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Wahrnehmungsveränderung

Wann immer es neue technische Möglichkeiten gibt, haben diese Rückwirkungen auf Kunst und Kultur. Das galt für inzwischen etablierte Bereiche wie den Buchdruck, den analogen Rundfunk, die Tonaufzeichnungen mittels Tonträger oder auch für elektronische Bildaufzeichnungen. Insofern gibt es immer auch eine Wechselwirkung zwischen den digitalen elektronischen Medien und Kunst und Kultur.

Dieser Abschnitt will Wechselwirkungen zwischen neuen technischen Medien und der Kunst aufzeigen und beschäftigt sich damit, wie sich Kunst und Wahrnehmung durch die Medienentwicklung verändert haben bzw. dieser Prozess anhält.


Die Liebe zum Zirkus

Parade de Cirque
"Parade de Cirque". Quelle »

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, so führt Jonathan Crary aus gab es Einflüsse der damals neu entstehenden Medien auf die künstlerischen Werke von Georges Seurat . So spielen sich Laut Crary in den Bildern „Parade de Cirque“ und „Cirque“ sowohl Eigenschaften der Oper, des Theaters als auch die ersten Vorführungen des Praxinoskops wider. Seurat schuf in seinem Bild „Parade de cirque“ eine theaterähnliche Atmosphäre, wie man sie zu jener Zeit aus den „Wagner-Opern“ gewohnt war. Richard Wagner zentrierte die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die Bühne, in dem er den Zuschauerraum sowie das Orchester in Dunkelheit hüllte. Wagner richtete alles so ein, dass der Zuschauer ausschließlich mit dem Schauspiel beschäftigt war. Hieran orientierte sich auch Seurat. So sind bei „Parade de Cirque“ deutliche dunklere Ränder zu erkennen die silhouettenhaft Zuschauer andeuten. Im Zentrum des Geschehens sieht man eine hell erleuchtete Gestalt, die umgeben ist von Musikanten. In anderer Weise nahmen die Medien Einfluss auf ein weiteres Kunstwerk Seurats. Zunächst einmal könnte die Vermutung entstehen, dass Seurat fasziniert war vom Zirkusmotiv. Doch wie aus der Analyse Crarys hervorgeht, waren es eher die zu jener Zeit neuen Medien, die ihm die Inspiration und die Vorlage für seine Werke gaben. Während „La parade de Cirque“ wie oben beschrieben Einflüsse aus Wagners Oper und dem Theater enthielt, weist das Motiv bei „Cirque“ ein oft verwendetetes Motiv bei den animierten Filmen Émile Raynaud im Praxinoskop auf. Durch die stetige Verbesserung seiner Erfindung schaffte Raynaud eine ungeheure Wirklichkeit bei seinen Figuren. Nahezu eine Plastizität. Dadurch erschuf er ein perfektes räumliches Täuschungsarrangement. Dieses Täuschungsarrangement wird bei Cirque lediglich durch den Schatten des Im Vordergrund befindlichen Clowns enttarnt, durch den eine Leinwand zum Vorschein kommt. Cirque ist also nichts weiter als ein erstarrtes Intervall eines bewegten Bildes das zufällig Zirkusakrobaten darstellt. (vgl. Crary 2002)

Seurats Werke zeigen demnach also deutlich die Einflüsse der zu dieser Zeit neu entstehenden Medien auf die Welt der Künstler. Und auch heute noch stehen wir ähnlichen Phänomenen in der Kunst gegenüber, wie die folgenden Abschnitte demonstrieren werden.


Die Kunst der Amateure


Seit der Erfindung des Praxinoskops, hat sich die moderne visuelle Kultur durch immer neue Möglichkeiten der Bilderzeugung weiterentwickelt: Fotografie, Film, Video bis zu den Repräsentationsmöglichkeiten von Bildern im Internet – Bilder beherrschen unseren Alltag, unsere wissenschaftliche Arbeit, beeinflussen unsere Meinungen und prägen unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung.

Die neuen und schnellen Distributionswege digitaler Medien haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung unserer Kultur und Gesellschaft. So bilden sich neue kulturelle Orte wie Chaträume, E-Communities oder Clans. Seit der Einführung beispielsweise des so genannten Web 2.0, bei dem die Internetbenutzer eigene Medieninhalte produzieren, ins Netz stellen und somit neue selbst organisierte Kommunikationsprozesse stattfinden, produzieren die Internetnutzer eine neue Dimension von Kultur und Kunst. So können z.B. über YouTube eigene Videos oder über MySpace selbst komponierte Musik ins Internet gestellt werden. Durch die vielfältigen Möglichkeiten, sich als Produzent von Kunst und Kultur im Internet frei darzustellen, wird das Internet auch zu einem identitätsstiftenden Medium. Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Selbstdarstellung im Internet und die zunehmende Virtualisierung der Lebenswelten haben vor allem auch Einfluss auf das Wahrnehmungs- und Kommunikationsverhalten. Neue Medien verändern die Perspektive und ermöglichen es einem Beobachter zu sein. Noch nie war der Voyeurismus so populär wie heute, was natürlich auch Spuren in der Kunst hinterlässt.

