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Gedächtnispsychologische Untersuchungen an epileptischen Patienten: Ein Überblick

Klaus-Martin Klein

E-Mail: klein@psychologie.uni-siegen.de

Inhalt:


 1. Die Untersuchungen von W. PENFIELD

 1.1 Vorgehensweise

Seit den dreißiger Jahren entwickelten PENFIELD und seine Mitarbeiter eine chirurgische Methode, um Patienten mit therapieresistenter fokaler Epilepsie durch Entfernung jenes Gehirnbereiches, von dem die epileptische Aktivität ausging, behandeln zu können. Das Verfahren erwies sich in der Folge meist als erfolgreich, Probleme entstanden vor allem dann, wenn Hirnsubstanz in der Nähe jener Gebiete entfernt werden sollte, die für die Sprachfunktion (zum Beispiel Gyrus frontalis inferior, Gyrus temporalis superior, vgl. aber auch BIRBAUMER 1975, S. 128) als verantwortlich angesehen wurden:

  • "Vor 25 Jahren fingen wir an, fokale Epilepsien durch die radikale Entfernung der anomalen Hirnbereiche zu behandeln. Anfangs lehnten wir es allerdings ab, solche Operationen an der dominanten Hemisphäre durchzuführen, es sei denn, der Fokus lag ganz vorne im Frontallappen oder hinten im Okzipitallappen. Wie andere Neurochirurgen auch befürchteten wir durch Entfernung von kortikalem Gewebe in anderen Bereichen dieser Hemisphäre eine Aphasie zu produzieren. Die Aphasieliteratur gab uns keine Hinweise, was man und was man nicht ungestraft entfernen konnte" (PENFIELD und ROBERTS 1959, zitiert aus: SPRINGER und DEUTSCH 1987, S. 13).

Sollte die eine Krankheit in diesen Fällen also nicht durch eine andere Krankheit ersetzt werden, mußte eine Methode gefunden werden, um präzise jene Bereiche lokalisieren zu können, die beim jeweiligen Patienten für die Sprachfunktionen verantwortlich waren und somit keinesfalls entfernt werden durften. Man besann sich dabei auf zwei Entdeckungen, die bereits um die Jahrhundertwende gemacht worden waren :

  • Das Gehirn besitzt keine Schmerzrezeptoren: ein Gehirnpatient kann somit bei vollem Bewußtsein operiert werden.
  • Wird eine Stimuluselektrode nur jeweils einer bestimmten Hirnregion aufgelegt und diese sodann schwach elektrisch gereizt, so lassen sich je nach Hirnregion Seh-, Hör-, Riech- , oder Tastempfindungen, aber auch unwillkürliche Bewegungen etc. auslösen, die vom Patienten - er ist ja nicht betäubt - auch verbalisiert werden können (SPRINGER und DEUTSCH 1987, S. 13 f.).

Penfield entwickelte nun daraus eine Methode, durch direkte Reizung jene Gehirnzentren identifizieren zu können, die bei einem Patienten für die Sprachfunktionen verantwortlich sind. So wird dem Patienten eine Reihe von Bildern gezeigt, die dieser jeweils beschreiben muß. Gleichzeitig bewegt der Neurochirurg die Elektrode über die Cortexoberfläche, und identifiziert jene Regionen, an denen die Reizung die Sprachproduktion stört: der Patient kann nicht sprechen (aphatischer Arrest). Diese Stellen werden durch Auflage kleiner Papierpunkte markiert und photographiert (vgl. auch die nachfolgende Abbildung). Der durch Stimulation ausgelöste aphatische Arrest gilt als sicheres Indiz, daß die stimulierte Region zum Sprachzentrum der für die Sprachfunktion (haupt-)verantwortlichen Hemisphäre gehört.

Die geschilderte Methode ist heute weitgehend abgelöst durch ein anderes invasives Verfahren, den "Wada-Test", bei dem jeweils eine Hemisphäre zeitweise anaesthesiert wird. Das oben beschriebene Verfahren der elektrischen Stimulation des Gehirns hatte aber für die neuropsychologische Theorienbildung große Bedeutung: Bei der elektrischen Stimulation der Cortex-Oberfläche fiel auf, daß hierdurch zuweilen "Bilder" induziert wurden, die die Patienten als zusammenhängende Erfahrungen beschrieben (Fußnote 1).

PENFIELD interpretierte diese Beschreibungen als Reproduktionen von tatsächlich gemachten Erfahrungen (wie Erinnerungen an die frühe Kindheit), die von den Patienten unter normalen Bedingungen (Nicht-Stimulation) nicht wiedergegeben werden konnten (vgl. ANDERSON 1988, S. 155). Mehr noch: er war der Auffassung, daß sich entweder die entsprechende Gedächtnisspur(en) oder aber die den unmittelbaren Zugriff gestattenden neuronalen Verbindungen in unmittelbarer Nähe zur Elektrode befänden (HALL 1989, S. 361 f.).

 1.2 Kritik Die Interpretationen können in dieser Form, auch aufgrund inzwischen durchgeführter Replikationen, nicht mehr aufrechterhalten werden (SQUIRE 1987, S. 75 ff.). Selbst wenn man das grundsätzliche Problem, daß in den seltensten Fällen die berichteten Ereignisse dahingehend überprüft werden können, ob sie auch tatsächlich stattgefunden haben, einmal völlig außer acht läßt, so ist dennoch folgendes zu bedenken:

  • Die durch Stimulation ausgelösten Bilder konnten nur bei Stimulation des linken oder rechten Temporallappens provoziert werden. Aber auch hier führte die Stimulation des Temporallappens keineswegs bei jedem Patienten zur Wiedergabe von "Erfahrungen": Tatsächlich gaben nur 40 von 520 ( 7,7 %) der so stimulierten Patienten derartige "Erfahrungen" wieder. Von diesen 40 wiederum gaben 24 an, daß bei ihren Anfällen Halluzinationen auftraten, wobei für 16 dieser 24 Patienten die durch Stimulation hervorgerufenen Empfindungen identisch waren mit solchen, die in Zusammenhang mit einem Anfall auftraten. Neuere Untersuchungen scheinen den Befund zu bestätigen, daß "Gedächtnisinhalte" vor allem dann hervorgerufen werden können, wenn sie ohnehin Teil eines "eingeschliffenen" epileptischen Geschehens sind (SQUIRE 1987, S. 81, GANGLBERGER 1974, S. 67 ff.).
  • Die wiedergegebenen "Erfahrungen" haben häufig eher traum- denn erinnerungshafte Qualität. Die Protokolle sind häufig durchsetzt mit für die Patienten unbekannten Elementen. Eine Unterscheidung von Träumen, Phantasien oder Rekonstruktionen ist somit sehr schwierig.
  • Die Stimulation verschiedener kortikaler Stellen konnte zum Beispiel zur Wiedergabe gleicher "Erfahrungen" führen, umgekehrt konnte die Stimulation gleicher kortikaler Stellen auch zur Wiedergabe unterschiedlicher "Erinnerungen" führen.

 2. Der Fall H.M.: Gedächtnispsychologische Untersuchungen an einem Patienten mit globaler Amnesie nach bilateraler Schläfenlappenläsion

Während sich die Untersuchungen Penfields auf präoperative Patienten bezogen und die gedächtnispsychologischen Befunde (bzw. Interpretationen) eher "Nebenprodukte" der eigentlich interessierenden Lokalisation der "Sprachfunktionsregionen" war, stellen die - vor allem von Brenda MILNER durchgeführten- Untersuchungen an H.M. einen völlig neuen Ansatz dar. Es bot sich hier die Möglichkeit, über die klinisch üblichen Fallbeschreibungen hinausgehend einen Patienten mit deutlichen Gedächtnisausfällen, bei neurophysiologisch exakt lokalisierbaren Hirnschädigungen, modellgeleitet experimentellen Methoden zu unterziehen. Die dabei im Vergleich zu Kontrollpersonen deutlich werdenden Defizite (aber auch Nichtdefizite!) sollten sowohl Erklärungsansätze für das Auftreten von Amnesien leisten als auch erste Anhaltspunkte über neurophysiologische Grundlagen des nicht von Läsionen betroffenen, "normalen" Gedächtnisses liefern.

