Geschichtsbilder und Geschichtsdeutungen in Massenzeitschriften im geteilten Polen im 19. Jahrhundert. Nationale, transnationale und europäische Geschichtsnarrative zwischen drei Imperien
Auf den Titelseiten der "Tygodnik Ilustrowane", eine der berühmtesten und sicher die am weitesten verbreitete Warschauer illustrierte Zeitschrift des 19. Jahrhunderts, fanden Biographien bekannter historischer und zeitgenössischer Persönlichkeiten besonders viel Raum. Der hier abgebildete Artikel erschien auf der Titelseite der dritten Ausgabe der Zeitschrift in ihrem Gründungsjahr 1859. An dieser exponierten Stelle wird das abenteuerliche Leben eines polnischen Edelmannes des 17. Jahrhunderts, Krzysztof Arciszewski, erzählt. Arciszewski bereiste nach seiner Verbannung aus Polen wegen Mordes mehrere Jahre lang die wichtigsten europäischen Königshöfe und erwarb sich sowohl im Dreißigjährigen Krieg im Zuge der Eroberung von La Rochelle als auch als Offizier in Brasilien im Solde der niederländischen westindischen Handelskompanie einen Namen. Im Jahr 1646 wurde ihm gestattet nach Polen zurückzukehren. Auch hier kämpfte Arciszewski auf Seiten der Armee der Rzeczpospolita in allen entscheidenden Schlachten des großen Kosakenaufstands von 1648. Das Bild in der Mitte der Titelseite ist ein Portrait, das der deutschen Chronik Theatrum Europaeum aus dem 17. Jahrhundert entstammt.
Warum wurde die Geschichte eines Adeligen, der zumeist außerhalb Polens gekämpft hatte und dazu calvinistisch war, als Thema für die Einführung einer neuen Zeitschrift ausgewählt? Dominierten in dem Artikel über einen weit gereisten Mann des 17. Jahrhunderts eher die nationalen oder doch die transnationalen Aspekte seiner Lebensgeschichte? Wie konnte die Rolle von Arciszewski als Kolonisator in Brasilien in die Geschichtsnarrative einer geteilten und von zeitgenössischen Kolonisierungsprozessen ausgeschlossenen „Nation ohne Staat“ wie Polen integriert werden? Welche Botschaften über Europa und den polnischen Platz im kulturhistorischen Raum Europas können in der populärwissenschaftlichen Erzähl- und Deutungsweise dieser Biographie identifiziert werden? Welche Elemente der Geschichte von Arciszewski wiesen eine aktuelle Bedeutung für die Leserschaft im 19. Jahrhundert auf? Auf welchen Wegen gelangte die Abbildung des deutschen Portraits in die Warschauer Zeitungsredaktion?
Auch in der Posener Zeitschrift "Przyjaciel Ludu" lassen sich zahlreiche historische Themen finden und auch hier werden Biographien von berühmten Persönlichkeiten aus der Vergangenheit oft auf der ersten Seite präsentiert. In dieser Ausgabe aus dem Jahr 1883 ist ein Portrait von Jan III Sobieski, einem der bedeutsamsten polnischen Könige, abgedruckt. Er ist in der polnischen Geschichtsschreibung dafür bekannt, im 17. Jahrhundert Wien und damit "das gesamte europäische Christentum", vor den "ungläubigen Türken" verteidigt zu haben. Obwohl das Erscheinungsjahr und das Thema im Vergleich mit dem Artikel über Arciszewski anders sind, stellen sich auch hier interessante Fragen: Warum steht ausgerechnet Sobieski auf der ersten Seite dieser populären und weit verbreiteten Zeitschrift? Wie wurde über den "Verteidiger des christlichen Europas" in der Zeit der Teilungen, als sich die christlichen europäischen Mächte wenig für das Schicksal Polens interessierten, berichtet? Und wie wurde die Verteidigung eines deutschsprachigen Reiches im Kontext der gespannten und komplexen deutsch-polnischen Verhältnisse im Preußischen Teilungsgebiet kommentiert?
Schließlich können auch in den Zeitschriften aus Galizien, dem habsburgischen Teilungsgebiet, vielfältige historische Themen entdeckt werden. Gegen Ende des langen 19. Jahrhunderts wurden immer häufiger Fotos anstatt Gemälden für die Bebilderung historischer Artikel verwendet. Gleichzeitig werden auch die ersten Versuche untergenommen, die Geschichte der jüngsten Vergangenheit zu schreiben. Beispielsweise ist hier auf der Titelseite einer Ausgabe der Lemberger Zeitschrift "Nasz Kraj" aus dem Jahr 1909 ein Foto von Kämpfern im polnischen Aufstand aus dem Jahr 1863 abgebildet, die später nach Sibirien deportiert worden waren. Wie wurde diese jüngere, und aus politischer Sicht noch sehr aktuelle, Geschichte in den Zeitschriften gedeutet? Was war im autonomen Galizien über die polnischen Aufstände für die Unabhängigkeit des polnischen Staates zu erzählen erlaubt? Wie wurde dieser katastrophal geendete Aufstand beurteilt? In welche nationalen oder europäischen Befreiungsnarrative wurden die polnischen Unabhängigkeitskämpfe am Anfang des neuen Jahrhunderts eingeschrieben?
