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„Matilda“ oder die Unfähigkeit, mit Pluralismus zu leben

In Russland erlebt die Orthodoxie eine neue Blüte / Ein Gespräch mit dem Ost- und Südosteuropahistoriker Ludwig Steindorff

Wenn ein Historienfilm Anlass zu massiven Protesten und Angst vor Anschlägen gibt, lohnt es sich, genauer hinzuschauen. So im Fall „Matilda“. Der Film von Regisseur Alexej Utschitel mit Hauptdarsteller Lars Eidinger sorgte für Schlagzeilen weit über einschlägige Kritiken hinaus. Beschrieben wird die Lovestory des letzten russischen Zaren Nikolaus II. mit der polnischen Tänzerin Matilda Kschessinskaja. Über die Hintergründe des Protests sowie damit einhergehende Entwicklungen in Russland gibt der Ost- und Südosteuropahistoriker Prof. Dr. Ludwig Steindorff im Interview Auskunft. Steindorff war jetzt zu Gast bei Forum Siegen. Sein Thema lautete „Gesellschaft – Kirche – Staat im Russland der jüngsten Zeit“.

Frage: Prof. Steindorff, was sagt der Protest gegen den Historienfilm „Matilda“ über die aktuelle russische Gesellschaft aus?

Steindorff: Der Protest sagt etwas über die Befindlichkeit eines Teils der russischen Gesellschaft aus. Medienwirksamste Sprecherin dieser Bewegung ist die Parlamentsabgeordnete Natalja Poklonskaja. Warum genau sie gegen den Film agiert, da mag es Gründe in ihrer Biographie geben. Auf jeden Fall geht es ihr um mehr als einfach ihre Karriere. Auch wenn in Russland weite Regionen und Bevölkerungsgruppen völlig kirchenfern und ohne religiöse Sozialisation bleiben, ist doch im vergangenen Vierteljahrhundert die orthodoxe traditionelle Religiosität aufgeblüht. Fundamentalistische Gruppen wollen nun: Das Bild vom im ganzen Leben frommen, guten Herrscher, der später durch die Bolschewiki den Märtyrertod erlitt, darf nicht beschädigt werden. Für Beobachter in Deutschland wie auch für große Teile der Gesellschaft in Russland selbst wirkt die radikale Ablehnung dieser ,Schmonzette‘ befremdend. Aber letztlich ist der Protest nur ein extremer Ausschlag des Trends, der in den neunziger Jahren begonnen und seinen Höhepunkt in der Heiligsprechung der Zarenfamilie im Jahr 2000 gefunden hat. Die Orthodoxe Kirche pflegt seit dem Zerfall der Sowjetmacht planvoll den Kult um die „Neuen Märtyer“, um Gläubige, die unter der Sowjetmacht gelitten haben. Die Kanonisierung von Opfern des Kommunismus spielt im Übrigen auch in katholisch geprägten Ländern wie Polen oder Kroatien eine wichtige Rolle. Und allgemein hat die Schaffung neuer Heiligenkulte als Teil religiöser Praxis in katholischen wie orthodoxen Ländern während der letzten Jahrzehnte eine Renaissance erlebt.

Frage: Die Orthodoxe Kirche hatte in der Sowjetunion einen schweren Stand. Welche Rolle spielt sie heute?

Steindorff: Die Wiederherstellung der in der Sowjetzeit so schwer beschädigten Sakrallandschaft bildet ein Stück Geschichtsbewältigung, sie wirkt wie eine Art kollektiver Buße. Hier fügen sich auch die Kanonisierungen ein. Hinter der Formel der Trennung der Kirche vom Staat hat sich nach den Worten des Staatsrechtlers Otto Luchterhandt in der Sowjetzeit faktisch eine „feindliche Staatskirchenhoheit“ verborgen. Jetzt ist an deren Stelle, wie vor der Revolution, ein klar wohlwollendes Verhalten getreten, auch wenn förmlich das Trennungsgebot wie ähnlich in westlichen Staaten gilt. Für den Außenstehenden ist es durchaus faszinierend zu beobachten und mitzuerleben, wie die Kirche in all ihrer Traditionalität wieder einen Platz in der Gesellschaft gewonnen hat und wie sie vor allem auf Ritus und auf Ansprechen der Sinne abhebt. Doch bleibt die Frage, wie sie zugleich Antworten in einer modernen Sprache auf Fragen unserer Zeit findet.