Doch nun zu H.M., die im Bereich der Gedächtnispsychologie vermutlich am häufigst untersuchte Versuchsperson: H.M. hatte seit seinem 17. Lebensjahr schwere epileptische Anfälle, die, ungeachtet antiepileptischer Medikation, im Laufe der Jahre sowohl in Bezug auf Anfallsschwere als auch Anfallsfrequenz zunahmen. Im Alter von 27 Jahren (1953) war er aufgrund der Krankheit nicht mehr arbeitsfähig. Man entschloß sich zu einer Operation, bei der bilateral die medialen Teile des Temporallappens radikal entfernt wurden: Betroffen waren vor allem Strukturen des limbischen Systems ( Hippocampus, Gyrus hippocampalis, Uncus und Nucleus amygdala) unter Aussparung der Neocortex-Anteile (ausführliche Darstellung des operativen Vorgehens in MILNER 1970) (Fußnote). Die Operation verlief erfolgreich: die Häufigkeit epileptischer Anfälle wurde beträchtlich reduziert. überraschend zeigte sich sogar eine Verbesserung der Intelligenztestleistung von 104 auf 118 Wechsler-IQ-Punkte; die Verbesserung wird von MILNER (1970) durch die verminderte Anfallsfrequenz erklärt. Da unter den verwandten Intelligenzsubtests auch solche sind, in denen "Allgemeines Wissen" (etc.) erfaßt wird, werden die hier erzielten Ergebnisse gedächtnispsychologisch dahingehend interpretiert, daß das semantische Gedächtnis intakt ist (vgl. WICKELGREN 1968).

Sprachverständnis und Sprachproduktion wurden ebenfalls als intakt angesehen: H.M. verstand auch komplizierte Sätze, konnte diese grammatikalisch transformieren, verstand die Pointen von Witzen inklusive solcher Witze, deren Pointe auf semantischer Mehrdeutigkeit basierte (MILNER, CORKIN und TEUBER 1968; zur Erläuterung des Begriffs der semantischen Mehrdeutigkeit: ANDERSON 1988, S. 322).

Es zeigten sich jedoch massive Gedächtnisstörungen (neue Informationen konnten nicht längerfristig behalten werden) , die in der Folge genauer untersucht wurden und im folgenden referiert werden:

 2.1 Erinnerung an präoperative Ereignisse

Für länger zurückliegende präoperative Ereignisse waren die Erinnerungen des Patienten "völlig normal", lediglich für einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren vor der Operation war eine (krankheitsbedingte) Amnesie zu verzeichnen.

 2.2 Untersuchungen zum Kurzzeitgedächtnis

Das Kurzzeitgedächtnis, gemessen über die Gedächtnisspanne für Zahlen betrug 6 Zahlen vor- und 5 Zahlen rückwärts (aufgrund der Beschreibung ist zu vermuten, daß es sich um den Wechsler-Subtest "Zahlennachsprechen" handelt ), eine Leistung, die im Vergleich zur Intelligenztestleistung gering ausfiel (wenngleich im Normbereich liegend ), jedoch höher lag als die Leistung vor der Operation.

Es zeigte sich, daß das Vergessen von Informationen in dem Augenblick einsetzte, in dem die Aufmerksamkeit wechselte; in dem Fall, daß keine Ablenkung eintrat, konnte eine dreistellige Zahl (inklusive selbstausgeklügelter Gedächtnishilfen) durch ständiges Wiederholen bis zu 15 Minuten behalten werden. Sobald jedoch vom Versuchsleiter ein neues Thema eingeführt wurde (Wechsel der Aufmerksamkeit) konnte sich H.M. weder an das item erinnern, noch daran, daß ihm eine derartige Aufgabe gestellt worden war.

Nicht-verbale Stimuli konnten nur etwa 30 Sekunden behalten werden: PRISTO (nach MILNER 1970) bediente sich hierbei der sogenannten "compound stimuli"-Methode, bei der zwei Stimuli der gleichen Sinnesmodalität mit kurzem Zeitintervall in Folge präsentiert werden. Aufgabe des Probanden ist dabei zu entscheiden, ob die Stimuli gleich oder unterschiedlich sind. Die Stimuli werden dabei so gewählt, daß bei unmittelbarer Aufeinanderfolge eine Unterscheidung leicht möglich ist. Die Aufgabenschwierigkeit kann nun dadurch erhöht werden, daß entweder das Zeitintervall zwischen der Darbietung der Stimuli erhöht und/oder ein Distraktor vor Erscheinen des zweiten Stimulus dargeboten wird. H.M. sowie einer Kontrollgruppe wurden dabei visuelle und auditive Stimuli

  • unter Distraktorbedingung (mit/ohne Distraktor) und
  • unter Variation des Zeitintervalls (0, 15, 30 und 60 Sekunden) dargeboten.

Während bei gesunden Versuchspersonen unter allen Bedingungen die durchschnittliche Fehlerzahl bei etwa 8 % lag, zeigte sich bei H.M., daß mit größerem Zeitintervall die Fehleranzahl stieg. Lag sie in den 0 und 15 Sekunden-Intervallen etwa bei der Leistung gesunder Probanden, erhöhte sie sich in der 30 Sekunden Bedingung auf Ö 17 % und hatte in der 60 Sekunden Bedingung (unabhängig davon, ob ein Distraktor dargeboten worden war oder nicht) mit über 38 % (fast) das Zufallsniveau erreicht.

Die an H.M. durchgeführten Untersuchungen können also folgendermaßen zusammengefaßt werden:

  • die Ergebnisse sprechen für ein intaktes Kurzzeitgedächtnis für verbales und nonverbales Material
  • durch ständiges Wiederholen von verbalem Material gelingt es H.M., die dargebotenen Informationen auch über ein längeres Zeitintervall zu behalten.
  • Es gelingt nicht, die Informationen längerfristig zu halten: bei Aufmerksamkeitswechsel sind dem Patienten sowohl die Informationen als auch die gestellte Aufgabe "entfallen".

 2.3 Untersuchungen zum Langzeitgedächtnis

Aus den oben referierten Befunden wird deutlich, daß H.M. nach der Operation offensichtlich nicht mehr in der Lage war, neu hinzukommende (episodische) Informationen längerfristig zu behalten. Allerdings wird durch diese Untersuchungen weder geklärt, ob dieses Defizit

  • unabhängig von der Anzahl der Versuchsdurchgänge ist (dies betrifft die Frage, ob durch intensives üben das Defizit kompensiert werden kann),
  • für alle Aufgabentypen gilt, (dies betrifft die Frage, ob die entfernten Hirnregionen für die "übertragung" sämtlicher Gedächtnisinformationen vom "Kurzzeitspeicher" in den "Langzeitspeicher" verantwortlich sind, beziehungsweise ob es für bestimmte Arten von Informationen andere Übertragungsstellen gibt),
  • noch ob die verwandten Maße möglicherweise nur nicht sensibel genug sind, noch vorhandene Gedächtnisinhalte zu entdecken (dies würde bedeuten, daß Informationen durchaus längerfristig behalten, jedoch nicht abgerufen werden können).

Die bis etwa Anfang der 70er Jahre mit H.M. durchgeführten Untersuchungen, die ein umfangreiches Spektrum verbaler und nonverbaler Lernaufgaben sowie Gedächtnismaße beinhalteten, vermitteln eher ein negatives Bild: "With a few exceptions [...] we found little or no evidence of learning within the limited time available for testing" (MILNER 1970, S. 39).

