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Der Bericht über die Konferenz

Das Projekt "Kolonisation und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitik in europäischer Perspektive" (CoDec), welches im Rahmen des Life Long Learning Programme/Comenius-CMP der Europäischen Union durchgeführt wird, untersucht zusammen mit Partnern aus Belgien, Deutschland, Estland, Großbritannien, Österreich, Polen und der Schweiz koloniale Vergangenheiten und Dekolonisierungsprozesse in verschiedenen europäischen Staaten in vergleichender Perspektive.1 "Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Frage, wie die Thematik in den beteiligten Staaten im Geschichtsunterricht vermittelt wird und welche Bedeutung die koloniale Vergangenheit für die nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken gegenwärtig hat."2

Ziel des Projektes ist laut der Projektwebsite, "ausgehend von der Erfahrung, dass die koloniale Vergangenheit sowohl ein verbindendes als auch ein trennendes Moment europäischer Geschichte ist, zu diskutieren, inwieweit die nationalen Geschichtskulturen im Kontext von Kolonialismus und Dekolonisierungsprozessen in einen kollektiven europäischen Rahmen eingebunden werden könnten." Zu überlegen sei also, "ob trotz der vielfältigen trennenden historischen Entwicklungen und Erinnerungen Europa eine Erinnerungsgemeinschaft im Hinblick auf die koloniale Vergangenheit, bzw. ob die koloniale Vergangenheit ein europäischer 'Erinnerungsort' sein könnte." Konkrete angestrebte Ergebnisse des Projektes sind gemeinsam mit den Kooperationspartnern entwickelte Module für den Geschichtsunterricht in Europa.3

Die internationale Konferenz mit dem Titel "Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitik in europäischer Perspektive", die vom 15. bis 18. Oktober 2014 im Rahmen des Projekts in Siegen stattfand, war dazu ein erster Schritt. Expertinnen und Experten für Kolonialismus- und Dekolonisationsgeschichte aus den Partnerländern führten in aktuelle Forschungsfragen ein und stellten dazu Quellen vor. In Workshops wurden darauf aufbauend Unterrichtsvorschläge präsentiert und diskutiert. Sie werden als Module ausgearbeitet und in Print- und Onlinefassungen publiziert. Eine europäische Perspektive, die bereits durch die Auswahl der Quellen eröffnet werden sollte, wurde in den national gemischten Arbeitsgruppen sehr konkret und bot zudem Chancen für einen "regard croisé" und eine "histoire croisée" der kolonialen Vergangenheiten.4 Die Modulvorschläge lassen sich dabei den zentralen Fragestellungen und Schwerpunkten zuordnen: "Overseas Colonialism", "Inner-European Colonialism", "Decolonisation" und "Memory Politics".

Nach Grußworten von Angela Schwarz (Siegen) von Seiten der Universität Siegen und einführenden Worten zu Inhalt und Konzept der Tagung von BÄRBEL KUHN und UTA FENSKE (beide Siegen), stellte IDESBALD GODDEERIS (Leuven) in einer keynote lecture eine Vielzahl von Forschungsansätzen und Begriffen rund um das Thema Kolonialismus als eine "plethora of definitions and interpretations" in den Mittelpunkt. Auf diese Weise schuf der Referent den Rahmen für die unterschiedlichen Perspektiven auf die untersuchten Phänomene, von Kolonialismus und Dekolonisierung wie sie in den folgenden Tagen vorgestellt wurden.

Zunächst widmeten sich SARA KARLY KEHOE und BEN SHEPHERD (beide Glasgow) zwei Themenbereichen, dem transatlantischen Sklavenhandel und der britischen Appeasement-Politik, die sie den Fragestellungen zum überseeischen Kolonialismus und zur Dekolonisation zuordneten. Dabei wurde die britische Appeasement-Politik aus transnationaler Perspektive beleuchtet und in den Prozess der Dekolonisierung ehemalig zum Empire gehöriger Staaten eingeordnet. Diese seien zum Teil zwar bereit gewesen gegen den zunehmend expansiven Kurs Hitlers vorzugehen, sicherten Großbritannien aber keine uneingeschränkte Unterstützung zu, sondern ließen verstärkt eigene Interessen deutlich werden. Auf diese Weise erscheint die britische Appeasement-Politik auch als Produkt von Autonomie- und Selbstbestimmungsbestrebungen seitens der ehemaligen Kolonien des Empires, die zu einem moderaten Kurs der britischen Regierung beitrugen.

