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"Geschichte für alle" in Zeitschriften des 19. Jahrhunderts: Transnationalität in populären Geschichtsdarstellungen in Großbritannien und Deutschland

Titelbild 1 Teilprojekt 4

Eine barocke Festgesellschaft in historischer Kostümierung versammelt sich zum Tanz: Ein besonders prächtig ausstaffierter Kavalier mit federgeschmücktem, breitkrämpigem Hut und Lockenperücke tritt auf eine vornehme Dame im Bildmittelpunkt zu, die höflich den Edelmann mit einem Knicks begrüßt und das Tanzvergnügen damit einzuleiten scheint. Die Abbildung auf der Titelseite der Wochenzeitung Illustrated London News vom 14. Juni 1851 schwelgt geradezu in dem höfischen Pomp des britischen späten 17. Jahrhunderts. Während im Kristallpalast im Londoner Hyde Park seit über einem Monat auf der ersten Weltausstellung Fortschritt, Technik und Modernität präsentiert und gefeiert werden, scheint auf dem historischen Kostümball Königin Viktorias und Prinz Alberts im Buckingham Palace, wie es das Bild laut Unterschrift andeutet, die Zeit der Stuart-Monarchie aufzuerstehen. In dem Bericht der Zeitung heißt es über diese Art der Geschichtsbegeisterung:

"While rank and beauty, royalty and fashion, are thus uniting to resuscitate the gay glories of the past, the sputtering steam and clanging engine are working their utmost with our 'eye painting' of the week's history."

Die Beschäftigung mit den "Ruhmestaten der Vergangenheit", so macht die Berichterstattung in den Illustrated London News schnell deutlich, blieb jedoch im Großbritannien des 19. Jahrhunderts keineswegs nur auf das Interesse der reichen Oberschichten beschränkt: Nicht zuletzt sorgte eben jener "sprudelnde Dampf und [jene] dröhnende Maschinerie" der modernen Druckerpressen dafür, dass ein Massenpublikum für ein paar Pennys in Form von Zeitungen und Zeitschriften an der sich ausdifferenzierenden Geschichtskultur teilhaben konnte. Die Faszination für Vergangenheit erfasste so beinahe alle Schichten. Das Thema des königlichen Kostümballs, so fährt der Berichterstatter der Zeitung fort, sei die Zeit der Restauration gewesen, nur bedauerlicherweise habe man bis zum Redaktionsschluss keine Informationen über die Kostümierung der Teilnehmer erhalten können. Woher stammte also das Bildmaterial auf der Titelseite, die der Leserschaft suggerierte, man könne einen direkten Einblick in das Geschehen im Buckingham Palace werfen? Das Bild stellte lediglich eine Lithographie eines fast zweihundert Jahre alten Ölgemäldes dar, welches König Charles II. aus dem Hause der Stuarts beim Tanz zeigt. Auf diese Weise sollten sich interessierte Leserinnen und Leser schon im Vorfeld eine Vorstellung davon machen können, wie es auf dem historischen Kostümball Königin Viktorias im Buckingham Palast zugehen mochte.

Der Blick auf die höfische Kultur des 17. Jahrhunderts war nicht das einzige historische Thema auf dieser Titelseite der Wochenzeitung. Auch die Geschichte anderer Völker und Nationen war für die Viktorianer gefragter Stoff, um ihre Lese- und Schaulust zu stillen. In dieser Hinsicht nahm die Geschichte der Deutschen eine besondere Stellung ein, da die gemeinsame germanisch-angelsächsische Abstammung beider Nationen dazu einlud, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Geschichte zu suchen. Die abgebildete Titelseite zeigt außerdem in einer Abbildung deutsche, genauer gesagt, preußische Geschichte, für die sogar ein noch größeres Bildformat gewählt wurde. In der Illustration nähert sich der preußische König Friedrich Wilhelm IV. feierlich, von militärischen Ehrenformationen umgeben, dem kolossalen Reiterstandbild seines legendären Vorfahren: Überlebensgroß scheint Friedrich der Große auf den aktuellen Monarchen Preußens herabzublicken und seiner Verantwortung gegenüber dem Haus Hohenzollern und dem preußischen Staat zu gemahnen. Doch selbst die Statue Friedrichs wird im Bild noch überragt von vier weiteren Ahnherren: Fürsten und Könige, von Albrecht dem Bären bis zum "Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm thronen über der prachtvollen Szenerie, in der britischen, bemerkenswert detailgetreuen Abbildung zu einem preußischen Pantheon vereint. Mochte Friedrich der Große, der einstige Verbündete Großbritanniens im Siebenjährigen Krieg, der britischen Leserschaft bekannt sein, konnte das nicht automatisch für die vier anderen Herrscher gelten.

