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Axiome und Maxime


Was Ethik und Mathematik verbindet

 

Zweifellos benennt der Titel eine ungewohnte Kombination. Auch wenn sich mit dem Wörtchen ‚und‘ formal fast alles verbinden lässt, so scheint es doch keinerlei inhaltliche Beziehung zu geben. Zumindest entspricht dies der gängigen Meinung, ein Mathematiker dürfe eigentlich alles, außer falsch zu rechnen. Die Experimente des Mathematikers spielten sich schließlich nur in seinem eigenen Kopf und in dem seiner Kollegen ab. Und seine Erfindungen verblieben auch – so das allgemeine Urteil – im Bereich des Geistigen. In der Tat stellt die Mathematik das Musterbeispiel für eine strikte Trennung von wertneutraler ‚Theorie‘ und zu bewertenden ‚Anwendungen‘ dar. Mit diesen und ähnlichen Vor-urteilen muss also derjenige rechnen, dessen Interesse dem Thema ‚Ethik und Mathematik‘ gilt.

Bevor man sich allerdings auf diese Weise fruchtbare Perspektiven verstellt und für eine mögliche Brisanz des Themas immunisiert, könnte man zunächst bemerken, dass die Geistesgeschichte immer wieder Zeiten eines intensiven Kontaktes von Ethik und Mathematik kennt. Über Platons (427-347 v. Chr.) Akademie etwa, deren vornehmster Lehrinhalt als die ‚Frage nach dem Guten‘ bezeichnet werden kann, soll gestanden haben, dass hier kein der Geometrie Unkundiger eintreten möge. Folgerichtig weisen diverse Platonische Dialoge an zentraler Stelle mathematische Erwägungen auf, so im Theaitet bei der Frage nach der Erkenntnis, im Menon bei der Frage nach der Tugend und in der Politeia bei der Frage nach der Gerechtigkeit. In der Platonischen Philosophie zeigt sich also eine innige Verbindung von Ethik und Mathematik, die im weiteren Verlauf der Geschichte immer wieder erneuert wurde. Als Zeugen seien hier nur genannt: Baruch de Spinoza (1632-1677) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) sowie für das 20. Jahrhundert Leonard Nelson (1882-1927) und Paul Lorenzen (1915-1994). Diese Bezugnahme findet ihre Berechtigung auch darin, dass sich sowohl Mathematik wie auch Ethik durch ein hohes Maß an Universalität auszeichnen und dass beide charakteristische Fähigkeiten des menschlichen Geistes darstellen. Dieser Universalität entsprechen zwei Blickrichtungen: Man kann einerseits Mathematik unter ethischer Perspektive betrachten, also eine Fachethik der Mathematik thematisieren. In der umgekehrten Richtung kann man Ethik – und hier vor allem ‚fundamentalethische‘ Begründungstheorien – aus mathematischer Sicht beurteilen, sei es also eine ‚etica more geometrico‘ entwickeln, oder aber die orientierende Rolle der Mathematik für bestehende ethische Theoriebildung analysieren. Für beide Blickrichtungen sollen im folgenden einige Aspekte angedeutet werden.