BERNHARD SCHÄR (Aarau) beschäftigte sich unter dem Titel "Slavery, Genocide and Racism. (Post-)Colonial Entanglements of a Swiss kind" mit der Schweizer Perspektive auf Kolonialismus und Dekolonisation, die in mehrfacher Hinsicht interessant erscheint: Zwar war die Schweiz nie selbst im Besitz von Kolonien, dennoch war das Land Nutznießer vielfältiger kolonialer Verflechtungen. In der Schweizer Forschung zeichnet sich daher seit einiger Zeit ein vermehrtes Interesse an den Phänomenen Kolonialismus und Dekolonisation ab. Hauptsächlich konzentrieren sich die bisher erschienenen Arbeiten einerseits auf wirtschaftliche Verflechtungen der Schweiz in koloniale Handelsbeziehungen. Insbesondere wurde herausgearbeitet, dass Schweizer Handelsgesellschaften von kolonialen Infrastrukturen profitierten und darüber hinaus sogar intensiv in den transatlantischen Sklavenhandel investierten. Diese zunehmend kritischen Betrachtungen haben dazu geführt, dass der Topos von der Schweizer "Nicht-Einbindung" in Prozesse der Kolonisierung aufgebrochen und die vielfältigen kolonialen Verstrickungen des Landes zunehmend aufgearbeitet werden. Zwei weitere, von Schär ausgeführte Aspekte erscheinen hier interessant. Der Referent erweiterte die Betrachtung kolonialer Verflechtungen auf den Bereich der Entwicklungshilfe, womit ein zweiter Gegenstand aktueller Schweizer Forschung benannt ist. Seit 1961 leistet die Schweiz bilaterale Entwicklungszusammenarbeit, seit 1963 ist sie in diesem Zusammenhang in Ruanda aktiv, während - vor dieser offiziellen Form der Entwicklungszusammenarbeit - die Präsenz katholischer Schweizer Missionare eine weitaus längere Tradition aufweist.5 Unter Verweis auf die hauptsächliche Ausrichtung der Schweizer Aktivitäten auf die ruandische Mehrheitsbevölkerung der Hutu und die Anwendung europäischer Wissenssysteme und Verwaltungsstrukturen auf Ruanda wurde die Frage nach der Mitverantwortung der Schweiz für die Gewalt zwischen Hutu und Tutsi, die sich schließlich auf drastische Weise im Völkermord von 1994 entlud, aufgeworfen. Drittens stellte Schär eine Reihe von Quellen vor, die auf die Präsenz kolonialer Symbole und Bilder in der Schweizer Öffentlichkeit verweisen. Zu den wohl bekanntesten Beispielen gehören die Globi-Comics, die der Referent auf ihre kolonialen Semantiken hin befragte.

Den zweiten Konferenztag eröffnete ein Vortrag von IDESBALD GODDEERIS (Leuven) zur belgischen Kolonialgeschichte. Der Referent beleuchtete zunächst den Umstand, dass in Belgien verschiedene Perspektiven auf Kolonialismus und Dekolonisation vorherrschen, was insbesondere ein Vergleich zwischen Flandern und der französischsprachigen community des Landes zeigt. Insgesamt lasse sich jedoch eine Verschiebung hin zu einer New Imperial History erkennen, die sich auf die wechselseitigen Beziehungen zwischen Metropole und Peripherie fokussiert; koloniale Bildungssysteme, Mission sowie Formen der Repräsentation werden verstärkt einer kritischen Aufarbeitung unterzogen. Dennoch steht diese Entwicklung noch am Anfang und es könne festgehalten werden, dass die belgische Forschung nicht allzu kritisch mit der kolonialen Vergangenheit des Landes umgehe, was sich vor allem darin äußere, dass beispielsweise eine Vielzahl der Publikationen zum Kongo oder zu Leopold II. eher einen nostalgischen denn einen historisch-kritischen Charakter aufweisen. Kritische Auseinandersetzungen mit der kolonialen Vergangenheit Belgiens stammen meist aus der Feder englischer oder amerikanischer Autorinnen und Autoren. Ein weiteres Forschungsfeld stellt die Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur dar, was sich gut an die Präsentation der Schweizer Quellen anschloss. Hierzu wurden mit Straßennamen und Denkmälern Quellen präsentiert, die auf eine öffentliche, geschichtskulturelle Präsenz der kolonialen Vergangenheit schließen lassen und von Schülerinnen und Schülern auf ihre kolonialen Semantiken hin befragt und dekonstruiert werden können. Mit Hip-Hop Songtexten belgisch-kongolesischer Interpreten wurden zudem Quellen mit hohem motivationalen Potential präsentiert, die eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Präsenz (post-)kolonialer Deutungsmuster anregen können.

