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Janina Wilksen: Irgendwo – irgendjemand

Reflektiver Text / Prosagedicht

Wir haben so ein Glück, in Deutschland zu leben.
Denn bis vor Kurzem konnten wir einfach überall auf der Welt hin verreisen, öffentliche
Verkehrsmittel nutzen, im Ausland studieren, uns einen neuen Job suchen, wenn wir mit dem
jetzigen nicht zufrieden sind. Wir konnten in Einkaufszentren shoppen, wir konnten unsere
Freunde jederzeit treffen, abends in ein Restaurant essen gehen, in den Clubs tanzen oder in
der Bar ein Bier trinken. Wir hatten es so richtig gut…
Und dann kam das Coronavirus, weshalb alles eingeschränkt wurde. Und nun sind nur noch
die Supermärkte geöffnet, wo es geht, wurden Home-Offices eingerichtet, die Flüge wurden
gestrichen, Hotels und Strände gesperrt.
Die einen sagen, dass die Regierung überzogene Maßnahmen trifft: Ausgangssperren und
Reglementierungen, vermehrte Hygiene.
Sie sagen, es ist nicht schlimmer als Influenza und da wird auch nicht so ein Theater gemacht.
Die Regierung wurde falsch beraten. Wirklich?
Regierungen weltweit nehmen einen immensen wirtschaftlichen Schaden in Kauf und
Millionen von Schulden, weil sie falsche Berater haben?! Ist das euer Ernst?
Fakt ist doch, an dem Virus leiden mittlerweile über 1 Million Menschen weltweit und tausende
sterben daran.
Irgendwo betrauert eine Frau gerade ihren verstorbenen Mann.
Irgendwo hat gerade ihre Mutter ihr Kind verloren.
Irgendwo musste gerade ein Besitzer seinen lang und hart erarbeiteten Betrieb schließen.
Irgendwo weiß ein Familienvater nicht, wie er nächsten Monat seine Frau und 3 Kinder
ernähren oder das Geld für die Miete aufbringen soll.
Irgendwo sitzt eine 80-jährige Frau allein in ihrer Wohnung.
Irgendwo wurde gerade eine notwendige OP für jemanden verschoben, weil die
Krankenhäuser überlastet sind.
Und anstatt die Situation zumindest dafür zu nutzen, um zu erkennen, was für ein geiles Leben
wir haben, beschweren wir uns.
Wir jammern darüber, dass die Regierung überzogene Maßnahmen trifft.
Wir jammern darüber, dass wir kein Klopapier bekommen, um unseren verwöhnten Arsch
abzuwischen (als ob das überlebenswichtig ist).
Wir jammern darüber, dass unsere Urlaubsreise, auf die wir uns gefreut haben, gecancelt wurde.
Wir jammern darüber, dass wir unser Auslandssemester abbrechen mussten.
Wir jammern darüber, dass wir nicht mal shoppen gehen können, um uns unser fünfzigstes T-Shirt zu kaufen.
Wir jammern darüber, dass wir nicht ins Kino gehen können, um die neue Komödie zu gucken.
Wir jammern darüber, dass wir noch zur Arbeitsstelle fahren müssen, und kein Home-Office
machen können.
Wir jammern darüber, wie anstrengend unsere Kinder sind, um die wir uns jetzt den ganzen
Tag kümmern müssen.
Wir jammern darüber, zu Hause bleiben zu müssen, wo unser gemütliches Bett steht, das
Wasser aus der Leitung kommt und wir den ganzen Tag Fernsehen gucken könnten.
Wir jammern darüber, privilegiert zu sein.

Man kann die Maßnahmen für überzogen halten oder nicht, aber Fakt ist doch, den meisten
geht es immer noch viel zu gut.
Irgendwo arbeiten Menschen von früh bis spät in einer Mine, um für einen Hungerlohn
überhaupt die Familie ernähren zu können.
Irgendwo sitzen Menschen, die ihr ganzes Leben noch nie ihr Dorf verlassen haben.
Irgendwo ist eine verzweifelte Frau, die ihr Kind vor ein Militärfahrzeug schubst, weil sie
keine andere Möglichkeit hat, an Geld zu kommen.
Irgendwo läuft ein Kind 10 km weit zum nächsten Brunnen, um Trinkwasser zu holen.
Irgendwo sitzt ein Obdachloser nachts frierend auf dem kalten Asphalt und hofft, dass er genug
Münzen hat, um sich etwas zu essen zu kaufen.
Irgendwo riskiert ein Mädchen ihr Leben, nur um studieren zu dürfen.
Irgendwo wird von Spendengeldern eine Schule gebaut, um Kindern Bildung zu ermöglichen.
Aber weil es nur irgendwo irgendjemand ist, betrifft es uns nicht!
Es betrifft uns nicht – solange, bis wir irgendwo irgendjemand werden.
Und dann ist es plötzlich unser Partner, der nachts nach Luft ringt und wir nicht wissen, ob er
den nächsten Tag noch erlebt.
Dann ist es plötzlich unser Vater, der die Miete nicht mehr zahlen kann.
Dann ist es plötzlich unser Supermarkt, der keine Lebensmittel mehr hat.
Dann sind es plötzlich wir, die jetzt irgendwo irgendjemand sind.
Noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts durften Frauen nicht wählen gehen, oder arbeiten
oder studieren. Es gab keine Flugzeuge für jedermann, um ans andere Ende der Welt zu
fliegen. Und heute gibt es das alles und wir nehmen es als selbstverständlich hin, wir haben vergessen, es wertzuschätzen. Wir haben vergessen, wie gut es uns geht.
In Deutschland leiden Millionen, aber warum eigentlich?
Weil der Tod nicht mehr nah genug ist?!
Weil wir nicht mehr täglich um die existenziellen Dinge kämpfen müssen, um zu überleben?!
Wir sind zu verwöhnt, überschwemmt von Luxus, der für uns schon lange kein Luxus mehr
ist. Umgeben von Freiheiten und Privilegien, die für uns nur allzu selbstverständlich geworden
sind.
Also, warum hören wir nicht auf zu jammern?
Ob die Maßnahmen der Regierung nun übertrieben sind oder nicht, wir können die Situation nur
hinnehmen und so akzeptieren, wie sie gerade ist. Die Pandemie zeigt uns doch, wie gut wir es
eigentlich haben, welche Freiheiten wir eigentlich haben und lehrt uns, wieder die Dinge
wertzuschätzen, die für uns normal und selbstverständlich geworden sind!
Denn letztendlich sind wir doch alle nur irgendwo irgendjemand!
Janina Wilksen hat den Text während des ersten Lockdowns verfasst. Der Schreibprozess hat ihr geholfen, mit dieser ungewöhnlichen Situation umzugehen und ihre Gedanken zu ordnen. Der Text bedeutet für sie die Einsicht, dass die Corona-Pandemie sowie die aktuellen Beschränkungen vorübergehend sind und es den Menschen in Deutschland trotz allem verhältnismäßig gut geht. Ihr ist bewusst, dass es lediglich ihre persönliche Perspektive auf die Situation ist. Aber wenn es noch einer einzigen weiteren Person hilft, diese Krise durchzustehen und sich vielleicht ein kleines bisschen besser dadurch fühlt, hat der Text seinen Zweck erfüllt.