröhlich. Demnach verwundern die stark abweichenden Einschätzungen zwischen Mutter und Lehrerin nicht.


Dass Kompetenzen der Kinder oft bereichsspezifisch begrenzt sind hängt aber auch mit ihren konkreten Erfahrungen im Alltag zusammen: So kann es sein, dass ein Kind im Bereich des Geldes mathematische Operationen beherrscht, die ihm in der Zeitwelt ‚Uhr‘ nicht gelingen. Es fällt oft auf, wie unterschiedlich die Leistungen desselben Kindes von verschiedenen Beteiligten beurteilt werden. Viele Kinder sehen sich selbst anders, als ihre Umwelt sie wahrnimmt. Das kann manchmal damit zusammenhängen, dass Kinder andere Ansprüche und Maßstäbe haben als Erwachsene. Die Gründe liegen aber zum Teil tiefer. Denn es gibt auch Abweichungen in der Sicht von Vater und Mutter, von Eltern und Schule, von LehrerInnen und Tests.

Auch dazu einige Blitzlichter: Für Eltern ist oft die Fehlerlosigkeit von Arbeiten der entscheidende Maßstab. Sie sehen die Leistung des Kindes unbewusst im Vergleich mit ihrem eigenen Können. LehrerInnen dagegen nehmen einzelne Kinder stärker im Vergleich mit der Altersgruppe wahr. Wir ForscherInnen wiederum sehen die momentane Leistung als Zwischenstufe im Entwicklungsprozess: Die Zahl der Fehler ist dann nicht so bedeutsam wie ihre Qualität. Geeignete Aufgaben können sichtbar machen, wie Kinder denken – auch in den Fehlern, die sie machen, wie z. B. beim Sprechenlernen: „Die Önkel bringten viele Eimers“.

Persönliche Einschätzungen sind immer subjektiv1. Große Hoffnungen werden von vielen deshalb auf standardisierte Tests gesetzt. In den letzten Jahren haben sie in den Schulen an Bedeutung gewonnen. Zuerst kamen die internationalen Vergleichsstudien PISA (in der Sekundarstufe) und IGLU (in der Grundschule). Inzwischen gibt es regelmäßige Lernstandserhebungen in Sprache und Mathematik wie VERA am Ende der Grundschulzeit. Wir haben bewusst auch solche Tests in unseren Untersuchungen eingesetzt. Auf diese Weise können wir die einzelnen Fallstudien in großen Stichproben verorten. Auch können wir überprüfen, in welchen Punkten unsere eigene Stichprobe repräsentativ ist und in welchen nicht.

Wir sind aber auch der Frage nachgegangen, wie aussagekräftig die Ergebnisse von Tests für das einzelne Kind sind. In dieser Hinsicht haben uns mehrere Beobachtungen nachdenklich gestimmt. Es gab häufig Differenzen zwischen dem Ergebnis im Test und der Note in der Schule. Wir sehen zwei Gründe: Ein Test erfasst eine punktuelle Leistung. Eine Lehrerin dagegen lernt ein Kind über längere Zeit kennen. Vorteil der Lehrerin: Sie kann eine größere Zahl von Leistungsproben in ihr Urteil einbeziehen. Andererseits hat die Lehrerin nur die Klasse bzw. früher unterrichtete Jahrgänge als Maßstab. In dieser Hinsicht sind Tests aussagekräftiger: Ihre Vergleichswerte sind in großen Stichproben gewonnen worden. Beide Zugänge haben ihre Stärken und ihre Schwächen. Sowohl Noten als auch Punktwerte in Tests sollten Eltern deshalb mit Vorsicht interpretieren. Einzeldaten sind zu fehleranfällig, als dass man sich auf sie verlassen könnte.

Unterschiede ergaben sich erstaunlich oft zwischen den Ergebnissen eines Kindes in verschiedenen Tests2. Dieser Befund macht darauf aufmerksam, dass verschiedene Tests ‚Können‘ auf unterschiedliche Weise abprüfen. Zum Beispiel werden in Mathematik einzelne Inhalte in den verschiedenen Tests unterschiedlich gewichtet. Auch die Aufgabenformen können variieren. Im Lesen kann man das Erkennen von Wörtern, das Erlesen von Sätzen oder das Verstehen von Texten überprüfen. Im Rechtschreibtest müssen die Kinder einen freien Text korrekt verfassen, sie müssen diktierte Wörter richtig aufschreiben oder sie müssen Fehler in einem vorgegebenen Text entdecken. Diese Anforderungen haben miteinander zu tun. Aber sie betonen jeweils andere Teilleistungen. In einigen Fällen kann dies auch Unterschiede zwischen Testergebnissen und der Benotung durch die Fachlehrerin erklären.