REINHARD WENDT (Hagen) präsentierte einen interessanten Ansatz, der eine Einordnung der Nutzung importierter Kolonialwaren entlang eines achtstufigen Schemas ermöglicht. Dieses Schema reicht von der ersten Begegnung mit fremden Konsumgütern, über den Import und die Kultivierung dieser bis hin zur Integration der Produkte in den eigenen Lebensstil, wodurch sie identitätsstiftend wirken. Demnach kommt den Dingen eine durchaus aktive Rolle zu, die sie in der Konstruktion von Identitäten einnehmen. Diese Entwicklung verdeutlichte der Referent unter anderem anhand des Beispiels Kaffee: Das zunächst Fremde wird zunehmend Teil des eigenen, europäischen Lebensstils. Allgemein als "europäisch" geltende Objekte und Produkte, die "unsere" Identität zu verkörpern scheinen, können so im Geschichtsunterricht in Hinblick auf ihre "Migrationsbewegungen"6 sowie auf die Rolle, die sie in der Konstruktion von Lebensstilen und Identitäten spielen, hinterfragt und dekonstruiert werden.

Eine weitere Perspektive brachten die Vorträge des dritten Konferenztages in die Diskussion ein. Diese setzten sich mit der in der Osteuropaforschung zunehmend diskutierten Frage auseinander, ob auch innerhalb Europas von einem kolonialen Verhältnis zwischen der westeuropäischen Metropole und der osteuropäischen (Semi-)Peripherie gesprochen werden kann. CLAUDIA KRAFT (Siegen) stellte in ihrem Vortrag heraus, dass eine der großen heuristischen Stärken der postcolonial studies sei, Kolonialismus nicht lediglich als Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehung zu sehen, sondern zugleich auch immer die Wissenssysteme mitzudenken, die diese Beziehungen gestalteten und repräsentierten. Diese doppelte Perspektive scheint ihr für die Beschäftigung mit Osteuropa besonders fruchtbar zu sein, da sich Parallelen zeigten, wenn man auf die Auseinandersetzung der Peripherien mit den Wissen-Macht-Relationen blickt, die kolonial gedachten Abhängigkeitsverhältnissen eigen sind. Dabei erscheine die jeweilige Stellung Osteuropas, Ostmitteleuropas und Südosteuropas problematisch. Man habe es in gewisser Weise mit Semiperipherien zu tun, das heißt mit Regionen, die durchaus - wenn auch marginalisiert und mit Einschränkungen - zum (west-)europäischen/nordatlantischen Zentrum gezählt wurden und werden bzw. sich sehr stark in einer relationalen Beziehung zu diesem Zentrum definier(t)en. Ausgehend von Texten von Nikolaj Trubetzkoy und Dipesh Chakrabarty ging Kraft weiter der Frage nach, ob die Überlegungen dieser Autoren nicht auch auf das Verhältnis zwischen West- und Osteuropas anwendbar seien. Insbesondere Chakrabartys Argument, Europa sei stets ein stiller Bezugspunkt in der Generierung historischen Wissens ("silent referent in historical knowledge")7 kann zum Ausgangspunkt für die Überlegung dienen, dass dieser Bezugspunkt nicht Europa, sondern präziser Westeuropa sein könnte.