Die im folgenden beschriebenen Ausnahmen entstammen Verhaltensbeobachtungen und Explorationen, aber auch experimentellen Untersuchungen:

 2.3.1 Verhaltensbeobachtungen und Explorationen

 2.3.1.1 Persönliche Ereignisse

  • 1966 wurde H.M.'s Mutter in ein Krankenhaus überwiesen. Nach seinem dritten Krankenhaus-Besuch war H.M. zwar nicht in der Lage, sich irgendeines Details des Besuches zu erinnern, äußerte aber vage, daß etwas mit seiner Mutter geschehen sein könne. Auf die Frage, wer seine Tasche gepackt habe, antwortete er, er sei sich nicht sicher, ob die Mutter seine Tasche gepackt habe. Die Befragung am nächsten Tag erbrachte, daß H.M. sich weder an einen aktuellen Krankheitsfall erinnern konnte, noch stellte er in Frage, jemand anders als seine Mutter könnte seine Tasche gepackt haben.
  • Zwei Monate nach dem Tode seines Vaters (1967) schien H.M. sich des Todes seines Vaters schwach bewußt zu sein. Man vermutet, daß für H.M., der sein ganzes Leben im Hause seiner Eltern verbracht hätte, die ständige "Abwesenheit" eines Elternteiles einen ungewöhnlich effektiven Hinweis darstellte.
  • H.M. konnte einen korrekten Grundriß des Hauses zeichnen, in dem er seit 1958 wohnte und war darüber hinaus mit der unmittelbaren Nachbarschaft vertraut.

 2.3.1.2 Öffentliche Ereignisse

Im allgemeinen hatte H.M. nur geringe Kenntnis von nationalen oder internationalen Ereignissen. überraschenderweise zeigten sich dennoch Erinnerungen an bestimmte solcher Ereignisse, allerdings unterlagen diese Erinnerungen beträchtlichen Schwankungen.

  • 1968 identifizierte H.M. nicht nur korrekt das Bild von J.F. Kennedy (auf einer Münze), sondern beantwortete ohne Zögern die Frage, Kennedy sei einem Attentat zum Opfer gefallen. Weitere Details konnte H.M. nicht erinnern, schloß aber, der Nachfolger sei wohl der Vize-Präsident geworden.
  • In der Zeit unmittelbar nach dem Tode von Papst Johannes XXIII. konnte er dieses Ereignis wiedergeben.
  • H.M. konnte 1968 den Namen eines Astronauten wiedererkennen (vgl. MILNER, CORKIN und TEUBER 1968).

 2.3.2 Experimentelle Untersuchungen

 2.3.2.1 Labyrinth-Lernen

H.M. wurde 1960 mit der experimentellen Anordnung "Labyrinthlernen" konfrontiert. Der Proband muß dabei mit dem Kontaktstift auf einem Brett mit gleichen Metallbolzen den korrekten Weg - wird ein falscher Bolzen berührt, ertönt ein Warnsignal - per Versuch und Irrtum herausfinden und dreimal korrekt wiederholen.

Für gesunde Versuchspersonen wie auch für Probanden mit einseitiger Cortex-Läsion ist die Aufgabe (zum Beispiel bei 29 richtig zu berührenden Bolzen) einfach, sie wird in etwa 20 Durchgängen gemeistert. H.M. dagegen zeigte in über 215 Versuchen (verteilt über drei Tage) keinerlei Lernfortschritt. Die Ergebnisse scheinen nicht überraschend, wenn man bedenkt, daß die Folge von Richtungsänderungen die unmittelbare Gedächtnisspanne überschreitet, somit für H.M. die im hinteren Teil des Labyrinths gemachten Erfahrungen mit den im ersten Teil des Labyrinths gemachten Erfahrungen interferieren, und damit natürlich jeder neue Versuch auch wieder als neues Problem erscheint.

In einer auf dieser Überlegung basierenden Folgeuntersuchung wurde eine auf neun Wegpunkte (Anzahl der korrekt zu berührenden Punkte innerhalb des Labyrinths) verkürzte Version des Labyrinths durchgeführt, bei der die Zahl der Wendepunkte (vier) innerhalb des Bereichs der unmittelbaren Gedächtnisspanne lag. Um das gesetzte Kriterium von drei fehlerfreien Durchgängen zu erzielen, benötigte H.M.in diesem so einfach erscheinenden Versuch immerhin noch 155 Durchgänge mit insgesamt 256 Fehlern (Fußnote 2 ).

Aufgrund des fehlerfreien Lernens erschien eine Überprüfung, ob auch über größere zeitliche Distanzen ein Gedächtniseffekt nachweisbar sei, lohnenswert: Untersucht wurde Ersparnis im Labyrinthlernen im Abstand von einem, drei, sechs und zwölf Tagen nach Erreichen des Kriteriums: An allen Tagen, vor allem aber im Intervall bis zu sechs Tagen, zeigten sich Ersparnisse.

Beeindruckend ist aber vor allem das Ergebnis einer zwei Jahre später mit gleichem Labyrinthbrett und gleichem "Wege-Muster" durchgeführten Folgeuntersuchung: Obgleich H.M. keinerlei bewußte Erinnerung an die zwei Jahre zuvor durchgeführten Trainingsphasen hatte, erreichte er das Kriterium von drei fehlerfreien Durchgängen bereits nach 39 Durchgängen und insgesamt 69 Fehlern, was eine auf die Durchgänge bezogene Ersparnis von 75 % bedeutet . Gleichzeitig war er nach wie vor völlig unfähig, das bereits in Fußnote 2 beschriebene, um nur zwei Wegpunkte erweiterte Labyrinth zu meistern.

Die Autoren interpretieren die Befunde derart, daß der durch die beidseitige Hippocampusläsion verursachte Effekt vor allem in einer Akquisitionsstörung, weniger in einer Reproduktionsstörung zu liegen scheint (MILNER 1970, S. 43, BIRBAUMER 1975, S. 131).

 2.3.2.2 Spiegel-Zeichnen

Wie eingangs bereits angedeutet, interessiert bei diesem offensichtlichen Defizit des Patienten natürlich auch die Frage, ob dieses Defizit für alle Aufgabentypen gilt. Die Beantwortung dieser Frage könnte Auskunft geben darüber, ob die durchgeführten bilateralen Hippocampusläsionen für die Übertragung sämtlicher Gedächtnisinformationen vom "Kurzzeitspeicher" in den "Langzeitspeicher" (mit-)verantwortlich, oder ob für verschiedene Informationsarten auch unterschiedliche "Übertragungszentren" anzunehmen sind.

Zur Überprüfung dieser Frage wurde H.M. mit einer Aufgabe "Spiegelzeichnen" - konfrontiert, bei der vor allem motorische Fertigkeiten bzw. motorisches Lernen getestet werden.

Die Aufgabe besteht darin, eine geschlossene Bleistiftlinie durch ein schmales, gleichabständiges Feld zu ziehen, welches die Form eines gleichwinkligen Pentagrammes umgrenzt, also 10 Eckpunkte hat. Der Proband kann dabei sowohl das Pentagramm (inklusive des Feldes) als auch seine Hand nur mit Hilfe eines Spiegels betrachten.

Gesunde Probanden haben bei derartigen Aufgaben anfänglich Schwierigkeiten, verbessern ihre Leistung jedoch mit zunehmender Erfahrung. H.M. zeigte in dem über drei Tage gehenden Versuch eine "normale" Lernkurve: mit zunehmender Übung verbesserte sich seine Leistung erheblich bis zum fast fehlerfreien Zeichnen, darüber hinaus auffallend war zudem, daß die Fehlerleistung zu Beginn einer Sitzung auf dem Niveau einsetzte, mit dem H.M. am Vortag aufgehört hatte. Nichtsdestoweniger hatte er (zu Beginn einer Testphase befragt) keinerlei Erinnerungen daran, jemals eine solche Aufgabe gestellt bekommen respektive bearbeitet zu haben.

Das Ergebnis steht also in scharfem Kontrast zu dem im vorigen Abschnitt geschilderten Labyrinth-Lernen; es läßt vermuten, daß die Akquisition motorischer Fertigkeiten unabhängig vom Hippocampus (bzw. den mitentfernten Strukturen) erfolgt.

 2.3.2.3 Wiedererkennen komplexer Figuren

Aus Untersuchungen an amnestischen Patienten ist bekannt, daß bei diesen bestimmte perzeptuelle Informationen längerfristig nachwirken können (vgl. WIPPICH 1985, S. 128). So publizierten WARRINGTON und WEISKRANTZ (1968, nach MILNER 1970, S. 44) eine Untersuchung, nach der Amnestiker lernen können, nur bruchstückhaft erkennbare Zeichnungen von Alltagsobjekten wiederzuerkennen. Bei dieser Aufgabe ließen sich auch vier Wochen nach der Erstdarbietung noch Gedächtnisleistungen nachweisen, obwohl die Patienten gleichzeitig keinerlei bewußte Erinnerung haben, jemals eine derartige Aufgabe bearbeitet zu haben.

