Das Spiel mit der Wahrnehmung
Die zeitgenössische Kunst schaut auf die Sammlung
Nekes.
Eine Ausstellungskritik von Mariella Gabriel und Julia
Jochem
Steuern wir unseren Blick selbstständig, oder wird er
fremdgesteuert? Was wäre verantwortlich für eine
Fremdbestimmung, die Medien oder unsere Kultur? Die Erfindung
der Zentralperspektive, die Raum auf einer zweidimensionalen
Ebene vortäuscht, bestimmt seit dem 15. Jahrhundert die
europäische Bildgeschichte. Um perspektivisch exakt zeichnen zu
können, bedienten sich die Künstler verschiedener
Zeichenhilfen. So benutzte etwa Albrecht Dürer (1471-1528)
einen Holzrahmen mit einem Netz aus dunklen Fäden, durch das er
das Motiv auf die Zeichenfläche übertrug: Die definierte
Richtung des Blicks wurde zu einem Bestandteil einer
Darstellungsmaschine, die die Objektivität des perspektivischen
Sehens gewährleistet.
Dass diese Vorgabe jedoch auch hinterfragt und durchbrochen
werden kann, zeigt die Entwicklung von Blickmaschinen. Sie
beeinflussen, bannen, verlocken und täuschen das
Betrachterauge: Wundertrommel, Kaleidoskop, Anamorphose,
Perspektivtheater, Laterna Magica oder Camera Obscura, um nur
einige der Objekte zu nennen. Manche dieser Erfindungen gehören
bis heute zu den optischen Spielzeugen, doch gewinnen sie an
Aktualität vor allem dadurch, dass sie einerseits in die lange
Vorgeschichte heutiger Bildmaschinen gehören und dass zugleich
die Motivation vieler zeitgenössischer Künstler von dem Ziel
geleitet ist, die aktuelle Bildproduktion und heutige Sehweise
zu hinterfragen und den Prozess der Bilderzeugung sichtbar zu
machen.
Diesen Zusammenhang greift das Museum für Gegenwartskunst in
Siegen mit seiner Ausstellung „Blickmaschinen oder wie Bilder
entstehen“ auf. Ausgestellt werden zu diesem Thema 200 Objekte
der Sammlung des Filmemachers Werner Nekes, der seit den 1970er
Jahren über 30.000 vorkinematografische Objekte
zusammengetragen hat. Konfrontiert werden die Besucher sowohl
mit Nekes historischen Objekten, als auch mit Werken
zeitgenössischer Künstler wie William Kentridge, Kara Walker,
Mischa Kuball oder Sigmar Polke. Sie haben sich von den
historischen Blickmaschinen inspirieren lassen und vermitteln
einen aktuellen Umgang mit den Medien der Vorkinematografie.
Diese Symbiose historisiert die Gegenwartskunst und
aktualisiert zugleich die historischen Objekte, verleiht der
Ausstellung somit Lebendigkeit und erweckt in den Besuchern die
Lust am Schauen.
Das Kuratorenteam, bestehend aus dem Sammler Werner Nekes, Eva
Schmidt (Direktorin Museum für Gegenwartskunst Siegen) und Nike
Bätzner (Hochschule für Kunst und Design Halle) entschied sich
gegen eine chronologische Ordnung der Exponate. Vielmehr werden
thematische Schwerpunkte gesetzt, Ausstellungsstücke, die einen
bestimmten Blickwinkel evozieren, in einen gemeinsamen Kontext
gestellt. Historische und zeitgenössische Werke werden sowohl
räumlich zusammen gebracht als auch getrennt.
- Ulrike Grossarth, Prepared Table, 1988. Die Arbeit bezieht sich auf die erste, 1584 veröffentlichte Abbildung einer dunklen Kammer als Camera Obscura, die dazu diente eine Sonnenfinsternis betrachten zu können. Courtesy Ulrike Grossarth. Foto: Julia Jochem
Die ersten beiden Ausstellungsräume zeichnen sich durch
einen klaren Bezug zueinander aus. Dies erleichtert den
Besuchern den Einstieg in das Thema der Ausstellung. Während im
ersten Raum zunächst historische Apparate verschiedener
historischer Epochen in Vitrinen ausgestellt werden, stoßen die
Besucher im zweiten Raum, in direktem Rekurs, auf die
zeitgenössische Arbeit von Ulrike Grossarth. Ihr Werk spielt
auf verschiedene historische Apparate an, greift aber in erster
Linie das Funktionsprinzip der Camera Obscura auf.