Frage: Wie hält es Präsident Wladimir Putin mit der Religion?

Steindorff: Schon Gorbatschow ist im Zusammenhang der Tausendjahrfeier der Christianisierung der Rus‘ 1988 auf die Orthodoxe Kirche zugegangen, und Jelzin hat ihr offen sein Wohlwollen gezeigt. Für Putin sind Momente der Nähe zur Kirche nun selbstverständlich geworden. Und wie im Falle von Frau Poklonskaja würde ich dahinter nicht nur Taktik und politisches Interesse sehen. Putin lässt sich vom liturgischen Geschehen faszinieren. Ob doch verheimlichte Kindheitserinnerungen mitwirken? Denn eine orthodoxe Restsozialisation, angefangen vom Wissen um die Fastenzeiten und vom Pflegen der Fastenrezepte, ist ja vielfach in den Familien weitergereicht worden. Auch in der Sowjetzeit war es üblich, Kerzen zu kaufen oder die Namen von verstorbenen und lebenden Angehörigen aufzuschreiben und einen bestimmten kleinen Betrag zu bezahlen, damit dieser in der Fürbitte namentlich gedacht würde. Die weniger auf das Dogma als auf Riten ausgerichtete Restsozialisation mag das schnelle Wiederaufblühen orthodoxer Kirchlichkeit mitbegünstigt haben. Umgekehrt erweist es sich in den protestantisch geprägten neuen Bundesländern wie auch in Estland und Lettland als viel schwieriger, die ihrem Wesen nach relativ nüchtern-rationale Kirchlichkeit wiederzubeleben, nachdem das religiöse Wissen einmal verloren gegangen ist. Für Angehörige der politischen und wirtschaftlichen Elite Russlands gehört es heute zum guten Ton, als Stifter aufzutreten – den Bau und die Renovierung von Klöstern und Kirchen zu unterstützen. Es ist zum einen – wie das säkulare Sponsoring – eine Frage des Prestiges, doch zum anderen mag vielfach auch die religiöse Deutung der Stiftung mitanklingen: das Aufwiegen von Schuld, angefangen von dubiosen Formen der Bereicherung, durch fromme Gaben.

Frage: Der russische Staat gibt in der Sowjetzeit enteignete Klöster und Kirchen samt großer Immobilienwerte zurück. Was steckt hinter dieser staatlichen Begünstigung?

Steindorff: Über das Anliegen der Wiedergutmachung hinaus geht es um die finanzielle Absicherung der Kirche in einem Land, das ja keine Kirchensteuern kennt. Zudem gilt es, die Kirche als Verbündeten für das weltanschauliche Anliegen eines konservativen Wertesystems zu gewinnen und zu behalten. Die orthodoxe Tradition steht für den Anspruch auf Harmonie, im Verhältnis von Staat und Kirche wie auch als Lebensgrundsatz allgemein. Das ist Vladimir Putin ganz wichtig. Deshalb hat er auch ein distanziertes Verhältnis zur Russischen Revolution 1917. Er kritisiert den gesellschaftlichen Dissens, der zum Bürgerkrieg führte, und fordert, die Erinnerung an die Revolution dürfe zu keinen neuen Spaltungen der Gesellschaft führen. Im Übrigen ist nicht nur das Verhältnis zwischen orthodoxer Kirchenführung und Staat auf gegenseitigem Verständnis aufgebaut, dasselbe gilt auch für die offiziellen Vertreter des Islam. Allgemein können die traditionellen Religionsgemeinschaften – über viele bürokratische Hürden hinweg – ungehindert wirken, hingegen junge „Sekten“ sind chronisch verdächtig. Mit dem westlichen pluralistischen Gesellschaftmodell, in dem Foren zum Aushandeln von auch kontroversen Interessen institutionalisiert sind, kann Putin wenig anfangen. Insofern stehen die Reaktionen auf den Film „Matilda“ für ein großes Dilemma der russischen Gesellschaft – das nur mühsame Leben-Können mit Pluralismus. Alle sollen, wie schon in der Sowjetzeit, in die große Harmonie eingebunden sein. Wer sich nicht einpasst, oppositionelle Töne anschlägt, wird schnell marginalisiert und kriminalisiert. Aber wir sollten auch nicht übersehen: Im Vergleich zu früher gibt es im gegenwärtigen Russland mehr Möglichkeiten für individuelle Lebensentwürfe, bestehen auf der lokalen Ebene Freiräume für zivilgesellschaftliches Engagement.