Die Frage war nun, ob und in welchem Maße auch bei H.M. ein solches "Wahrnehmungslernen", im Vergleich zu einer in Alter und Geschlecht vergleichbaren Kontrollgruppe gesunder Versuchspersonen, nachweisbar sei: Das verwendete Material bestand dabei aus zwanzig einfachen Zeichnungen von Alltagsgegenständen, wie beispielsweise einem Flugzeug, einem Haus etc. Von diesen Zeichnungen existierten jeweils fünf "Sets", die im Grade ihrer Vollständigkeit variierten: so sind die zwanzig Zeichnungen des ersten Sets die am meisten unvollständigen, während die Zeichnungen des fünften Sets den Gegenstand komplett wiedergeben.

H.M. und den gesunden Versuchspersonen wurden nun die Zeichnungen des ersten (wie auch der darauffolgenden) Sets für jeweils eine Sekunde gezeigt; nach jeder Präsentation bestand Gelegenheit, zu raten, um was für einen Gegenstand es sich handelte. Auslassungen oder Falschbenennungen wurden als Fehler gewertet. Im Anschluß daran wurden die graduell etwas besseren Zeichnungen des zweiten Sets in randomisierter Folge mit gleicher Aufgabenstellung gezeigt. Das Vorgehen wurde mit den jeweils folgenden Sets solange wiederholt, bis alle Zeichnungen identifiziert waren. Eine Stunde später wurde der gesamte Test überraschend wiederholt (überraschend gilt natürlich nur für die gesunden Versuchspersonen!).

Das Ergebnis war unerwartet: H.M. hatte im Vergleich zur Kontrollgruppe im ersten Test eine deutlich geringere Fehlerzahl; seine Fehlerzahl im Retest war im Vergleich zum Vortest um 48 % reduziert. Die Fehlerleistung der Kontrollgruppe hatte sich im Retest soweit verbessert, daß sie jetzt unterhalb der Fehlerleistung von H.M. lag ( Fußnote 3 ). Die geringere Fehlerquote wird dadurch erklärt, daß die Kontrollgruppe die Namen der Objekte bereits kannte und somit nur noch richtig den Objekten zuordnen mußten.

Vier Monate später wurde die gesamte Untersuchung, also Identifikationsaufgabe und Retest nach einer Stunde, noch einmal an den gleichen Probanden wiederholt. Hier zeigte sich für H.M. in der erneuten Testphase eine Fehlerquote, die der Fehlerquote des Retests vier Monate zuvor etwa entsprach. In der erneuten Retestung verbesserte sich seine Leistung nochmals, wenn auch geringfügig. Auch die Kontrollgruppe zeigte im erneuten Test eine der vier Monate zuvor erfolgten Retestung vergleichbare Fehlerleistung. In der erneuten Retestung zeigte die Kontrollgruppe eine erneute Verbesserung, nämlich eine nahe bei Null liegende Fehlerquote.

Wichtig ist hier festzuhalten, daß sich für H.M. ein ähnliches Ergebnis nachweisen ließ wie für andere amnestische Patienten, nämlich eine deutliche Verbesserung der Wiedererkennungsleistung durch wiederholte Darbietung desselben Materials, und das, obgleich der Patient sich bewußt an keine der vormaligen Testsitzungen erinnern konnte.

 3. Gedächtnispsychologische Untersuchungen nach einseitiger Temporallappen-Lobektomie

Beim Vergleich der Befunde der Gedächtnisleistungen von Patienten mit linker bzw. rechter Temporallappenresektion (Fußnote 4 ) fällt auf, daß der verbale bzw. nonverbale Charakter des zu behaltenden Materials den stärksten Einfluß auf die Gedächtnisleistungen hat (MILNER 1968, S. 191 f., MILNER 1970, S. 29 ff., WILKINS und MOSCOVITCH 1978, S. 73 f., JONES-GOTMAN und MILNER 1978, S. 61 f.).

Dabei beeinträchtigt eine linksseitige Temporallobektomie - unter der Voraussetzung der Sprachdominanz dieser Hemisphäre - unabhängig von Art der Darbietungsmodalität oder Art des Behaltenstestes vor allem das Gedächtnis für verbale Informationen, während sich für nonverbale Informationen die Gedächtnisleistung dieser Patientengruppe nicht von der gesunder Probanden unterscheidet (MILNER 1970, S. 30). Nach Läsion der rechten, nicht dominanten Temporallappen-Region finden sich keine Beeinträchtigungen für verbales Material, wohl aber eine Beeinträchtigung für nonverbales Material wie visuelle Muster, Melodien, Tierlaute, aber auch Labyrinthlernen oder taktil-räumliche Aufgaben (RENZI 1968) .

Die Gedächtnisdefizite dieser Patienten sind jedoch keineswegs so dramatisch wie die des Patienten H.M. : "The mild, specific memory changes seen after unilateral temporal-lobe lesions interfere little, if at all, with the daily life of the patient, because they do not affect the recall of events" (MILNER 1970, S. 34). Es läßt sich aber zeigen, daß das Ausmaß der Läsion in etwa proportionalem Verhältnis zum Gedächtnisdefizit steht; hierauf wird im folgenden noch ausführlicher eingegangen. Zum anderen zeigt sich, daß die postoperativ festgestellten Defizite in Zusammenhang stehen mit kognitiven Leistungen vor der Operation: so haben Patienten mit den größten kognitiven Beeinträchtigungen vor der Operation das größte Risiko, postoperativ die größten kognitiven Defizite zu entwickeln (RAUSCH 1987, S. 182, zu Intelligenztestdaten: DURWEN et al. 1989, S. 13).

 3.1 Untersuchungen zum Kurzzeitgedächtnis

Untersuchungen zum Kurzzeitgedächtnis scheinen kaum vorzuliegen: Der Tenor dieser Befunde lautet, daß das Kurzzeitgedächtnis nicht gestört zu sein scheint ( Fußnote 5 ). Allerdings gibt es auch hier widersprüchliche Befunde. So kann es sein, daß sich auch im Kurzzeitgedächtnis die typischen, oben angesprochenen hemisphärenspezifischen Defizite finden lassen, dies belegt eine Studie von Corsi (1969, zitiert nach DELANEY, PREVEY & MATTSON 1982, S. 592).

Es kann jedoch auch sein, daß die Defizite unabhängig von der Hemisphäre, in der die Operation durchgeführt wurde, modalitätsspezifisch sind (SAMUELS et al. 1972, zitiert nach DELANEY et al. 1982, S. 592; WEISKRANTZ 1986, S. 69), was bedeutet, daß Defizite im Kurzzeitgedächtnis dann zu erwarten sind, wenn die Darbietung auditiv erfolgt, nicht jedoch bei visueller Präsentation der items.

Ein anderer Teil der Untersuchungen beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Ausmaßes der Resektion auf die Verarbeitung bestimmten Aufgabenmaterials, von denen hier zwei, bei MILNER (1970, S. 32 ff.) dargestellte Untersuchungen referiert sein sollen:

  • So konnte CORSI (1969) mit jeweils einer verbalen und einer nonverbalen Variante des "Peterson und Peterson"-Paradigmas zeigen, daß das "Kurzzeitreproduzieren" bzgl. verbalen Materials bei linkstemporal operierten, nicht aber bei rechtstemporal operierten Patienten im Vergleich zu gesunden Probanden beeinträchtigt ist. Umgekehrt ließ sich zeigen, daß rechtstemporal operierte Patienten im Vergleich zu linkstemporal operierten Patienten und gesunden Probanden Defizite hinsichtlich nonverbalen Materials aufwiesen.

    In dieser Untersuchung war auch das Ausmaß der Zerstörung des rechten bzw. linken Hippocampus mitberücksichtigt worden. Es zeigte sich, daß das Ausmaß der verbalen bzw. nonverbalen Gedächtnisleistung mit zunehmender Zerstörung des linken oder rechten Hippocampus - gleiches Ausmaß der Läsion des lateralen Neocortex vorausgesetzt - ungefähr proportional anstieg.