Im weiteren Verlauf der Ausstellung treffen auch immer wieder
Werke aufeinander, die in ihrer Gestalt grundverschieden sind.
In einem Ausstellungsraum stoßen Guckkästen aus dem 18. und 19.
Jahrhundert auf die mehrschichtig und transparent gestalteten
Arbeiten von Sigmar Polke: Ein fokussierter Blick fällt auf das
Innere des Guckkastens, allein das Auge bleibt mobil und
wechselt zwischen den verschiedenen Dimensionen, die sich den
Betrachtern im Kasten auffächern. Die Konzentration auf das,
was sich im Inneren des Guckkastens befindet, führt beim
Betrachter dazu, dass er sich seines Körperbewusstseins
‚entledigt‘, ähnlich wie wir es beim Fernsehschauen kennen.
- Sigmar Polke, Laterna Magica, 1988-1996, verschiedene Lacke auf Polyestergewebe, beidseitig bemalt, 16 Teile. Privatsammlung. Foto: Julia Jochem
Widmet man sich der Arbeit Polkes (Abb. 2), wird dieser
Zustand schon im nächsten Moment aufgehoben. Um sein Werk zu
erfassen, muss der Besucher um die Stellwände herum gehen und
trifft auf Bilder, in denen die Hierarchie von Vorder- und
Hintergrund durch einen transparenten Farbauftrag aufgebrochen
wird.
Einen „mobilen Betrachter“ verlangen auch die Riefel- und
Lamellenbilder. Letztere sind vor allem Produkte des 19.
Jahrhunderts. Der Wunsch, beispielsweise die Dreieinigkeit
Gottes darzustellen, führte zu ihrer Konstruktion. Sie
verbinden drei Ansichten in einem Bild, die sich in
Abhängigkeit von wechselndem Standpunkt und
Betrachtungsrichtung als unterschiedliche und doch aufeinander
bezogene Motive erkennen lassen. Anders ist es bei den
Drehscheiben von Marcel Duchamp, hier geht die Bewegung vom
Objekt aus – der fokussierte Blick des Betrachters trifft auf
das kinetische Objekt, welches über die Drehung seine räumliche
Wirkung entfaltet.
Optische Täuschungen
- Sue Webster & Tim Noble, Spinning Heads, 2005. Die bronzenen Kopfbüsten in der Form des Rundumprofils geben erst im Schatten die Physiognomie des Künstlerpaares preis. Courtesy Tim Noble & Sue Webster und Gagosian Gallery, London. Foto: Julia Jochem
Schon beim Eintritt in die Ausstellung wird die
Sehgewohnheit des Betrachters durcheinander gebracht. Ein Blick
in den Spiegel zeigt nicht das gewohnte Abbild seiner selbst,
sondern eine Verzerrung des Körpers. Die Irritation bleibt
bestehen, betritt man beispielsweise den Raum, der unter das
Motto ‚Die Welt will betrogen sein‘ gestellt ist. Hier wird in
erster Linie die illusorische Wirkung von Licht und Schatten
thematisiert. Dabei kommt es zu einer Umkehrung der
Wahrnehmungsgewohnheit, wenn plötzlich ‚im Schatten die
Wahrheit liegt‘ und das Licht nicht zur Erkenntnis, sondern zu
einer Illusion von Wirklichkeit führt.
Den Effekt der Verwirrung erzielt auch die Anamorphose, eine
verzerrte Darstellung der Zentralperspektive, die erst durch
den Blick in einen im Bild plazierten Spiegel zurechtgerückt
wird.
Ein weiteres Mittel, um Verwirrung auszulösen, ist der Spiegel.