Mehr dazu:
www.medienamateure.de



Die Kunst mit dem Internet im Internet


Verändert sich das Wahrnehmungsverhalten, so verändert sich auch die Kunst. Ähnlich wie es bereits im 19. Jahrhundert von statten ging, weist auch der Künstler Thomas Ruff in der heutigen Zeit eine parallele Arbeitstechnik zu Seurat auf, zumindest was die Wahl und Gestaltung seiner Motive angeht. Sein neuestes Werk „Nudes“ ist einem Thema gewidmet, auf das man in der Kunstszene mit Höchstpreisen reagierte. Es handelt sich dabei um computer-manipulierte Bilder von teils erotischen, teils pornografischen Szenen, wie sie uns tagtäglich im Netz begegnen. Durch Verwischungen und Unschärfen verfremdet, treiben sie zum einen ein höchst irritierendes Spiel mit der Wahrnehmung, zum anderen aber spiegeln sie somit die einzigartige Ästhetik des neuen Mediums Internet wider. Eine Welt beherrscht von Erotik und der amateurhaften Darstellung. Eine Welt in der jeder durch seine Selbstdarstellung zum Künstler werden kann. Und nicht zuletzt eine Welt in der die Wahrnehmung bestimmt wird durch immer weiter voranschreitende Medientechnologie. Die Kunst wird dynamisch und passt sich der Wahrnehmungsweise der heutigen Gesellschaft an.

Mehr dazu:
www.medienkunstnetz.de

www.art-in.de



Amateurhaftigkeit schafft Authentizität

Auch vor der Musikindustrie macht der Einfluss der Amateurkunst aus dem Internet nicht halt. In letzter Zeit wird hier immer öfter bewusst auf aufwendige Musikvideos verzichtet und stattdessen amateurhaft scheinende Aufnahmen präsentiert. Dadurch wird versucht gerade neuen Künstlern mehr Authentizität zu verleihen und somit die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das aktuellste Beispiel hierfür ist Webcam Julia. Für sie wurde speziell ein Lied produziert, dass für dieses Format geradezu optimal scheint. Julia behauptet zwar auf ihrer Homepage, dass die Idee zu diesem Hit relativ spontan entstand und die Umsetzung ebenso amateurhaft von statten ging, der Verdacht bleibt allerdings dennoch, dass alles von vornherein geplant war, um damit speziell auch auf dem boomenden Klingelton-Markt Fuß zu fassen. (vgl. www.webcamjulia.com , 23.02.2009)


Webcam Julia - Privat Akt


Webcam Julia Privat Akt mein erster Song - MyVideo

Nachdem immer mehr Künstler durch ihre Selbstdarstellungen bei YouTube oder MyVideo bekannt geworden sind, kann man damit rechnen, dass sich in Zukunft immer mehr „Nachahmungstäter“ auf dem Musikmarkt finden werden. Ob das Berühmtwerden durch die Möglichkeiten der Selbstdarstellung nun zufällig oder geplant von statten geht, ist es doch interessant zu sehen inwieweit das Internet die Ästhetik in den Musikvideos verändern und ob diese Veränderung auf lange Sicht gesehen von den Rezipienten akzeptiert wird. Siehe dazu auch: "YouTube Favourites: Ego und Art Clips" .


Neue Medien schaffen alte Medien

„Zu den wesentlichen Erfolgen der neuen technischen Medien, Video und Computer, wie der alten technischen Medien, Fotografie und Film, zählen nicht nur, dass sie neue Kunstbewegungen initiierten und neue Kunstmedien, neue Ausdrucksmedien schufen, sondern auch, dass sie eine entscheidende Wirkung auf die historischen Medien wie Malerei und Skulptur ausübten. Insofern bildeten die neuen Medien nicht nur einen neuen Ast am Baum der Kunst, sondern sie haben insgesamt den Baum der Kunst verändert. Man muss also unterscheiden zwischen alten technischen Medien (Fotografie, Film) und neuen technischen Medien (Video, Computer) einerseits und den Künsten Malerei und Skulptur, die bislang gar nicht als Medien galten, aber unter dem Einfluss der Medienselbst zu Medien wurden, nämlich zu nicht-technischen alten Medien. Mit den Erfahrungen der neuen Medien werfen wir einen anderen Blick auf die alten Medien. Mit den Praktiken der neuen technischen Medien bewerten wir auch die Praktiken der alten nicht-technischen Medien neu. Man könnte sogar soweit gehen zu sagen, der eigentliche Erfolg der neuen Medien besteht nicht darin, neue Kunstformen und Kunstmöglichkeiten entwickelt zu haben, sondern ihr eigentlicher Erfolg besteht darin, uns die alten Kunstmedien neu zugänglich und sie vor allem am Leben gehalten zu haben, indem sie diese zu einschneidenden Veränderungen gezwungen haben.“ (Peter Weibel, 2006)
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Die Medienentwicklung hat also nicht nur Einfluss auf die gegenwärtige Kunst sondern auch auf die vergangene. Und solange die Entwicklung weiter voranschreitet, können wir uns sicher sein, dass sich mit ihr auch die Kunst verändert. Ob das allerdings nun zum Guten hin geschieht, kann man nicht beantworten. Fest steht nur: die Wahrnehmung ist anpassungsfähig. Und das gibt uns die erstaunliche Möglichkeit in Allem etwas Gutes zu sehen.


Paul Lehmann