  • In einer weiteren Untersuchung des gleichen Autors wurde eine von Hebb 1961 entwickelte Untersuchungstechnik angewandt. Das experimentelle Vorgehen besteht darin, Probanden Zahlenfolgen darzubieten, die die unmittelbare Gedächtnisspanne überschreiten. Jede dritte Zahlenfolge ist dabei gleich, die dazwischenliegenden Zahlenfolgen erscheinen dagegen nur einmal, beides ist den Probanden natürlich unbekannt. Hebb konnte zeigen, daß sich die Reproduktionsleistung für neue Zahlenfolgen keineswegs in Abhängigkeit von der Anzahl der Durchgänge verbesserte. Dagegen verbesserte sich die Reproduktionsleistung für die wiederholten Folgen ständig. Diese Verbesserung ist nur unter der Annahme verständlich, daß eine "strukturelle Spur" gebildet wurde, also eine Übertragung der Informationen ins Langzeitgedächtnis stattfand. Bei den untersuchten Patientengruppen zeigten sich bezüglich der nicht wiederholten Zahlenfolgen - wie erwartet - nur geringe Leistungen. Dagegen zeigten sich bezüglich der Reproduktionsleistung für wiederholte Zahlenfolgen deutliche Unterschiede: Im Unterschied zu den Patienten mit rechtstemporaler Hippocampusläsion zeigten die Patienten mit linkstemporaler Hippocampusläsion eine Beeinträchtigung der Reproduktionsleistung. Auch in dieser Untersuchung zeigte sich darüber hinaus der Effekt, daß sich die Reproduktionsleistung mit Ausmaß der Hippocampuszerstörung verschlechterte.

 3.2 Untersuchungen zum Langzeitgedächtnis

 3.2.1 Untersuchungen zum episodischen Gedächtnis

Die visuelle Rekognitionsleistung rechts- versus linkstemporal operierter Patienten wurde von MILNER (1968) in einer Versuchsserie untersucht, in der auch das Ausmaß der jeweiligen Hippocampus-Resektion mitberücksichtigt wurde (Fußnote 6 ).

Die Aufgabe bestand darin, bereits dargebotene Photographien von Gesichtern in einer größeren Menge von Gesichtsphotographien wiederzuerkennen. Im ersten Experiment wurde das Behaltensintervall von 90 Sekunden mit der Bearbeitung einer irrelevanten visuellen Aufgabe ausgefüllt, in der zweiten Untersuchung wurde das Behaltensintervall beibehalten, die Distraktoraufgabe jedoch weggelassen. In der dritten Untersuchung schließlich erfolgte der Gedächtnistest unmittelbar nach Darbietung der items.

In letztgenannter Untersuchung zeigte sich unabhängig vom Ausmaß der Hippocampusresektion innerhalb der Gruppe der rechtstemporal operierten Patienten keinerlei Unterschied der Rekognitionsleistung zwischen rechts- und linkstemporal operierten Patienten. Dagegen zeigte sich in beiden Untersuchungen mit 90 Sekunden Behaltensintervall eine bedeutsame Beeinträchtigung der Rekognitionsleistung rechtstemporal operierter Patienten im Vergleich zu linkstemporal operierten Patienten.

Innerhalb der beiden, nach Ausmaß der Hippocampusresektion unterschiedenen linkstemporalen Patientengruppen zeigten sich hier keine Leistungsunterschiede, dagegen zeigte sich bei den beiden nach Ausmaß der Hippocampusresektion unterschiedenen rechtstemporal operierten Subgruppen, daß mit dem Ausmaß der Hippocampusresektion die Beeinträchtigung der Rekognitionsleistung anstieg.

Unter Bezug auf PAIVIOs duale Kodierungstheorie wurden von JONES-GOTMAN und MILNER (1978) zwei Paarassoziationslernexperimente mit der Erwartung durchgeführt, daß die Leistung rechtstemporal operierter Patienten bezüglich hochbildhafter items im Vergleich zu gesunden Versuchspersonen beeinträchtigt sei, nicht jedoch bezüglich abstrakter items. Diese Erwartungen bestätigten sich auch: Tatsächlich war die Gedächtnisleistung für hochbildhafte items bei rechtstemporal operierten Patienten im Vergleich zu Gesunden beeinträchtigt, und zwar unabhängig von der Reproduktionsbedingung (sofortiger vs. um zwei Stunden verzögerter cued-recall). Die Befunde werden allerdings etwas getrübt durch die bei den linkstemporal operierten Patienten gefundenen Ergebnisse: Diese Gruppe zeigte nämlich unter beiden Reproduktionsbedingungen eine noch schlechtere Leistung als die Gruppe der rechtstemporal operierten Patienten.

Bezüglich der cued-recall-Leistung für abstrakte Wortpaare zeigten sich zwischen rechtstemporal operierten Patienten und gesunden Kontrollpersonen keine statistisch signifikanten Unterschiede. Ein Vergleich mit der Gruppe linkstemporal operierter Patienten war nicht möglich, da "the abstract verbal-learning task was considered too stressful for even our selected group of patients with left temporal-lobe lesions" (JONES-GOTMAN und MILNER 1978, S. 65).

 3.2.2 Untersuchungen zum semantischen Gedächtnis

Im Unterschied zu Untersuchungen des episodischen Gedächtnisses an Epilepsiepatienten mit einseitiger Temporallappen-Resektion werden Untersuchungen im Bereich des semantischen Gedächtnisses kaum durchgeführt.

Das erklärt sich wohl damit, daß man diesen Untersuchungsbereich lange Zeit durch diverse Intelligenz-Subtests "abgedeckt" glaubte. In diesen Tests zeigte sich in der Regel keine Beeinträchtigung, häufig sogar eine Verbesserung der Leistungen postoperativer Patienten im Vergleich zu ihren präoperativen Leistungen.

Aufgrund der immer wieder gefundenen selektiven Beeinträchtigung der episodischen Gedächtnisleistung bei postoperativ untersuchten Patienten fragten sich WILKINS und MOSCOVITCH (1978), ob sich entsprechende Defizite nicht auch im Bereich des semantischen Gedächtnisses finden ließen.

Die Autoren bezogen sich dabei auf Annahmen der dualen Kodierungstheorie von PAIVIO, die von der Existenz zweier unabhängiger Repräsentationsformenformen ausgeht. So sollte bei Klassifikationsaufgaben, bei denen die Versuchspersonen Größenvergleiche durchzuführen haben, vor allem das analoge System involviert sein, von dem angenommen wird, daß es in der rechten, nichtdominanten Hemisphäre lokalisiert ist (KINTSCH 1982, S. 206). Demzufolge sollten rechtstemporal operierte Patienten bezüglich derartiger Aufgaben eine größere Beeinträchtigung zeigen.

Dagegen sollte bei Klassifikationsaufgaben, zu deren Beurteilung perzeptuelle Informationen nicht ausreichen, das verbale System involviert sein, welches vor allem in der linken Hemisphäre lokalisiert zu sein scheint.

Den Versuchspersonen, Patienten mit rechts- versus linkstemporaler Läsion, wurden zwei Typen von Klassikationsaufgaben dargeboten: zum einen sollten Objekte dahingehend beurteilt werden, ob sie in Bezug auf einen Vergleichsreiz größer oder kleiner sind. Die andere Klassifikationsaufgabe sah vor, vorgegebene Objekte als natürlich (living) oder künstlich (man-made) einzustufen. Jede dieser Klassifikationsaufgaben wurde in zwei Versionen mit unterschiedlichem, aber einander ähnlichem Material dargeboten.

In der einen Version waren die Stimuli einfache Zeichnungen, in der anderen Version waren die Stimuli die Objektnamen. Aufgegeben war in jedem Fall, so schnell wie möglich zu antworten, gezählt wurden die korrekt abgegebenen Antworten.

Unabhängig davon, ob nun Zeichnungen oder Objektnamen dargeboten wurden, zeigten linkstemporal operierte Patienten in der Klassifikationsaufgabe "natürlich vs. künstlich" Defizite im Vergleich zu rechtstemporal operierten Probanden und gesunden Kontrollpersonen. Keine Beeinträchtigung zeigte sich jedoch hinsichtlich der Größenklassifikationsaufgabe. überraschenderweise war für die drei Gruppen kein statistisch signifikanter Unterschied in der Aufgabe "Größenvergleich" feststellbar, wenngleich deskriptiv ein Defizit der rechtstemporal operierten Probanden in der Objektnamen-Bedingung auffällt (vgl. WILKINS und MOSCOVITCH 1978, S. 76).