Markus Raetz zeigt in seiner Arbeit ‚Hasenspiegel‘ die
Gegenüberstellung von einem Spiegel und einem Hasen, dessen
Umriss aus Draht geformt ist. In Anspielung auf Joseph Beuys
erscheint dieser in der Reflektion als Mann mit Hut. Der
Spiegel wird hier in seiner abbildenden Funktion negiert und
als humoriges Erkenntnisinstrument verwendet.
- Regina Silveira, The Saints Paradox, 1994. Courtesy Regina Silveira and MAC/USP Collection Museum of Contemporary Art/University of Sao Paulo. Foto: Julia Jochem
Schafft solcher Rekurs auf Beuys eine Verbindung zwischen
der Spieglung und dem Gespiegelten, gilt für das Thaumatrop die
Bewegung als Mittler zwischen zwei Motiven. Auf dem Prinzip der
Persistenz basierend, ist es durch Bewegung möglich, die
Vorder- und Rückseite eines Bildes zu einer Gestalt
verschmelzen zu lassen. Am eindrucksvollsten, schon aufgrund
seiner räumlichen Entfaltung, präsentiert sich das Phänomen der
Täuschung im Werk von Regina Silveira. Auf einem kleinen
Holzsockel ist ganz unscheinbar die Figur des Apostels Jacobus
auf einem Pferd plaziert. Er steht in unverhältnismäßiger
Relation zu seinem vermeintlichen Schatten, der sich in
gewaltigem Ausmaß in verzerrter Form hinter ihm entfaltet. Bei
genauer Betrachtung entpuppt sich der Schatten jedoch als
metaphorisch aufgeladen. Nicht die Heiligenfigur wird wieder
gegeben, sondern der Schutzpatron der brasilianischen Armee,
Fürst von Caxias – eine Verschränkung, die die Verwobenheit von
Religion, Macht und Militär in Lateinamerika symbolisiert.
Darüber hinaus evoziert die Verbindung der Figur mit einem
fremden Schatten ein Bild von An-und Abwesenheit. Beide sind
faktisch vorhanden und können betrachtet werden, gleichzeitig
kommt es jedoch zu einer Unsicherheit in der Wahrnehmung, fehlt
doch dem Schatten sein Ursprungsobjekt, wie umgekehrt der
Heilige Jacobus seinen Schatten vermisst.
Der Besucher wird gefangen genommen von dieser Atmosphäre
des Hinterfragens und Entdeckens. Die Lust am Schauen wird in
der Ausstellung stets neu geweckt und erhält durch einzelne
Exponate eine neue Dimension. Dies kann im Fall der
interaktiven stereoskopischen Raumprojektion von Zoltán
Szegedy-Maszák und Márton Fernezelyi wörtlich genommen werden.
Mittels einer Art Fernbedienung und einer speziellen Brille
kann sich der Besucher durch den Raum bewegen und macht dabei
die Erfahrung einer vierten Dimension, die aus dem Gefühl
entspringt, Teil des bewegten Bildes zu sein. Es entsteht zudem
ein dynamisches Bild, das sich in Abhängigkeit der Bewegung des
Betrachters nähert oder entfernt.
Voyeuristischer Blick
Das Phänomen Voyeurismus ist alt, der Begriff jüngeren Datums.
Er leitet sich ab vom französischen Begriff „voir“ (sehen) und
steht für die heimliche Lust am Schauen. In Bezug auf die
historischen Apparate wurde die Lust am Schauen ab dem 17.
Jahrhundert durch umherreisende Laternenkünstler befriedigt,
die, mit Hilfe der Laterna Magica und dem Guckkasten, bei
öffentlichen Vorführungen den Wunsch nach Information und
Unterhaltung nachkamen. Während sich erstere vor allem durch
die Projektion furchteinflößender Bilder auszeichnete, welche
das Publikum nicht selten in einen Schockzustand versetzen
konnten, war es der Informationsgehalt, durch den der
Guckkasten zu einem beliebten Medium avancierte. Er erwies sich
als Tor zur Welt, denn ein Blick durch die beiden Linsen
offenbarte dem Betrachter Darstellungen von Naturkatastrophen,
fernen Ländern oder erotischen Handlungen.
