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Wider die These der Verhäuslichung1

 

Auf die Frage, ob er lieber im Haus oder im Freien spiele, antwortet Jimi: „Draußen ist mehr Platz!“, und Chiara habe, so betont sie, „am liebsten Lust, dass ich so lange draußen bleiben kann, wie ich will. Wenn ich in der Stadt leben würde, wär’ ich nich glücklich. Ich muss halt draußen sein.“ Matthias ist nach Auskunft seiner Mutter gar unausstehlich, wenn er sich nicht im Freien austoben kann und hat keinerlei Verständnis dafür, dass einer seiner Cousins jeden Abend zu Beginn einer bestimmten Fernsehsendung zu Hause sein möchte: Jeden Abend, der vergisst das aber auch nicht.“ Wendy begründet überzeugend, warum sie sich am liebsten außer Haus aufhält, und spricht damit für die deutliche Mehrheit der untersuchten Kinder: Drinnen find’ ich auch gar nicht so schön, weil draußen ist es schöner.“

Diese Kinder leben nicht in einer Großstadt mit (mehreren) hunderttausend Einwohnern – was für etwa zwei Drittel der in Deutschland lebenden Kinder gilt. Die Zitate illustrieren eindrucksvoll unsere These: Diese Kinder leben in der Regel nicht verhäuslicht: Sie spielen draußen, viele sind sportlich engagiert und eine ganze Reihe von ihnen hat eine enge Beziehung zur Natur. Sehr gerne verbringen sie ihre Freizeit bspw. im Wald und bauen sich Verstecke. So erzählt Wendy: „Bei der Mimi, da ist ein ganz großer Wald und da haben wir uns ’ne Bude gebaut. Ist zwar ein bisschen wackelig, aber es geht“, und Julia zieht sich – insbesondere bei Streitigkeiten in der Familie – gerne in ihr Baumhaus, ihr Lieblingsversteck, zurück, um allein zu sein. Auch Berry ist stolz auf sein Geheimversteck, eine Bude auf den Schienen einer stillgelegten Eisenbahnlinie: „Mitten auf der Schiene. Ja, wir ham da Buden gebaut. Da ist nämlich auch so’ne kleine Hütte.“

Auch Matthias spielt am liebsten im Wald. Hier hat er mit seinen Freunden einen Treffpunkt, der ihnen als eine Art ‚Hauptquartier‘ dient: „Da ist so eine steile Böschung. Und da spielen wir immer, meistens jeden Tag. Nicht, natürlich nur, wenn es schönes Wetter...“. Tim-Niklas trifft sich mit seinen Freunden häufig in dem Wald nahe des Hauses seiner Eltern, um dort an einem Bach Staudämme zu bauen. Das Gewässer bietet den Kindern außerdem die Möglichkeit, Entdeckungen und Erkundungen zu machen: „Und das sind hier ganz kleine Froscheier“, erklärt er stolz. Wie für Tim-Niklas, so ist auch für Jan der Bachlauf am Ende des elterlichen Grundstücks ein interessantes Terrain für Beobachtungen, z. B. von Kaulquappen. Auf die Frage, was genau er denn am Bach mache, wenn er sich dort wie so häufig für mehrere Stunden aufhalte, antwortet Jan: „Fast auch nix“. Auch Julia scheint auf den ersten Blick „fast auch nix“ zu machen, wenn sie sich in der freien Natur aufhält. Zwei Orte mag sie besonders gern: eine nahe gelegene Wiese, in deren Gras sie sich gerne legt und den Himmel betrachtet, und einen Bach, an dessen Ufer sie spielt, die Füße ins Wasser streckt und mit einer Freundin zusammen Tiere und Pflanzen beobachtet: „Und dann machen wir an manchen Tagen manchmal einen kleinen Ausflug in den Wald, da gibt es eine ganz schöne Stelle. Und setzen uns da halt hin, dann hören wir den Vögeln manchmal zu.“

Interessanterweise ist neben der freien Natur auch die Straße ein überaus beliebter Spielort, und das längst vergessen geglaubte und oftmals zufällige, ungeplante, unverabredete Straßenspiel ist für die Freizeitgestaltung der Kinder von großer Bedeutung. Eine Vielzahl der Mädchen und Jungen berichtet davon, nachmittags einfach hinaus auf die Straße zu gehen – in dem sicheren Gefühl, bald andere Kinder zum Spielen zu finden. So spielt Marc sehr gerne und oft mit seinen Freunden Fußball auf der Straße und erzählt begeistert: „Ich hole se dann ’raus,... und dann, dann spielen wa so’n bisschen Fußball. Und, und wenn dann noch einer dazukommt, dann machen wir vielleicht auch schon mal solche Spiele, also nur ein Tor. Und der Torwart ist da drin, und die beiden, ähm, spielen gegeneinander.“ Wenn Kira mit ihren Freundinnen im Sommer draußen auf der Straße spielt, malen sie oft mit Straßenkreide oder spielen Verstecken oder Fangen: „Da muss einer immer an der Tür zählen bis 50, glaub’ ich, un’ die anderen verstecken sich dann irgendwo“, und Julia spielt mit den Jungen aus ihrer Straße am liebsten ‚Räuber und Gendarm‘: „Und das macht halt sehr viel Spaß, das spiele ich immer mit den Nachbarskindern, die kommen dann manchmal ’raus im Sommer oder auch jetzt.“ Laura erzählt: „Jo, ich find’ das hier schön, weil hier is’ immer ruhig eigentlich auf der Straße. Find’ ich schön, aber an der Hauptstraße fänd’ ich das nicht schön.“ Die meisten Kinder lieben das Toben, den Sport im Freien. So auch Chiara. Sie ist in ihrer Freizeit ständig in Bewegung, und ist sie einmal an das Haus gebunden, so wird sie schnell unruhig: „Heute bin ich ’n Zappelphilipp!“