Frage: Staatlich verordnete Harmonie – funktioniert das?

Steindorff: Das Hässliche, das, was die Harmonie stört, wird in Putins Russland an den Rand gedrängt, Das zeigt sich deutlich im offiziell gepflegten Geschichtsbild, das Zarenzeit, Sowjetära und Gegenwart in eine harmonisch-heroische Erzählung zusammengeführt. Für die Glorifizierung des radikalen Bruches durch die Oktoberrevolution 1917 ist hier kein Platz mehr. So wird ja auch nicht mehr der 7. November, der Jahrestag der Machtergreifung der Bolschewiki, als Feiertag begangen, sondern der 4. November, der sich auf die Befreiung Moskaus von der polnischen Besatzung im Jahr 1612 bezieht und „Tag der nationalen Einheit“ heißt.

Frage: So wirklich harmonisch wirkt Putins Politik nicht. Wie sollte der Westen damit umgehen?

Steindorff: Putin an sich gibt eigentlich keine Rätsel auf. Er agiert geradlinig in der Politik, er ist kein Demagoge, sein Auftreten wirkt eher bedächtig. Dabei lehnt er alles ab, was ihm als Bevormundung durch den „Westen“ erscheint. Eigentlich müsste man von den einzelnen Akteuren sprechen: den Nachbarstaaten, der EU, der NATO … Jedenfalls sind Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, Gewaltvermeidung, Sicherung der Freiheitsrechte und die Wahrung des internationalen Rechtes Prämissen, die auch für Russland zu gelten haben. Kurzfristig sehe ich wenig Chancen für eine Entspannung in den Beziehungen, mittelfristig vielleicht schon. Der Westen musste auf die russische Intervention in der Ukraine 2014 reagieren, allerdings wirken die inzwischen gegenseitigen Sanktionen eher wie symbolische Gesten, ohne politisch etwas zu bewirken. Leider sind aus der aktuellen Situation heraus auch traditionelle antirussische Ressentiments wiedererwacht. Fest steht aber: Was die Ukraine angeht, müssen die ersten Schritte zur Lösung des Konfliktes von Russland ausgehen. Aber über alle derzeitigen Schwierigkeiten hinweg gilt für mich: Russland gehört zu Europa! Schon deshalb sollten möglichst viele Formen der Kommunikation aufrechterhalten werden. Und es ist gut, dass dies zum Beispiel im Wissenschaftsbereich durchaus gelingt.

Zur Person: Prof. Dr. Ludwig Steindorff studierte Geschichte, Slavistik und Germanistik in Heidelberg und Zagreb. 1981 promovierte er in Heidelberg. 1990 habilitierte er sich an der Universität Münster. Neben seinen Forschungsgebieten zur Geschichte Altrusslands, zur mittelalterlichen Stadtgeschichte und zu Nation und Konfession in Südosteuropa bearbeitete von 1997 bis 2000 in Münster das DFG-Projekt „Bolschewistische Kirchenpolitik“. Steindorff war Gastdozent in Zagreb und Budapest. Von 2000 bis 2017 lehrte er als Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seit 2009 ist er Leiter der Schleswig-Holsteinischen Universitäts-Gesellschaft. Das Interview führte Katja Knoche, Leiterin der Stabsstelle Wissenschaft in der Stadt der Universität Siegen