Was sagt ein Test?

Während Lukas beim ELFE-Lesetest in allen drei Untertests durchschnittliche bis überdurchschnittliche Leistungen zeigt, was für ein völlig normal bis überdurchschnittlich gut ausgeprägtes Leseverständnis spricht, erreicht er hingegen bei dem von Frau Sang in der Schule durchgeführten Leseverständnistest eher schlechte Ergebnisse. Von 48 möglichen Punkten erlangt Lukas 20, was die Lehrerin mit ausreichend benotet. Lukas liegt damit im unteren Leistungsdrittel seiner Klasse, nur vier weitere Schüler zeigten noch schlechtere Leistungen. Zur weiteren Einschätzung der Lesekompetenz der Kinder setzte Frau Sang zudem den Stolperwörter Lesetest ein, den Lukas auch für uns ganz zu Beginn der Erhebungszeit bearbeitete. Im Vergleich zur ersten Durchführung zu Hause erlangt der Junge beim Lesetest in der Schule wesentlich bessere Ergebnisse. Innerhalb der sechs Minuten bearbeitet er fast doppelt so viele Aufgaben und nur bei einer markiert er ein falsches Wort.



Schließlich haben wir auch Abweichungen innerhalb desselben Tests beobachtet. Mit einigen Kindern wurden einzelne Tests zweimal innerhalb weniger Wochen durchgeführt. Auf den ersten Blick überraschen solche Diskrepanzen. Wir erwarten doch, dass sie weniger anfällig für Verzerrungen sind als das Urteil von Mitmenschen. Hier helfen unsere Beobachtungen weiter. Die StudentInnen haben nicht nur die Ergebnisse des Tests ausgewertet. Sie konnten auch beobachten, wie die Kinder an die Aufgaben herangegangen sind. Dabei haben sich große Unterschiede zwischen den Kindern gezeigt – und bei ein und demselben Kind an verschiedenen Tagen. Das eine Kind ging zuversichtlich an die Aufgaben heran, das andere zeigte deutliche Angst zu versagen. An dem einen Tag war ein Kind besonders motiviert, an dem anderen nicht. Das eine arbeitete sorgfältig, aber sehr langsam, das andere schaffte viele Aufgaben, übersah aber auch Flüchtigkeitsfehler. In Tests, die unter Zeitdruck stattfinden, zeigen vor allem Mädchen oft nicht, was sie wirklich können.

Unsere Warnung: Auch Tests sind fehleranfällig. Dies schlägt im Einzelfall wesentlich stärker zu Buche als in Untersuchungen großer Stichproben. Dieselben Punktwerte in einem Test können zudem sehr Unterschiedliches bedeuten. Solche Schlaglichter können zwar den Blick schärfen und Anlass sein, das eigene Urteil zu überprüfen. Als Warnlampe sind sie deshalb wichtig. Aber man darf ein Kind nicht ‚festnageln‘ auf eine Zahl – sei es ein IQ, sei es eine Fehlerquote im Diktat.

Überhaupt sollte man vorsichtig sein mit Festlegungen. Das zeigen unsere Wiederholungsstudien, die teilweise überraschende Ergebnisse liefern. Im Regelfall entsprach die Leistungsentwicklung von der ersten zur zweiten Erhebung einigermaßen den Erwartungen. Aber immer wieder gab es Kinder, deren Leistungstand sich unerwartet veränderte: beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe, durch einen Lehrerwechsel oder auch ohne erkennbaren äußeren Grund. Beobachten konnten wir dabei auch Veränderungen ‚wider Erwarten‘: zum Beispiel eine Verbesserung des Leistungsstands beim Wechsel von der Realschule auf das Gymnasium.