Aspekte einer Ethik der Mathematik

 „Mathematik, Mutter der exakten Naturwissenschaft, Großmutter der Technik, [ist] auch Erzmutter jenes Geistes (...), aus dem schließlich auch Giftgase und Kampfflieger aufgestiegen sind.“ Die von Robert Musil (1880-1942) in seinem Jahrhundertroman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ so treffend charakterisierte Kette von der mathematischen Theorie bis zur militärischen Anwendung ist allerdings nicht neu. In der Tat begleiten solche Anwendungen der Mathematik nicht erst die Geschichte des 20. Jahrhunderts. So ist etwa die mathematische Theorie dynamischer Systeme in ihren Anfängen im 16. und 17. Jahrhundert aufs engste mit Fragen der Ballistik verknüpft. Die genaue Kenntnis der Bahnkurve einer Kanonenkugel ist eben sowohl mathematisch interessant wie militärisch reizvoll. Aber auch die scheinbar völlig nutzlose mathematische Zahlentheorie hat mittlerweile im Rahmen der Kryptographie militärische und geheimdienstliche Relevanz, und die so harmlos klingende mathematische Spieltheorie – entwickelt mit Blick auf ökonomische Anwendungen – wurde sofort im Rahmen militärischer Strategieplanung verwendet. Und diese Liste von Beispielen ließe sich fast beliebig verlängern. Doch schon Platon nennt in der Politeia des öfteren die Mathematik in einem Atemzug mit dem Kriegswesen und einer der mathematischen Gründerväter, Archimedes (287-212 v. Chr.), kann als Archetyp in dieser Hinsicht bezeichnet werden. So war er bereits unter den Zeitgenossen berühmt für seine militärtechnischen Erfindungen. Die bekannte Szene, in der Archimedes bei der Eroberung seiner Heimatstadt Syrakus einen der eindringenden römischen Soldaten daran hindern will, seine in den Sand gezeichneten Figuren zu zerstören und von diesem kurzer Hand erschlagen wird, zeigt exemplarisch das Verhalten des Mathematikers, der zwar Rüstungsforschung betreibt, von dem real existierenden Krieg aber verschont bleiben will. Archimedes steht also auch für das – vor allem der Mathematik mögliche – Ausblenden problematischer Anwendungen, die dennoch oft bereits die theoretische Fragerichtung bestimmt haben. Robert Musil charakterisiert diese Haltung treffend: „In Unkenntnis dieser Gefahren lebten eigentlich nur die Mathematiker selbst und ihre Schüler, die Naturforscher, die von alledem so wenig in ihrer Seele verspüren wie Rennfahrer, die fleißig darauf los treten und nichts in der Welt bemerken als das Hinterrad ihres Vordermanns.“ Die hier eingangs skizzierte Problematik stellt sicherlich einen Extremfall dar. Diesen teilt die Mathematik natürlich mit allen Wissenschaften, deren Ergebnisse anwendbar sind. Sie bleibt hier allerdings oft und zu Unrecht im Schatten der Naturwissenschaften. Weshalb und inwiefern die ‚reine‘ mathematische Theorie immer wieder das Potenzial für zuweilen ganz unerwartete militärische Anwendungen birgt, ist eine stets neu zu stellende Frage.