Um in Bewegung zu kommen, nutzen die Kinder auch Fahrzeuge unterschiedlichster Art und Gestalt. Tim-Niklas bspw. besitzt ein Mountainbike, ein Skateboard, Inlineskates, Roll- und Schlittschuhe, Skier, einen Schlitten und ein von seinem Opa gebautes Auto mit Motor. Im nächsten Winter möchte er das Snowboardfahren lernen. Einen ähnlichen ‚Fuhrpark‘ wie Tim-Niklas besitzen beinahe alle Kinder der Stichprobe. Die Mädchen und Jungen sind im wahren Wortsinn auf Achse, und das beliebteste Fortbewegungsmittel ist das Fahrrad. Lukas stellt eine der wenige Ausnahmen dar. Er ist kein begeisterter Fahrradfahrer, was dadurch begründet sein könnte, dass er mit seinem Tourenrad einmal mit einem stehenden Fahrzeug kollidiert ist, „weil er mit zuen Augen gefahren [ist, da] wollt’ er mal ausprobieren, wie das ist, wenn man nichts sieht... und dann an’ner Hauptstraße entlang.“ Die übrigen Kinder lassen sich selbst von widrigsten Bedingungen nicht vom Fahrradfahren abhalten.

So berichtet Wendy nicht ohne Stolz über ihr Mountainbike: „Das kann ich bei Wind und Wetter nehmen,... damit kann ich durch Berge fahren“, und Tim betont, „dass ich jeden Tag Fahrrad fahre, auch bei diesem Wetter. Zieh’ ich mir Handschuhe an, und dann hat sich der Fall und dann fahre ich.“ Viele der Mädchen und Jungen berichten zudem, kleine Reparaturen an ihren Fahrrädern selbst vorzunehmen, sollte das Vehikel einmal defekt sein. So hat Sarah bspw. keine Probleme damit, eine abgesprungene Kette wieder aufzuziehen: „Da sehen meine Hände danach nur ziemlich aus.“ Julia stellt ihre Fortbewegungsmittel teilweise sogar selbst her: Manchmal bastelt sie gemeinsam mit ihrem Bruder Seifenkisten. In den Fahrgenuss komme sie, so bedauert sie, allerdings nur selten, da Marc die Renner gewöhnlich kaputt gefahren habe, bevor Julia ans Steuer dürfe. Auch Case und sein Bruder bauten sich vor zwei Jahren eine Seifenkiste und fuhren damit die Straße vor dem Haus hinunter, bis sie kaputt ging: „Die haben wir wieder auseinandergebaut, weil die irgendwann die Biege gemacht hat.“ Im Winter ist bei den Mädchen und Jungen das Schlittenfahren sehr beliebt. Tim-Niklas über sein Heimatdorf: „Schön. Hier gibt es genug Schlittenberge und alles. Kann man schwer gut Schlitten fahren.“ Wann immer möglich fahren die Kinder zudem überaus gerne mit ihren Inlineskates – wie bspw. Berry, der zwar betont, sehr gut fahren zu können, sich aber dennoch nicht traue, allzu steile Berge hinunterzusausen, „das geht nämlich zu schnell“. Julia dagegen antwortet auf die Frage, ob sie keine Angst habe, zu stürzen und sich zu verletzen, sie sei „aus Gummi“.

Die dargestellten Fallausschnitte veranschaulichen für die Region rund um die Stadt Siegen: Freie Zeit ist noch immer sehr gerne und oftmals am liebsten Zeit im Freien. Auch angesichts von Kinderzimmern, die mit Spielzeug überaus reichlich ausgestattet sind und einer blühenden Landschaft neuer Medien verschwindet es nicht aus der Welt der Kinder – das ‚Draußenspiel‘. Die Fälle illustrieren auf diese Weise einen der zentralen Befunde meiner Untersuchung: Obwohl sehr viele neue Aktivitäten, Gegenstände und Inhalte in die Freizeitwelten der Kinder eindringen, haben sie ‚klassische‘ Betätigungsfelder nicht vollständig zurückdrängen können. Und das Spiel im Freien, das freie Spiel, Kreativität und Fantasie, das ‚Handwerk‘, das Basteln, Bauen, Konstruieren und Gestalten und die Liebe zur Natur sind nur einige wenige Beispiele für eine – wenn man diesen verengenden Begriff denn verwenden möchte – ‚Kindheit heute‘, die zuweilen deutlich an die Kindheiten früherer Generationen erinnert.


1 Dieser Beitrag basiert auf den Ergebnissen der ersten qualitativen Querschnittstudie von Fällen aus dem Projekt ‚Lernbiografien im schulischen und außerschulischen Kontext‘ (LISA & KO), 2006 veröffentlicht im Juventa-Verlag unter dem Titel ‚Freizeitwelten von Grundschulkindern‘. Die Untersuchung ‚Freizeitwelten von Grundschulkindern‘ basiert auf 21 Einzelfallstudien. Vorgenommene Quantifizierungen sollen nicht den Anschein der Repräsentativität erwecken, denn Repräsentativität kann nicht Ziel einer Untersuchung sein, die einzelne Kinder, einzelne Kindheiten in den Fokus stellt. Ziel ist es vielmehr, Qualitäten, subjektive Bedeutungen aufzuzeigen.

Verfasser: Carsten Rohlfs

Text ist frei zum Wiederabdruck

 

Ansprechpartner

Dr. Carsten Rohlfs
Universität Bremen
Telefon: +49 421 218 2015
crohlfs@uni-bremen.de
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