Die Perspektive eines "inner-europäischen" Kolonialismus wurde auch in den Vorträgen der estnischen Projektpartner vorgestellt. Die estnische Forschung konzentriert sich dabei stark auf Aspekte wie Militär, Migration und Mission. Diese Ansätze spiegeln sich zum Teil auch in den auf der Konferenz diskutierten Themenkomplexen wider. So widmete sich ANDRES ANDRESEN (Tartu) der lutherischen Mission in Estland und dem Wandel, so seine These "from Colonial Churches to People's Church". HILLAR TOOMISTE (Tartu) brachte einen weiteren Aspekt ein, indem er die Geschichte der 1948 unter strenger Geheimhaltung eröffneten Urananreicherungsanlage in Sillamäe als Form inner-europäischer kolonialer Wirtschafts- und Ausbeutungspolitik diskutierte.

In der polnischen Forschung spielen Kolonialismus und Dekolonisation eine untergeordnete Rolle. Auch Ergebnisse der internationalen Forschung werden kaum rezipiert. PRZEMYSLAW PIOTR DAMSKI (Lódz) verwies in seinem Vortrag auf diesen Umstand und diskutierte unter anderem, ob die präsentierten Ansätze auch auf die politische, ökonomische sowie kulturelle Dominanz des polnischen und polonisierten Adels über die ukrainischen und weißrussischen Bevölkerungen in den polnischen Grenzgebieten, der Kresy, angewandt werden können. Dabei ist eine Perspektive angesprochen, die im Hinblick auf die erläuterte These eines "inner-europäischen Kolonialismus" durchaus interessant erscheint, in der polnischen Forschung und Öffentlichkeit bisher jedoch kaum diskutiert und wenig populär ist.

Die Ergebnisse der Konferenz sollen in einen gedruckten Band mit wissenschaftlichen Einführungen, Quellen und Vorschlägen für den Einsatz im Geschichtsunterricht, sowie in digitale Module münden, die auf der Projekt-Webseite zur grenzüberschreitenden Nutzung im Geschichtsunterricht an europäischen Schulen zur Verfügung gestellt werden.

Die Unterschiedlichkeit der Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand spiegelt die Vielfältigkeit der in den verschiedenen europäischen Partnerländern vorherrschenden Geschichts- und Unterrichtskulturen wider. Die Konferenz hat in diesem Zusammenhang einen wichtigen Beitrag hin zu einer grenzüberschreitenden Diskussion und Reflexion der unterschiedlichen Betrachtungs- und Umgangsweisen mit Kolonialismus und Dekolonisation geleistet. Wenn danach gefragt wird, ob Kolonialismus und Dekolonisation ein europäischer Erinnerungsort sein könnten, muss zugleich anerkannt werden, dass an diese Phänomene je nach nationalen, regionalen und gruppenspezifischen Rahmenbedingungen vielfältige, unterschiedliche, zum Teil konkurrierende Deutungen herangetragen werden. Das Projekt muss diese Vielfalt anerkennen und als Chance nutzen, Jugendliche für das Gewordensein von Ländern und Kulturen und ihres Umgangs mit Kolonialismus und Dekolonisation zu sensibilisieren.

Daniel Groth
Historisches Seminar, Universität Siegen


Anmerkungen:

1 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch die Projektwebsite, http://www.uni-siegen.de/codec-eu/ (01.12.2014), insbesondere die Sektionen "Über das Projekt" und "Konferenz".
2 Über das Projekt: http://www.uni-siegen.de/codec-eu/projekt.html (01.12.2014).
3 Ebd.
4 Zur Konferenz vgl. http://www.uni-siegen.de/codec-eu/konferenz.html (01.12.2014).
5 Vgl. Lukas Zürcher, Die Schweiz in Ruanda. Mission, Entwicklungshilfe und nationale Selbstbestätigung (1900-1975), Zürich 2014.
6 Vgl. Jutta Schumann / Susanne Popp, Die Entwicklung transregionaler Perspektiven im Museum. In: Dies., Bärbel Kuhn / Astrid Windus (Hrsg.), Geschichte erfahren im Museum (Historica et Didactica . Fortbildung Geschichte, Bd. 6), St. Ingbert 2014, S. 109-119, hier insbesondere S. 109f.
7 Dipesh Chakrabarty, Postcoloniality and the Artifice of History: Who speaks for "Indian" Pasts? In: Representations 37 (Winter 1992), S. 1-26, hier S. 2.


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