Hinter den Kulissen der Gesellschaft

Richten wir nun den Blick ein wenig über das ‚Hinterrad des Vordermanns‘ hinaus! Schaut man hinter die Kulissen einer modernen Gesellschaft, so zeigt sich ein noch nie da gewesenes Ausmaß indirekter und direkter Mathematisierung. Es ist wohl kaum übertrieben, Mathematik in ihrer Wirkung als eine, vielleicht die ‚Leitkultur‘ der Moderne zu beschreiben. Dies gilt natürlich zunächst für die fast omnipräsente Technik, die nur auf der Basis naturwissenschaftlicher und damit mathematisch formulierter Theorie möglich ist. In der Tat kann man der Diagnose Robert Musils zustimmen, dass „die Mathematik wie ein Dämon in alle Anwendungen unseres Lebens gefahren ist.“ Dies geht einher mit einer sich immer weiter öffnenden Schere zwischen der Kompliziertheit der verwendeten Technik und dem mathematischem Verständnis der Anwender – sei es im Alltag, sei es in hochspezialisierten Berufen. Sprichwörtlich war schon vor 20 Jahren die mindestens ein Informatik- oder Mathematikstudium voraussetzende Aufgabe, einen handelsüblichen Videorekorder zu programmieren. Und heutzutage ist kaum noch jemand in der Lage, die Menüsteuerung der eigenen Kaffeemaschine zu überblicken. Weitaus brisanter ist allerdings, dass vermutlich kein Arzt die in seine diagnostischen Instrumente integrierte Mathematik wirklich versteht, kein entwickelnder Ingenieur ein komplexes technisches Produkt ganz durchschaut. Die weit reichende Prägung der Lebenswelt durch den Einsatz von Computern stellt bereits eine direktere Form der Mathematisierung dar. Hier stellt sich unter anderem die Frage, welche Entscheidungen künftig durch ‚Expertensysteme‘ maschinell berechnet werden sollen, und wer anschließend dafür die Verantwortung übernehmen kann. Als Beispiel sei nur die bereits recht weit entwickelte, computergestützte medizinische Diagnostik genannt. Kaum zu überschätzen, jedoch oft übersehen ist der direkte Einfluss der Mathematik auf soziale, wirtschaftliche und kulturelle Gegebenheiten der modernen Gesellschaften – ein Einfluss, der durch die derzeitige Ökonomisierung verschiedenster Lebensbereiche noch deutlich zunimmt. Gerade die Finanzmärkte hantieren mittlerweile mit einem Instrumentarium mathematisch hochkomplizierter Produkte, die offenbar – siehe Hypothekenkrise – von klassischen Bankiers nicht mehr hinreichend verstanden werden. Verfolgt man auf politischer Ebene beispielsweise die Diskussion bei Einführung des EURO oder die Debatte um Gesundheits-, Renten- und Steuersysteme, so wird deutlich, dass unter der Oberfläche des parteipolitischen Streites eine nur von wenigen – vielleicht! – verstandene Mathematik versteckt ist; dies allerdings nicht als unbeteiligte Beschreibungssprache vorgegebener Verhältnisse, sondern als Vorrat von möglichen Spielregeln für die Gesellschaft. Eine ‚Rentenformel‘ ist kein deskriptives Naturgesetz, sondern eine mathematisierte Verhaltensregel. In der Konsequenz ergibt sich unter anderem die Gefahr eines sich stetig vergrößernden Demokratiedefizits. Anstatt des von allen gewählten Parlaments entscheiden schließlich Expertengremien, die im besten Fall ‚wissenschaftlich‘, nicht aber demokratisch legitimiert sind. Insofern der Mathematik in den beiden angesprochenen Feldern –Technik und Sozio-Ökonomie – eine Schlüsselrolle zukommt, wächst ihr als institutionalisierter Wissenschaft ein entsprechendes Maß an Verantwortung zu. Der Anschluss an die Debatten der Wissenschaftsethik müsste nun auf zwei Ebenen erfolgen. Insofern die Mathematik mit ihren Resultaten eine – zuweilen kaum beachtete – die Lebenswelt prägende Rolle spielt, ist analog zu der inzwischen gut ausgearbeiteten Technikfolgenethik (etwa mit Bezug auf die Biowissenschaften) eine ethische Begleitforschung zu leisten, wie für andere Wissenschaften auch. Auf einer zweiten Ebene wäre nach dem entscheidenden methodischen Beitrag der Mathematik für die Entwicklung der modernen (Natur-)Wissenschaften zu fragen.

Ein mathematischer Blick auf den ethischen Diskurs

Im zweiten Teil soll nun die Aufmerksamkeit auf eine ganz andere ‚Folge‘ der Mathematik gerichtet werden. Spätestens mit Platon beginnt eine philosophische Tradition, die der Mathematik besondere Aufmerksamkeit widmet, sie als vorbildliche Wissenschaft beschreibt und sie – teils implizit, teils explizit – für eine Begründung und Durchführung der Ethik in Anspruch nimmt. Dies geht sofort einher mit einer expliziten Kritik an solchen Ansätzen. Platons großer Schüler Aristoteles etwa berichtet ironisch über einen von Platon angekündigten öffentlichen Vortrag über das Gute: „Jedermann kam in der Erwartung, man würde etwas erhalten, was die Leute normalerweise als ‚gut‘ bezeichnen, (...) und sie waren gespannt auf eine wunderbare Art von Glück. Aber als es sich herausstellte, dass der Vortrag von Mathematik handelte, von Zahlen, Geometrie und Astronomie, und als er dann, um alles zu übertreffen, behauptete, dass Gott die Einheit sei, erschien es allen als hoffnungslos paradox. Im Ergebnis wurde der Vortrag von einigen ausgezischt und andere waren voll der Verachtung.“ So bleiben die Versuche, Klarheit und Eindeutigkeit der Mathematik, aber auch die vorbildliche fairness ihres Diskurses auf Fragen der Philosophie und insbesondere der Ethik zu übertragen ein prekäres Unterfangen.