Die Autoren interpretieren die Daten derart, daß das semantische Gedächtnis in eine verbale und eine nonverbale Komponente aufteilbar ist. Dabei zeigen linkstemporal operierte Patienten eine selektive Beeinträchtigung der verbalen Komponente des semantischen Gedächtnisses.

Auch eine jüngere Arbeit von SAYKIN, GUR, SUSSMAN, O'CONNOR und GUR (1989, S. 195 ff.) zeigt ähnliches: den Autoren zufolge zeigten sich bei linkstemporal operierten Patienten im Vergleich zu rechtstemporal operierten Patienten sowohl vor als auch nach der Operation Defizite bezüglich des semantischen Gedächtnisses.

 4 Gedächtnispsychologische Untersuchungen an präoperativen und nichtoperativen epileptischen Patienten

Im Vergleich zur Anzahl gedächtnispsychologischer Untersuchungen an postoperativen Epilepsie-Patienten ist die Anzahl gedächtnispsychologischer Untersuchungen an prä- bzw. nichtoperativen Patienten ausgesprochen gering geblieben, sowohl was Untersuchungen dieser Patientengruppe selbst als auch vergleichende Untersuchungen zwischen prä- und postoperativen Patienten anbelangt.

Die Gründe dafür liegen wohl vor allem in der allgemeinen Einschätzung begründet, daß Gedächtnisstörungen präoperativer (und erst recht nichtoperativer) Patienten recht gering ausfallen:

  • "[...] the memory difficulties may be of a mild nature before surgery and are accentuated rather than diminished by surgical intervention"; und weiter heißt es: "Research with adult has not consistently demonstrated selective memory deficits in temporal lobe groups. Several studies have reported no memory differences between temporal lobe or psychomotor seizure groups and groups composed of other kinds of epileptic patients or normal subjects" (DELANEY, ROSEN, MATTSON und NOVELLY 1980, S. 104).

Und LOISEAU et al. 1980 fragen, "do epileptics have a real memory impairment?". Sie resümieren, "the available literature data are somehow confusing and do not allow any clear answer to the previous questions" (LOISEAU, STRUBE, BROUSTET, BATTELLOCHI, COMENI und MORSELLI, 1980, S. 58).

Hinzu kommt, daß sich die Untersuchungen gerade an prä- bzw. nichtoperativen Patienten als ausgesprochen schwierig (und unattraktiv ?) erweisen, da mit der Variable "Epilepsie" oder der Variable "Fokus der epileptischen Aktivität" eine Fülle anderer Variablen konfundiert, im strengen Sinne experimentelle Untersuchungen bei zudem noch meist kleinen Stichproben daher nahezu unmöglich sind.

Im folgenden werden die - nach Literatursichtung - wichtigsten Befunde zu gedächtnispsychologischen Untersuchungen an prä- und nichtoperativen Patienten zusammengefaßt dargestellt; die meisten gedächtnispsychologischen Untersuchungen scheinen dabei an Patienten mit Temorallappenepilepsie erhoben worden zu sein.

 4.1 Untersuchungen zum episodischen Gedächtnis

Ein allgemeiner Vergleich der prä- bzw. nichtoperativen Patienten, die an unterschiedlichen epileptischen Anfallsformen erkrankt sind, läßt folgendes Ergebnismuster zutage treten:

a) Bei Epilepsiepatienten mit Partialanfällen sind fokusabhängig spezifische Gedächtnisstörungen zu verzeichnen.

b) Komplex partielle Anfälle scheinen die Gedächtnisleistung stärker zu beeinträchtigen als generalisierte Anfälle (QUADFASEL, 1954, S. 90, PEDERSEN und DAM 1986, S. 11).

c) Bei Patienten mit generalisierten Anfällen finden sich sehr häufig vor allem Störungen der Aufmerksamkeit.

Es läßt sich fragen, ob die fokale epileptische Aktivität sich in ähnlicher Weise auf die kognitiven Funktionen auswirkt wie die Resektion der befallenen Hirnregion bei postoperativen Patienten. Ein solcher Befund könnte Hinweis auf die mögliche Übertragbarkeit von Ergebnissen aus bislang nur bei postoperativen Patienten durchgeführten Untersuchungen auf prä- bzw. nichtoperative epileptische Patienten sein. Zudem würde dieser Befund den Vergleich kognitiver Leistungen zwischen prä- und postoperativen Patienten erleichtern und vorliegende Modellvorstellungen der Hemisphärenspezialisierung von Gedächtnisfunktionen unterstützen (vgl. DELANEY et al. 1980).

Für das Kurzzeitgedächtnis scheinen die Befunde darauf hinzuweisen, daß rechts- bzw. linksfokale epileptische Patienten im Vergleich zu gesunden Probanden unabhängig von der Art des epileptischen Herdes bezüglich verbalen Materials Gedächtnisdefizite aufweisen (DELANEY, PREVEY und MATTSON 1982, S. 594 f.).

Für den Bereich des Langzeitgedächtnisses scheint ein solcher Vergleich - bei aller Vorsicht, die aufgrund konfundierter Variablen, aber auch widersprüchlicher Ergebnisse (DELANEY 1980, S. 104) geboten ist - eher möglich zu sein: Relativ sicher ist, daß bei präoperativen Patienten mit Temporallappenepilepsie fokusabhängig spezifische episodische Gedächtnisstörungen beobachtbar sind, das heißt: befindet sich der epileptische Herd in der sprachdominanten Hemisphäre, so sind vor allem Gedächtnisstörungen bezüglich verbalen Materials zu erwarten, befindet sich der epileptische Herd in der nichtdominanten Hirnhälfte, so wirkt sich dies vor allem auf die nonverbalen Gedächtnisleistungen aus (hierzu auch: DELANEY 1980, DELANEY 1982, PEDERSEN und DAM 1986). Andere Ergebnisse - keine Beeinträchtigung für visuelles oder verbales Material bei Patienten mit rechts- oder linkstemporalem Fokus, selbst im Vergleich zu gesunden Probanden - berichten LOISEAU et al. (1983, S. 186 ff.) über eine an 200 "normalen", das heißt ohne intellektuelle Defizite, ohne Psychosen und in normalen sozialen Verhält-nissen lebenden Epileptikern durchgeführte Untersuchung.

Der epileptische Herd scheint zudem Einfluß auf die der nichtbetroffenen Hemisphäre zuzuordnenden Gedächtnisfunktionen zu haben. So wird berichtet, daß sich postoperativ die episodischen Gedächtnisleistungen der, nicht durch die Operation betroffenen Hemisphäre verbesserte (NILSSON, CHRISTIANSON, SILFVENIUS und BLOM 1984, S. 49, ANDERSEN 1978, S. 446), was dahingehend inter-pretiert wird, daß durch die epileptische Aktivität in der einen Hemisphäre die Informationsverarbeitung der anderen Hirnhälfte gehemmt wird.

 4.2 Untersuchungen zum semantischen Gedächtnis

Die Frage, ob prä- bzw. nichtoperative Temporallappenepilepsie-Patienten Defizite im Bereich des semantischen Gedächtnisses aufweisen, ist aufgrund der mir vorliegenden Literatur nicht völlig klar zu beantworten:

Einige Autoren scheinen bezüglich dieser Frage keinerlei Forschungsbedarf zu sehen (LOISEAU et al.1980, 1983 b). Auch NILSSON, CHRISTIANSON, SILFVENIUS und BLOM (1984, S. 55) konnten in ihrer Versuchsserie an prä- und postoperativen epileptischen Patienten (Fußnote 7), in der unter anderem eine Reihe von - sehr einfachen - semantischen Gedächtnistests Anwendung fanden, zu dem Ergebnis, daß hinsichtlich der semantischen Tests keinerlei Unterschiede zwischen Patienten und Kontrollpersonen feststellbar war:

  • "The data obtained showed very clearly that there were no differences between epileptic patients and control subjects". Und weiter heißt es: "[...] that semantic memory was not affected by the epilepsy per se or the operation performed on the epileptic patients" (NILSSON et al. 1984, S. 55, Hervorhebung von den Autoren).