Anhand dieser drei Beispiele lässt sich das Potential einer transnationalen Untersuchung der Geschichtsdeutungen in polnisch-sprachigen Zeitschriften aus dem 19. Jahrhundert erkennen. Polen stellt in der Geschichte der Nationalstaaten des 19. Jahrhundert einen Sonderfall dar, da die alte und traditionsreiche polnische Adelsrepublik zwischen dem Russischen Reich, dem Preußischen Staat und dem Habsburgerreich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts aufgeteilt war. Infolge dieser Teilung verschwand Polen für mehr als ein Jahrhundert als staatliche Einheit von der europäischen Landkarte. Es blieb aber als zwar geteilter, aber auch eng vernetzter sprachlich-kultureller Raum erhalten, dessen kulturelle Eliten in den drei Teilgebieten von einem starken Gefühl der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen politisch-kulturellen Vergangenheit geprägt waren.
Wie in anderen europäischen Territorien lassen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in den polnischsprachigen Regionen die Entstehung einer modernen Massenpresse und einer ausdifferenzierten Leserschaft beobachten. Aufgrund der imperialen Überschichtung dieser Region und der recht unterschiedlichen politisch-kulturellen und sozioökonomischen Ausgangslagen in den drei Teilungsgebieten wiesen diese Phänomene hier einerseits besondere Eigenschaften auf, waren andererseits gerade in Folge der nicht-nationalstaatlichen Struktur von engen Transfer- und Verflechtungsverhältnissen zum restlichen Europa beeinflusst. Aus einer transnationalen Perspektive ist die Analyse der Zeitschriftenlandschaft des geteilten Polens also von besonderem Interesse, da eine Einbindung in grenzüberschreitende politische Rahmenbedingungen und Diskurse von vornherein gegeben war.
Das Thema Geschichte – vor allem die polnische, die Geschichte der Teilungsmächte, die europäische Geschichte als Referenzraum für polnische Erfahrungen sowie gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch die Weltgeschichte – galt für die neuen populären und häufig illustrierten Zeitschriften dieser polnischen "Nation ohne Staat" als wichtige Identitätsressource und als Ersatz für die häufig fehlende polnische Schulbildung. Das Hauptanliegen des hier verfolgten Ansatzes wird aber nicht nur in der Bestätigung einer sicher auch in den illustrierten Zeitschriften vorhandenen großen Präsenz von polnisch-nationalen Geschichtsbildern liegen, die in anderen Bereichen – wie der polnischen Malerei, geschichtswissenschaftlichen Werken oder der Literatur – bereits gut erforscht wurde. Vielmehr wird sich das Teilprojekt der Frage widmen, auf welche Weise in den Zeitschriften historische Inhalte und Erklärungsmuster eingesetzt wurden, um die polnische Positionierung in Europa zu definieren, insbesondere hinsichtlich der eigenen Modernität und der Auseinandersetzung sowohl mit nationalen als auch mit kolonialen sowie allgegenwärtigen Fortschrittsnarrativen. Wie begründeten die populären Zeitschriften historisch die besondere polnische Lage bei gleichzeitiger Konstatierung von gesamteuropäischen Phänomenen der Moderne in Polen? Wie und warum bezogen sich bestimmte historische Artikel in ihrem Inhalt oder in ihrer Erzählungsform auf nicht-nationale oder europäische Diskurse? Wann grenzten sie sich davon ab?
In diesem Zusammenhang gilt es zudem zu klären, auf welche Weise, in welchen Genres, durch welche (anerkannten) Autoritäten Geschichte als gesichert geltender Wissensbestand an ein breiteres Publikum vermittelt wurde. Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Frage, inwieweit über das Zeitschriftenwesen im Zeitalter der beginnenden Massenkommunikation einerseits ein über die Teilgebietsgrenzen hinausreichender Kommunikationsraum entstehen konnte, und andererseits wie sich über diesen Kommunikationsraum hinaus in den Zeitschriften der drei Gebiete unterschiedliche Deutungen und Vermittlungsformen von Geschichte etablierten. Hier gilt es die Wege der Informationsflüsse und die Folgen der Kommunikationshindernisse nachzuzeichnen sowie die Bedeutung von regional-spezifischen und grenzüberschreitenden historischen Themen und Narrativen in Geschichtsartikeln zu bedenken.
Aufgrund der im Vergleich mit den anderen beiden Teilungsgebieten besonders lebhaften Entwicklung des Zeitschriftenmarkts innerhalb des russischen Herrschaftsbereichs steht im Teilprojekt die Analyse von Periodika aus dieser Region im Vordergrund. Gerade im russischen Teilungsgebiet, das seit Mitte des 19. Jahrhundert einer verstärkten Russifizierungspolitik unterworfen war, wurden neue Orte und Medien der Wissensgenerierung und Wissensvermittlung entwickelt: Das sich rasant entwickelnde Zeitungs- und Zeitschriftenwesen gehörte fraglos dazu. Es wird zu zeigen sein, dass die Vermarktungsstrategien nicht nur im russischen Teilungsgebiet, sondern über die Teilgebietsgrenzen hinaus ausgesprochen erfolgreich waren, so dass neben den imperialen Rahmungen auch die intraregionalen Transfers und Verflechtungen eine wichtige Forschungsperspektive bilden.
Bearbeiterin: Clara Maddalena Frysztacka M.A.