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Bewegende Einsichten

Mobilität - ein Schlagwort zu dem Jedem ad hoc etwas einfällt. Dem Jobsuchenden der Appell an seine Flexibilität, dem Pendler der Slogan der Bahn, Menschen mit Behinderung die Frage, wie man am besten das gewünschte Ziel erreicht.

Mobilität- ein Schlagwort zu dem Jedem ad hoc etwas einfällt. Dem Jobsuchenden der Appell an seine Flexibilität, dem Pendler der Slogan der Bahn, Menschen mit Behinderung die Frage, wie man am besten das gewünschte Ziel erreicht.

Diese an Alltagssituationen gebundenen Assoziationen sind so eng an die eigenen Erfahrungen und die persönliche Wahrnehmung gekoppelt wie der Begriff der Mobilität an Beweglichkeit.

Der folgende Text soll die Dynamik des Wortes sowohl durch seine Hypertextstruktur als auch durch die Auffächerung des Wortes in verschiedene mediale Assoziationsfelder verdeutlichen.

Thomas Hensel entwirft in seinem Text ‚Mobile Augen‘  eine Medienchronik, die den  Zusammenhang von Mobilität und Wahrnehmung in der vorkinematographischen Zeit herausstellt. Im Folgenden soll auf seinen Text näher eingegangen werden.

Kegelanamorphose
Kegelanamorphose

Geht man zurück in der Geschichte der Medien und konzentriert sich auf die Zeit vor dem Film , wird bereits hier die Bedeutung von Mobilität und ihrer Kopplung an die Wahrnehmung herausgestellt. 1657 taucht das erste Mal der Begriff Anamorphose auf, hinter dem sich ein verzerrtes Bild verbirgt (à Begriffsdefinition ). Erst die Veränderung des Standpunktes und damit der Perspektive ermöglichen es dem Betrachter, das Motiv zu entzerren.

Mit dieser „Dynamisierung der Wahrnehmung“, ist die Einsicht verbunden, dass es nicht nur eine Erkenntnis gibt, sondern viele Möglichkeiten Erkenntnisse zu gewinnen, abhängig vom jeweiligen Standpunkt des Betrachters (Hensel 2002).

Nicht nur der lineare Prozess von Wahrnehmung und Erkenntnis ist damit durchbrochen, sondern auch die Eindimensionalität der Verbindung von Erkenntnisprozess und Sehen. Neben einem aktiven Auge kommt es zu einer Verschaltung aller Sinnesorgane.

Gesamtplan von Schloss und Plan, 1746. Das Schloss befindet sich im rechten Bilddrittel. Quelle: Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Versailles#Die_Parkanlagen.
Gesamtplan von Schloss und Plan, 1746. Das Schloss befindet sich im rechten Bilddrittel. Quelle »

Eine „Mobilisierung der Wahrnehmung“  lösen die Landschaftgärten des Absolutismus aus. Erst eine Bewegung des Besuchers ermöglicht es ihm den Raum individuell zu erfassen. Die Konzeption von Versailles beispielsweise implizierte bei ihrer Planung die Bewegung des Betrachters und lässt den Garten nur durch dessen Mobilität erfahrbar werden (vgl. ebd.).

Durch die Erfindung der Eisenbahn erfährt die an den mobilen Körper gekoppelte Wahrnehmung ein zusätzliches extrinsisches Moment der Beschleunigung, wodurch  die Konturen der Landschaft verschwimmen und die Außenwelt in Fragmente zerfällt (à dies wurde auch von der Kunst aufgegriffen, wie beispielwese von W. Turner, Rain, Steam and Speed , 1844).

Moving Movies, an den Zug angehängte Kinowaggons, verknüpften Ende des 19. Jahrhunderts sogar zwei Aspekte von Bewegung: die reale und die filmische Illusion von Bewegung (vgl. ebd.).

Die Entwicklung der Fotografie enthält einen weiteren Aspekt, der Mobilität inhäriert. Zunächst wird jedoch ein technisches Defizit erkannt: die Differenz zwischen der Sequentialität der dargestellten Bewegung und der Simultanität des darstellenden Bildes kann nicht aufgehoben werden. Als Lösungsansatz wird die Bewegung des Blicks genannt (vgl. Balzer 1996).

Quelle: Digitaljournalist. http://www.digitaljournalist.org/issue0309/images/life/muybridge.jpg
Serienfotografie von Eadweard Muybridge. Quelle »

Die von Eadweard Muybridge entwickelte Serienfotografie bedeutet eine Aufhebung von Simultanität und Sequentalität. Die entstandenen Bilder lesen sich wie ein Text von rechts nach links und lassen sich vom Betrachter am Ende der Bilderkette als eine Bewegung zusammen setzen.

Von Muybridge inspiriert, entwickelt Etienne-Jules Mareys Ende des 19 Jahrhunderts die Chronofotografie . Diese zeichnet sich durch eine simultane Einheit aus, die durch die sequentielle Darstellung des sich bewegenden Körpers und deren Dauer gegeben ist (vgl. ebd.) (à Buchcover von Werner Nekes ).

Der frühe Comic weist die gleichen Charakteristika auf und auch der heutige Animationsfilm hat seinen historischen Vorläufer. Lotte Reiniger schreibt Anfang des 20 Jahrhunderts Filmgeschichte, indem sie den ersten Abendfüllenden Animationsfilm erstellt. Die  einzelnen Glieder der aus schwarzem Tonkarton ausgeschnittenen Figuren verband sie mit Draht. Dadurch war es möglich die Figuren zu bewegen und  ihnen so den Anschein von Lebendigkeit zu verleihen.