- Pipilotti Rist, Deine Raumkapsel, 2006. Courtesy Pipilotti Rist und Hauser & Wirth, Zürich. Foto: Julia Jochem
Bildveränderung und Bildbewegung entfalteten die Wahrheit
für die Dimension der Zeit und bereicherten die statischen
Bilder mit neuen Erlebnisqualitäten. Im Museum kann der
Betrachter durch Blicke in historische Guckkästen genau dieses
Erlebnis nachempfinden. Dem Künstler Roland Stratmann gelingt
es, mit seiner Installation Geschichte mit Aktualität zu
bereichern. Seine von der Decke hängenden, an zwei Seiten mit
Löchern versehenen Boxen erweisen sich beim Hineinschauen als
Camera Obscura. Von der eigenen Positionierung hängt es ab, was
oder wen man auf dem Kopf sieht. Der Titel‚ ‚Die Welt im
Kasten‘ kann sowohl als Komprimierung von Welt verstanden
werden, birgt zugleich aber auch eine Anspielung auf
Reality-Formate, in denen wir als Zuschauer die Wirklichkeit
erkennen wollen.
Durch die Installation der Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist
wird der Museumsbesucher in eine voyeuristische Machtposition
versetzt. ‚Deine Raumkapsel‘ – die kleine, hüfthohe
Transportkiste gewährt nur einen Einblick von oben – ein
komplett eingerichtetes Jugendzimmer in Miniaturform offenbart
sich dem voyeuristischen Blick.
Verstärkt wird der Aspekt des Voyeurismus in der Arbeit von
Miguel Rothschild. 67 Daumenkinos erzählen in chronologischer
Reihenfolge die Geschichte der ‚Familie Mustermann‘. Hauptfigur
ist ein alleinstehender Künstler, der diese Familie von seinem
Fenster aus beobachtet. Doch auch der ‚Zuschauer‘ des
Daumenkinos erfährt sich als Voyeur, da er für die Zeit des
Blätterns am Schicksal des Künstlers teilnimmt.
Doch auch als Voyeur kann man sich seiner Machtposition
nicht sicher sein. So lädt etwa der an den historischen Apparat
des Guckkastens angelehnte Spiegelschrank von Mischa Kuball den
Betrachter ein, durch zwei Gucklöcher ins Innere zu schauen.
Dabei gilt es zunächst eine Hemmung zu überwinden, wird man
sich seiner Neugier doch durch die Reflektion im Spiegel
bewusst – der Voyeur entlarvt sich selbst als solcher.
Die Antizipation eines geheimen Einblicks mündet in einen
Moment ähnlich der Suspense, denn der Blick kommt nicht, wie
bei seinen historischen Vorgängern, im Inneren des Schranks zur
Ruhe, sondern wird weiter nach außen gelenkt und fällt auf die
Projektion einer belebten Straße. Die Verarbeitung historischer
Konzepte und Apparate endet nicht in einer einfachen
Neuauflage, sondern unterliegt der Modifikation.
Die Überprüfung unserer Wahrnehmungsgewohnheiten, das
Ineinanderfließen von Realität und Fiktion, sind verbindende
Elemente der Jahrhunderte, die den Betrachtern überall in der
Ausstellung begegnen. Sevilla und Budapest werden die nächsten
Etappen auf der Reise der „Blickmaschinen“ sein. Wenn
historische Guckkästen aus fernen Ländern berichten konnten, so
wird das vielleicht schon bald der ganzen Ausstellung möglich
sein.
(im Original erschienen unter "Blickmaschinen" im Vol. 16 (2009), No.2)
Blickmaschinen oder wie Bilder entstehen. Die
zeitgenössische Kunst schaut auf die Sammlung Werner Nekes (23.
November 2008 bis 10. Mai 2009) im Museum für
Gegenwartskunst in Siegen.
Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog
erschienen:
Blickmaschinen oder wie die Bilder entstehen. Die
zeitgenössische Kunst schaut auf die Sammlung Nekes.
Herausgegeben von Nike Bätzner, Werner Nekes und Eva Schmidt.
Dumont Verlag, 2008.
Weiterführende Informationen auf www.blickmaschinen.de