Zu anderen Ergebnissen kommen DELANEY et al. (1980, S. 108), die aufgrund zweier Maße des Wechsler-Memory-Scale-Subtests "Logical Memory", die semantisches Gedächtnis messen sollen, Defizite sowohl bei rechts- als auch linkstemporalen Epilepsie-Patienten, nicht aber bei Epilepsie-Patienten mit frontalem Fokus, im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen feststellen konnten; die größten Defizite waren dabei bei Patienten mit linkstemporalem Fokus zu finden.

Als kritische Region für die Entstehung semantischer Gedächtnisdefizite sehen sowohl WARRINGTON (1981, S. 16) als auch MAJKOWSKI (1986, S. 13) die linke temporo-occipitale Gehirn-Region an, während WEISKRANTZ (1986) die seitlichen neokortikalen Strukturen des Temporallappens als "verantwortlich" für die Entstehung semantischer Gedächtnisdefizite ansieht (während die medialen Temporallappenanteile für das episodische Gedächtnis verantwortlich sind.

Auch eine neuere Untersuchung von SAYKIN, RUR, SUSSMAN, O'CONNOR und GUR (1989) weist auf Hemisphärenunterschiede bezüglich der semantischen Gedächtnisleistung bei Temporallappenepilepsie-Patienten hin, die vor und nach der Operation getestet wurden. Hier zeigten die linksfokalen Patienten im Vergleich zu rechtsfokalen Patienten, deren Gedächtnisleistung sich nach der Operation sowohl für semantische als auch figurale Gedächtnisaufgaben noch verbesserte, prä- und postoperativ schlechtere semantische Gedächtnisleistungen. Zudem war - überraschenderweise - eine postoperative Verschlechterung der semantischen Gedächtnisleistung bei jenen linkstemporalen Epilepsiepatienten zu verzeichnen, die zu Beginn der Anfallstätigkeit älter (Durchschnittsalter 16 Jahre), nicht jedoch bei linkstemporalen Patienten, die bereits sehr früh (— 5 Jahre, Durchschnittsalter 1.9 Jahre) epileptische Anfälle bekommen hatten (SAYKIN et al. 1989, S. 194 ff.).

 4.3 Konfundierte Variablen

Bei Untersuchungen an epileptischen Patienten kann der Einfluß (und die Lokalisation) der epileptischen Aktivität auf die Gedächtnisleistung nicht isoliert betrachtet werden, da hier immer eine Konfundierung mit anderen Variablen vorhanden ist.

Als hier typische konfundierte Variablen gelten dabei Medikation, hier wäre zusätzlich zu unterscheiden nach Art und Dauer sowie nach Beginn der Medikation, Mono- oder Polytherapie, Serumspiegel, Alter des Patienten, Alter bei Anfallsbeginn, Erkrankungsdauer, allgemeines Intelligenzniveau, vor allem aber auch Anfallsschwere und Anfallsfrequenz. Einige dieser Variablen seien hier etwas genauer diskutiert:

  • Alter bei Beginn des Anfallsleidens
    Es steht außer Zweifel, daß Alter und zerebrale Reifung für das Erscheinungsbild neuropsychologischer Störungen eine wichtige Rolle spielt. Ein früher Schädigungszeitpunkt (Alter kleiner/gleich 5 Jahre) geht häufig mit geringerem IQ und kognitiven Problemen insgesamt einher (O'LEARY et al., nach SAYKIN et al. 1989, S. 192); die Prognose gilt allgemein als günstiger, wenn die Anfallstätigkeit zu einem Zeitpunkt eintritt, bei der das Gehirn ausgereift ist. Früher Anfallsbeginn beeinträchtigt unabhängig vom Fokus sowohl das figurale als auch das seman-tische Gedächtnis stärker als der späte Beginn der Krankheit (SAYKIN et al. 1989). Diskutiert wird ferner, ob der frühe Anfallsbeginn auch mit einer atypischen Repräsentation kognitiver Funktionen in den beiden Hemisphären einhergeht (MILNER 1975, nach SAYKIN et al 1989, S. 192).
  • Anfallshäufigkeit (Anfallsfrequenz)
    Patienten mit hoher Anfallsfrequenz zeigen schlechtere Ge-dächtnisleistungen als Patienten mit geringer Anfallsfrequenz (TRIMBLE und THOMPSON 1981, S. 33). Allerdings kann der direk-te Einfluß der Anfallsfrequenz im Menschenversuch durch Aussetzen der antiepileptischen Medikation aus ethischen Gründen nicht untersucht werden.
  • Erkrankungsdauer
    Die Befunde sind widersprüchlich. Während LOISEAU (1983, S. 189) keinen Einfluß der Erkrankungsdauer ausmachen konnte, berichten LAVADAS et al. (1979, zitiert nach LOISEAU 1983, S. 189) von einer negativen Korrelation der Erkrankungsdauer zu Langzeitgedächtnisleistungen .
  • Antiepileptische Medikation
    Möglicherweise den stärksten Einfluß auf die Gedächtnisstörungen bei epileptischen Patienten hat die antiepileptische Medikation. Als allgemeine Nebenwirkungen antiepileptischer Medikation gelten (MATTHES 1984, DOOSE 1983):
    • bei Phenobarbital: Irritabilität, Konzentrationsstörungen, Beeinträchtigung der Denkfähigkeit (etc).MACLEOD (1978) zeigt in seiner Untersuchung, daß sich die Medikation von Phenobarbital bei epileptischen Patienten auf die Antwortgeschwindigkeit in Kurzzeitgedächtnisaufgaben (memory scanning) auswirkt, nicht jedoch auf die Bearbeitungsgeschwindigkeit in bestimmten Langzeitgedächtnisaufgaben.
    • bei Phenytoin: Schläfrigkeit, aber auch vermehrte Erregbarkeit, Doppelbilder, verwaschene Sprache
    • bei Ethosuximid : Reizbarkeit, Verstimmungen, Erregungszustände, aber auch (dosisunabhängig) paranoid-halluzinatorische Psychosen
    • bei Carbamazepin :Konzentrationsstörungen, Vergeßlichkeit, Müdigkeit, im Falle einer Überdosierung kommt es, neben anderen Symptomen, zu einer Verlangsamung der Grundaktivität auf Theta- und Deltawellen.

    Antiepileptische Medikation wird zumeist langfristig, häufig sogar über ein ganzes Leben verordnet. Dabei läßt sich der Einfluß der antiepileptischen Medikation auf Enkodierung, Speicherung und Abruf von Informationen nur schwer abschätzen, da die antiepileptische Medikation gesunden Probanden aus ethischen Gründen nur sehr kurzfristig verabreicht werden kann.

    Allerdings soll nicht verschwiegen werden, daß der Einfluß der Medikation sich auch positiv auf kognitive Funktionen auswirken kann (vgl. MAJKOWSKI 1986, S. 17), beispielsweise durch eine Verminderung der Anfallsfrequenz.

    Eine ausführliche Darstellung der Auswirkung unterschiedlicher Arten von Medikation auf die Gedächtnisleistung von Anfallspatienten geben TRIMBLE und THOMPSON (1981, 1983), sowie THOMPSON und TRIMBLE (1981). Die Bedeutung von antiepileptischer Medikation als Kontextfaktor auf die Erinnerungsleistung wird bei MONDADORI (1984) und bei EICH (1986) diskutiert.

 5 Fazit

Es soll ein Ausblick gegeben werden, ob, und wenn ja, welche Untersuchungstechnik bei welcher Patientengruppe im Rahmen einer gedächtnispsychologischen Theorie sinnvoll ist.

Es sollte deutlich geworden sein, daß bei Patienten mit lokalisierbarem Fokus (einfache und komplexe Partialanfälle) Erwartungen über spezifische Gedächtnisdefizite getroffen werden können. Diese Gedächtnisdefizite sind bei der Patientengruppe mit komplex-partiellen Anfällen deutlich stärker ausgeprägt als bei Patienten mit einfachen Partialanfällen. Hinzu kommt, daß bei Patienten mit (komplexen) Partialanfällen in Abhängigkeit von der Lokalisation des epileptischen Herdes Defizite vorwiegend bei verbalen oder aber nonverbalen Informationen dokumentiert sind.