Die Form der potenzierten Beschleunigung ist heute so aktuell wie damals. Ein Sprung in die Gegenwart verdeutlicht, dass Projekte – wie zum Beispiel die Theatergruppe  Rimini Protokoll – ebenfalls die Vernetzung von Realität und Illusion anstreben und den Moment der Bewegung einbinden. Folgt man dieser Idee, so bietet die Geisterbahn ein weiteres Beispiel, welches diese Charakteristika aufweist. Anfang des 20. Jahrhunderts  erfreute sie sich großer Beliebtheit.  Die Bewegung der Besuchers wurde gesteuert: er saß in Vehikeln die durch Trassen geleitet wurden – im Zuge der Fahrt traf er immer wieder auf Gestalten, die aus dem Dunkel auf ihn zu kamen. Ein bewegter Betrachter trifft auf ein mobiles Bild (vgl. Hensel 2002).

Sigmar Polke, Laterna Magica, 1988-1996, verschiedene Lacke auf Polyestergewebe, beidseitig bemalt, 16 Teile. Foto: Thomas Kellner
Sigmar Polke, Laterna Magica, 1988-1996, verschiedene Lacke auf Polyestergewebe, beidseitig bemalt, 16 Teile. Foto: Thomas Kellner

In der aktuellen Ausstellung ‚Blickmaschinen ‘ des Museums für Gegenwartskunst greift  Sigmar Polke die Idee der ganzheitlichen Erfahrung auf, die an die Vorstellung der französischen Landschaftsgärtner des 17. und 18 Jahrhunderts erinnert.

Erst durch eine Bewegung des Betrachters kann dieser dem Werk näher kommen. Die individuelle Form der Bewegung um die Installation und im Raum korrespondiert mit einer nicht eindeutigen Bildwirkung.

Auf dieses Phänomen rekurriert auch die kinetische Kunst . Ein umherwandernder Betrachter nähert sich Kunstobjekten, die durch Mechanik in Bewegung gesetzt werden (à Objekt im Gegenwartskunstmuseum ). Daraus resultiert eine, sich aus zwei unterschiedlichen Quellen speisende, Dynamik, die auf die Wahrnehmung Einfluss nimmt.

Bewegte Bilder, ein sich bewegender Betrachter. Der physische Aspekt der Mobilität lässt sich durch einen nicht-physischen erweitern. Man trifft immer wieder auf bewegende Bilder, die den Betrachter emotional bewegt zurück lassen. Ausstellungen wie die WorldPress Photos und die der Wehrmacht liefern Beispiele hierfür. Letztere wurde zum ersten Mal im März 1995 in Hamburg präsentiert. Ausgangspunkt der Initiatoren:

„Die Wehrmacht führte 1941 bis 1944 auf dem Balkan und in der Sowjetunion keinen ‚normalen Krieg‘, sondern einen Vernichtungskrieg gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung, dem Millionen zum Opfer fielen“ (vgl. Balkenohl 2000).

Im Anschluss daran kam es zu heftigen Kontroversen bezüglich der vermeintlichen einseitigen Präsentation bzw. Pauschalisierung (à Resonanz auf die Wehrmachtsausstellung ).

In einem Zustand des kontinuierlichen Wachstums befindet sich zudem die virtuelle Mobilität in Form der Vernetzung .  Das Internet bietet mit online communities wie flickr und youtube, Social Software , Wikis und Blogs , Formate, die  einen fast unbegrenzten Datentransfer und damit einen beschleunigten Austausch ermöglichen. Dass mobile Auge, das in der Realität teilweise größere Anstrengungen unternehmen muss um Details zu erkennen oder in die Ferne zu sehen wird durch das Internet entlastet. So machen es Formate wie google earth möglich, dass der User sich mit Hilfe der Maus näher heran oder heraus zoomt, schwenkt und Einblicke erhält, die ihm ansonsten verwehrt blieben.

Der vermehrte Nutzen des Internets führt dazu, dass viele von einer Parallelgesellschaft sprechen, die eine neue Form der Wahrnehmung evoziert.

Doch auch die Gesellschaft in der Realität erfährt eine Veränderung ihrer Blickkultur. Die teilweise großen Distanzen, die Pendler zurücklegen korrespondieren mit einer Vielzahl von Eindrücken, die vom Gehirn verarbeitet werden wollen. Vertraute Bilder, die die Wahrnehmung als bekannt verbucht, werden seltener – neue Reize häufiger. Als Konsequent nimmt der Vorgang der Selektion an Bedeutung zu (à Studie zu Konsequenzen und Dimensionen des Pendelns ).

Auch das Thema der Migration ist eng verstrickt mit dem der Mobilität. Dirk Hoerder spricht in einem Aufsatz von dem Wechselspiel aus Mobilität, Individuum und Gesellschaft (vgl. Hoerder 2002).

Wie ein Kaleidoskop an dem man dreht, um ein neues Muster wahrzunehmen, ließe sich der Begriff der Mobilität durch weitere Links immer feiner verästeln. Die vorgestellten Beispiele sollen deutlich machen, dass Vieldeutigkeit des Begriffs eine flexible Herangehensweise erfordert. Als Konsequenz verbindet sich die Art der Analyse mit dem Inhalt.



Julia Jochem