Ableitung von Normen aus der Mathematik?

Mit Bezug auf die zeitgenössische Ethik kann hierbei zuerst an Formen einer naturalisierten Ethik gedacht werden, wie sie etwa im Rahmen der Soziobiologie vorgetragen werden. Auch die immer wieder im Anschluss an die Neurowissenschaften geführten Debatten – etwa zum Freiheitsbegriff – kann man hierunter subsumieren. Insofern dabei beansprucht wird, von eigentlicher Naturwissenschaft auszugehen, hieße dies – verkürzt gesagt – eine Ableitung ethischer Normen aus Experiment und Mathematik. Dabei ist einerseits auffallend, dass der Status der Theoriebildung die zum Teil weitreichenden Interpretationen kaum deckt; oft genug erscheinen beide geradezu antiproportional. Gravierender ist noch, dass dabei in der Regel die beiden hier benannten grundlegenden methodischen Werkzeuge, Experiment und Mathematik, in naiver Weise als konkurrenzlos wirklichkeitserschließend vorausgesetzt werden. Dies scheint mir allerdings für den Versuch einer Ethik-Begründung ungenügend. Gleiches gilt – mutatis mutandis – auch für die verschiedenen Varianten eines utilitaristischen Kalküls, also die Rückführung ethischer Normen auf das ‚Prinzip des größten Glücks der größten Zahl‘, wie auch immer dies definiert werden mag. Hier werden, etwa im Rahmen der Spieltheorie, immerhin die nötige Mathematisierung explizit vorgeführt und auf deskriptiver Ebene wichtige Resultate, etwa zu sozialen Dilemmata erzielt. Aber auch hier müsste die Reflexion wenigstens noch die Tragweite einer mathematischen Kodifizierung umfassen. In jedem Falle können diese Ansätze also lediglich als mehr oder weniger adäquate Deskription menschlichen Verhaltens aufgefasst werden, und als solche haben sie sicherlich ihre erhellende Funktion. Die normative Pointe einer jeden Ethik bleibt jedoch noch gänzlich unberührt.

Mathematik: Musterbeispiel des herrschaftsfreien Diskurses

Deutlich subtiler sind die verschiedenen Spielarten der Diskursethik in Bezug auf ihr Verhältnis zur Mathematik. Die Betonung liegt hier auf der Formulierung (oder gar transzendentalphilosophischen Ableitung) möglichst einsichtiger Diskursregeln, deren Einhaltung ein faires Aushandeln von Normen garantieren soll. Hier kann der mathematische Beweis als Musterbeispiel für einen herrschaftsfreien Diskurs dienen; bereits David Hilbert (1862-1943) hatte übrigens den Bildungswert der Mathematik vorwiegend in „ethischer Richtung“ gesehen, insofern sie „das Selbstvertrauen zum eigenen Verstand [weckt], die kritische Urteilskraft, welche den wahrhaft gebildeten von dem im bloßen Autoritätsglauben Befangenen unterscheidet.“ Den Extremfall einer solchen Orientierung an der Mathematik stellt die gleichzeitige Formalisierung von Logik und Ethik durch Paul Lorenzen dar. Logische Schlüsse, wie mathematische Beweise, aber auch ethische Argumentationen werden durch standardisierte Dialoge rekonstruiert. Beweisbar sind dann gerade die Sätze, für die es eine sichere Gewinnstrategie in diesen Dialogen gibt. Und auch moralische Normen sollen in einer solchen standardisierten Sprache erarbeitet werden. Aber auch weniger stark formalisierte Varianten der Verfahrens- oder Diskursethik müssten sich fragen lassen, auf welche Weise denn ein Argument tatsächlich überzeugt, soll der Diskurs nicht in einer schlichten Abstimmung oder Dezision enden. An dieser Stelle wäre der Vergleich mit einem mathematischen Beweis erhellend, es soll jedoch nur knapp konstatiert werden, dass die Beweise der Mathematik in ihrer Jahrtausende alten Geschichte zwar auf einzigartige Weise wirkten, dass jedoch die Frage, warum bzw. wie dies geschieht – allen Fortschritten der formalen Logik zum Trotz – nach wie vor unbeantwortet bleibt.