Es ist ein Allgemeinplatz, dass Motivation wichtig für den Lernerfolg ist. Wer etwas mit allen Kräften will, kann aus seiner Begabung, aus seinem Vorwissen mehr machen als jemand, der unmotiviert ist. Dazu gibt es ein etwas eher bedrückendes Ergebnis aus unserer Studie. Wir hatten vermutet, dass es eine enge Beziehung zwischen den Interessen der Kinder, ihrem Lieblingsfach und ihren Leistungen in diesem Fach gibt. Dies war aber erstaunlich oft nicht der Fall. Manche Kinder waren in einem Bereich wie Geschichtenlesen oder Naturbeobachtung zu Hause besonders engagiert, mussten aber in der Schule erfahren, dass ihre Interessen und ihre Fähigkeiten dort nicht anerkannt wurden. Oder sie erlebten die Aufgaben im Unterricht als Unterforderung, den Unterricht selbst als langweilig. Andererseits: Viele Kinder gaben einen Bereich als Lieblingsfach an, obwohl sie dort keine besonders guten Leistungen erbrachten. Oft erwies sich hier eine besonders positive Beziehung zur Lehrperson als stärker.

Fazit: Unsere Befunde lassen sich weithin zu den Erkenntnissen von repräsentativen Befragungen in Beziehung setzen. Sie helfen z. B. zu veranschaulichen, was die Repräsentativbefragungen des ‚Siegener Zentrums für Kindheits-, Jugend- und Biografieforschung‘ (SiZe) an Einsichten in Wünsche, Meinungen, Verhalten, Wissen und Können von Kindern und Jugendlichen erbracht haben. Betrachtet man die von uns untersuchten Personen einzeln, werden allerdings individuelle Besonderheiten deutlich, die durch die ‚Mittelungen‘ in den repräsentativen Befragungen eher ‚verdeckt‘ werden. Nur wenige Kinder und Jugendliche entsprachen einem ‚Typ‘ oder ‚Muster‘. In einem gerade für die Pädagogik bedeutsamen Sinn ist jede Schülerin, jeder Schüler ganz besonders. Das müsste Folgen für den Stil der Bildungsforschung und für den Unterrichtsalltag von Lehrern haben3. Deshalb hat die Mitarbeit im Projekt für die Studierenden einen hohen Aufklärungswert. Immunisierung gegen vorschnelle Verallgemeinerungen ist ein wichtiger Ertrag fallorientierter Forschung, der auch für Eltern wichtig ist, damit sie nicht immer wieder auf ‚neue‘ Rezepte für die Erziehung ihrer Kinder hereinfallen .


1 Vgl. ausführlicher dazu unsere Expertise: Arbeitsgruppe Primarstufe (2006): Sind Noten nützlich und nötig? Zifferzensuren und ihre Alternativen im empirischen Vergleich. Eine wissenschaftliche Expertise des Grundschulverbandes, erstellt von der Arbeitsgruppe Primarstufe an der Universität Siegen. Weitere Informationen

2 Vgl. dazu die Dissertation aus unserer Arbeitsgruppe: Ratzka, Nadja: Mathematische Fähigkeiten und Fertigkeiten am Ende der Grundschulzeit – Empirische Studien im Anschluss an TIMSS. Hildesheim/ Berlin 2004

3 Vgl. dazu aus unserer Arbeitsgruppe: Brügelmann, Hans: Schule verstehen und gestalten – Perspektiven der Forschung auf Probleme von Erziehung und Unterricht. CH-Lengwil 2005 (fortlaufend aktualisiert unter: www.agprim.uni-siegen.de/schuleverstehen).

Verfasser: Hans Brügelmann/ Hans Werner Heymann

Text ist frei zum Wiederabdruck

 

Ansprechpartner

Prof. Dr. Hans Brügelmann
Universität Siegen
Telefon: +49 (0)271 740 4470
Telefax: +49 (0)271 740 2509
oase@paedagogik.uni-siegen.de
Forschungsprojekte u.a.: ‚LISA & KO‘, ‚SCHLAU‘
LISA & KO

Prof. Dr. Hans Werner Heymann
Universität Siegen
Telefon: +49 (0)271 740 4489
Telefax: +49 (0)271 740 2527
heymann@paedagogik.uni-siegen.de
Forschungsprojekte u.a.: ‚LISA & KO‘, ‚SCHLAU‘
SCHLAU