Hier bietet sich also eine gedächtnispsychologische Überprüfung im Rahmen einer Theorie an, die über Enkodierung, Speicherung, Abruf und Organisation verbaler und nonverbaler Informationen Aussagen macht; dies leistet die duale Kodierungstheorie von PAIVIO, die zudem den Vorzug hat, mit neuropsychologischen Daten über die Hemisphärenspezialisierung bei der Informationsverarbeitung "in Einklang zu stehen".

Die in der Literatur dargestellten Untersuchungen zeigen, daß Gedächtnisdefizite vor allem im episodischen Langzeitgedächtnis nachweisbar sind, wobei bislang noch weitgehend ungeklärt ist, ob die Gedächtnisdefizite eher auf Probleme bei der Enkodierung oder auf Probleme des Abrufes zurückführbar sind.

Es zeigte sich weiter, daß - im Unterschied zu den "klassischen" Gedächtnismaßen - indirekte Maße in vielen Fällen, und gerade auch bei amnestischen Syndromen, den Nachweis erbringen können, daß "Erfahrungsnachwirkungen" doch noch vorhanden sind. Hier hat sich die Ersparnismethode als ein besonders sensitives Verfahren erwiesen (vgl. die dargestellten Untersuchungen zu H.M.).

Deutlich schwieriger ist dagegen die Beurteilung, ob bei prä- bzw. nichtoperativen Patienten mit komplex-partiellem Anfallstyp semantische Gedächtnisdefizite vorliegen. Grundsätzliches Problem ist dabei, daß in der Regel in diesem Bereich noch relativ undifferenziert vorgegangen wird, zumal hier häufig den Patienten einfach eine Fülle von "Wissen-von-der-Welt"-Fragen vorgelegt werden, die dann auch wenig zwischen links- und rechtstemporalen Patienten zu differenzieren imstande sind.

Eine Ausnahme bietet die Untersuchung von WILKINS und MOSCOVITCH (1978); die Autoren legten unter explizitem Bezug auf die duale Kodierungstheorie postoperativen Patienten zwei Sorten von Klassifikationsaufgaben vor, von denen sie annahmen, daß sie entweder im verbalen oder aber im analogen System bearbeitet würden. Interessanterweise zeigte sich bei den Größenvergleichsaufgaben (analoges System) kein Unterschied zwischen rechts- versus linkstemporal operierten Patienten und gesunden Kontrollpersonen. Dies kann natürlich darauf zurückführbar sein, daß in dieser Untersuchung lediglich die Trefferquote berücksichtigt wurde ("a score of 1 was given for each correct response" (WILKINS und MOSCOVITCH 1978, S. 76) ). Dieses Maß scheint mir deshalb unangemessen, weil es ja durchaus plausibel ist, bei mentalen Größenvergleichen auch dann zu einer richtigen Lösung zu kommen, wenn das analoge System nicht funktioniert! So erscheint es sinnvoller, statt der Anzahl der Treffer die Latenzzeit zur Bearbeitung von mentalen Größenvergleichen zu erheben, wie dies ja in Aufgaben zum Symbolischen Distanzeffekt auch geschieht.


 Fußnoten:
Fußnote 1:
  • Diese Erinnerungen hatten durchaus einige gemeinsame Merkmale:
  • a) Die "Erinnerungen" stellten nur einen sehr begrenzten Ausschnitt möglicher Erinnerungen dar. Bestimmte Erinnerungen, wie die, in denen der Patient spricht, überlegt oder ißt, konnten nicht provoziert werden.
  • b) Häufig wurden Details der Erinnerungsbilder als "unzugänglich" empfunden). (vgl. SQUIRE 1987)
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Fußnote 2:
  • Ein Vorversuch (Version A), bei dem das gleiche Grundmuster vorlag - lediglich um zwei Wegpunkte inklusive eines Wendepunktes erweitert - war zuvor gescheitert. Zwölf Tage nach Darbietung des erfolgreich gelernten Labyrinths (Version B) wurde in Erwartung eines Transfer-Effektes noch einmal Version A zur Bearbeitung vorgegeben. In den 25 bearbeiteten Durchgängen zeigte sich keinerlei Transfer (MILNER, CORKIN und TEUBER 1968) !
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Fußnote 3:
  • Außer der oben angeführten Prozentangabe sind keine weiteren numerischen Angaben angeführt! Allerdings läßt sich aufgrund der dem Text beigefügten Graphik abschätzen, daß sich die Retestleistung der Kontrollgruppe im Vergleich zu ihrer Testleistung um ca. 70 % verbessert hatte.
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Fußnote 4:
  • Der Begriff der Temporallappen-Resektion ist in diesem Zusammenhang folgendermaßen zu verstehen: üblich ist eine 2/3- Temporallappen-Resektion, bei der zumeist Amygdala, Hippocampus, Gyrus parahippocampus und lateraler Neokortex entfernt werden (MILNER 1970, S. 30, vgl. auch DURWEN et al. 1989, S. 13). In der Regel wird in der Literatur jedoch mitgeteilt, welche Strukturen den Patienten entfernt wurden, vor allem dann, wenn es sich um vergleichende Untersuchungen zum Ausmaß der entfernten Strukturen handelt.
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Fußnote 5:
  • Es sei denn, das der Untersuchungsschwerpunkt weniger auf den Auswirkungen der Epilepsie, als auf den Auswirkungen der antiepileptischen Medikation liegt, wie zum Beispiel die Untersuchung von MACLEOD (1978) zum Einfluß von Phenobarbital auf die Bearbeitungsgeschwindigkeit bei typischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnisaufgaben. Die Untersuchung wurde an nichtoperativen Patienten durchgeführt.
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Fußnote 6:
  • Tatsächlich wurden in dieser Untersuchung auch Patienten mit Resektionen des Frontal- bzw. Parietallappens untersucht. Allerdings scheinen diese Patienten einfach "mituntersucht" worden zu sein, stehen aber keineswegs im Mittelpunkt des Interesses, da "the three experiments [...] were specifically designed to contrast the effects of equivalent left and right anterior temporal-lobe excisions" (MILNER 1968, S. 192). Da hier ausschließlich Patienten mit Temporallappenepilepsie untersucht wurden, wird auf die Ergebnisse für diese beiden Patientengruppen nicht eingegangen.
    MILNER (1968, S. 193) gibt eine ausführliche Beschreibung über Lokalisation und Ausmaß der Temporallappen-Resektion, auf die hier nicht eingegangen wird. Festzuhalten bleibt nur, daß bei allen hier interessierenden Patienten Uncus und Amygdala entfernt wurden. Der Hippocampus wurde dagegen entweder partiell oder vollständig entfernt.
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Fußnote 7:
  • Fünf (!) Patienten mit bilateraler epileptischer Aktivität, wobei die Hauptaktivität (und davon abhängig die Geweberesektion) in drei Fällen rechtstemporal, in einem Fall rechtstemporal-frontal und in einem Fall linkstemporal lag, sowie vier Klinikangestellte.
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Fußnote 8 :
  • H.M. ist keineswegs der einzige auf solche Weise operierte Patient: Allein im Montreal Neurological Institute, in dem auch H.M. operiert wurde, wurden 30 derartige Operationen durchgeführt. Anlaß für die Operationen waren hier allerdings langandauernde, schwere Psychosen, die man auf diese Weise zu lindern oder zu heilen versuchte. Auch in diesen Fällen wurde -sofern die Patienten überhaupt kooperationswillig waren, im Falle bilateraler Hippocampusresektion globale Amnesie diagnostiziert, Gedächtnisdefizite waren jedoch nicht nachweisbar, wenn die Resektion auf Uncus oder Amygdala begrenzt war. Was H.M. für die Forschung so attraktiv machte, war (wenn man so will) die "Reinheit" seines Falles: Im Unterschied zu jenen Patienten war H.M. weder psychotisch noch zeigten sich bei ihm postoperativ Persönlichkeitsveränderungen. Erst durch die Untersuchungen an H.M. wurde das Ausmaß der durch die Operation verursachten Gedächtnisstörungen offenbar.
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