Spielerische Freiheit der Mathematik

Der Vergleich von Ethik und Mathematik, der hier mit Bezug auf die Argumentationsweise skizziert wurde, lässt sich auch mit Bezug auf die jeweilige Begriffsbildung durchführen. Für die Ethik sind im Gegensatz zur Mathematik die Begriffe vor- bzw. aufgegeben; ethische Grundbegriffe und -Normen lassen sich nicht – wie die Axiomensysteme der Mathematik – in totaler Freiheit setzen und anschließend in Theoremen und Corrollarien entfalten. Dies schon deswegen nicht, weil Freiheit und moralisches Gesetz wechselseitig aufeinander verweisen, Freiheit ohne Ethik gar nicht vernünftig denkbar ist. Ein Blick auf die spielerische Freiheit innerhalb der Mathematik könnte die Ethik allerdings davor bewahren, allzu früh bestimmte materiale Normen als unveränderlich zu zementieren. Auf der anderen Seite sind die Begriffe der Ethik – wie bereits der Begriff der Freiheit selbst – nicht endgültig definierbar, sondern in immer neuen Explikationen möglichst adäquat für die jeweilige Zeit zu entfalten. Schlichte, geistlose Identität ist für ethische Begriffe gerade nicht zu erwarten; die Kunst der Ethik besteht dann darin, nicht in ein beliebiges – und oft damit verbunden: autoritäres – Interpretationswirrwar zu verfallen. Hier ist – im Kontrast zum oben gesagten – ein gelegentlicher Blick auf den Ernst mathematischer Präzision durchaus heilsam. Ethik als Versuch einer vernünftigen Beurteilung menschlichen Handelns steht grundsätzlich in der Spannung zwischen allgemeiner Regel und nicht verrechenbarem Einzelfall. Während die Mathematik souverän ignorieren kann, was sich nicht nach allgemeiner Regel im Verstand (und Anschauung) konstruieren lässt, bildet die je singuläre Situation einen stets neuen, unhintergehbaren Probierstein für die Ethik. Entsprechend kann sich der mathematische Verstand gerade in der Entfaltung seiner selbst gefallen und darin seine eigentümliche Sicherheit gewinnen. Ein für die Ethik konstitutives Moment ist demgegenüber gerade die Konfrontation mit dem anderen. Moralisches Handeln erweist sich eben darin, dass der Person und Perspektive des fremden – und fremd bleibenden – Gegenüber a priori die gleiche Würde zugestanden wird, wie mir selbst. Gelingendes Handeln ließe sich dann finden, wenn Eigenes wie Fremdes gleichzeitig bestehen bleiben und einander fördern. Buchstabiert man eine Ethik vom ‚anderen her‘, so heißt dies auch, Spielräume und Mehrdeutiges offen zu lassen, Widerspruch zu riskieren und auszuhalten. Insofern die Mathematik eine Wissenschaft ist, die die moderne Gesellschaft direkt und via Technisierung in herausragender Weise prägt, bedarf sie der begleitenden (fach)ethischen Reflexion. Unabhängig davon steht es einer Wissenschaft wie der Mathematik, die als kulturelles Unterfangen eine mindestens zweieinhalbtausendjährige Geschichte hat, wohl an, gelegentlich über diese Geschichte und ihre eigenen normativen Grundentscheidungen zu reflektieren. Eine genauere Betrachtung der zum Teil ebenso massiven Folgen der Mathematik für die ethische Theoriebildung – und die Zusammenschau beider im Spannungsfeld von Freiheit und Regel – scheinen mir zu einem vertieften Verständnis sowohl von Ethik als auch von Mathematik zu führen. Auch wenn einem Mathematiker nur das falsche Rechnen verboten sein mag – Mathematik und Ethik können dennoch gerade in ihrer grundsätzlichen Verschiedenheit viel voneinander lernen.

Verfasser: Gregor Nickel

 

Ansprechpartner

Prof. Dr. Gregor Nickel
Universität Siegen
Geschichte und Philosophie der Mathematik
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