Die Berichte und Abbildungen über den historischen Kostümball Königin Viktorias und die Enthüllung der Reiterstatue Friedrichs des Großen am 31. Mai 1851 in Berlin verdeutlichen schlaglichtartig die hohe Popularität von Geschichtsdarstellungen in britischen Zeitschriften, wie der Illustrated London News. Ähnliches gilt für die deutschen Staaten bzw. das Kaiserreich und deutsche Zeitschriften des 19. Jahrhunderts, denn vergleichbare Abbildungen waren zeitgleich beispielsweise in der Leipziger Illustrirten Zeitung erschienen.

Parallel zur Entstehung und Ausdifferenzierung der Massenpresse entwickelte sich in Großbritannien und Deutschland eine bis dato beispiellose Begeisterung des lesenden Publikums für Historie. Selbst Kinder und Analphabeten konnten über die neuen Bildmedien am Schauwert der Vergangenheit teilhaben. Der Rückgriff auf Geschichte gewährte angesichts der sich im 19. Jahrhundert teilweise dramatisch veränderten politischen und alltäglichen Erfahrungen Halt und Orientierungshilfen. Populäre Medienformate wie die illustrierten Zeitschriften, die ab den 1830ern auf den Markt drängten, bedienten und förderten dieses Interesse, indem sie die unterschiedlichsten Themen der jeweiligen nationalen Geschichtskultur in Text und Bild einem Massenpublikum zugänglich machten, das auch Gruppen unterhalb der Ober- und Mittelschichten umfasste.

Titelbild 2 Teilprojekt 4

Diese Phänomene traten nicht nur in Großbritannien auf: Auch im Deutschland des 19. Jahrhunderts entstand eine variantenreiche Presselandschaft. Obwohl die Entwicklung weitaus weniger dynamisch als in Großbritannien verlief, wurden die britischen Innovationen schon frühzeitig von deutschen Verleger beobachtet und, wie im Fall des Formats der Pfennig-Magazine, rasch für den heimischem Markt übernommen. Derartige Publikationen bilden die Quellengrundlage dieses Projektes zur Erforschung britischer und deutscher Geschichtskultur im 19. Jahrhundert.

Der Transfer von Medienformaten, wie der Austausch von Bildmaterial, bildet dabei einen unter mehreren Ansatzpunkten zur Erforschung transnationaler Elemente in populären Repräsentationen von Geschichte. Vergleichende Methoden sollen dabei im Sinne Michel Espagnes lediglich als "pragmatische Vorstufe" dienen. Durch den transnationalen Blick auf die britische und deutsche Geschichtskultur soll das Paradigma der Nationalisierung der Geschichtsbilder im 19. Jahrhundert hinterfragt und sollen stattdessen wechselseitige Verflechtungen sowie Aneignungs- und Abgrenzungsprozesse offengelegt werden.

Dabei stehen die Fragen im Zentrum des Interesses, wie und warum welche Elemente der 'anderen' Geschichte in den 'eigenen' Zeitschriften aufgegriffen und popularisiert wurden. Welche Aneignungen und Adaptionen der fremden Geschichtskultur mussten dabei für den neuen Kontext vorgenommen werden? Welche Mittler und Motive bewirkten sie? Wie wirkte die Adaption oder Nachahmung auf das jeweilige Vorbild in Deutschland oder dem Vereinigten Königreich zurück? Das britisch-deutsche Beispiel ist in der Frage der gegenseitigen Wahrnehmung und der Transfers insofern besonders interessant, als dass eine konstruierte Verwandtschaft beider Völker den Blick der Zeitgenossen ständig auf etwaige Gemeinsamkeiten und Unterschiede lenkte: Welchen Einfluss hatten daher germanophile Strömungen in Großbritannien und anglophile in Deutschland auf populäre Geschichtsdarstellungen? Inwieweit waren diese gewissen Konjunkturen innerhalb der sich im Laufe des Jahrhunderts wechselnden politischen Rahmenbedingungen und den binationalen Beziehungen unterworfen?

Nicht zuletzt gilt es zu untersuchen, ob die Heterogenität der Zeitschriftenformate in Verbindung mit der Vielstimmigkeit der zahlreichen Herausgeber, Redakteure, Autoren und Künstler im Medium der populären Zeitschriften auch alternativen Interpretationen der Historie Raum verschaffen konnte, beispielsweise aufgrund einer bestimmten regionalen, kulturellen oder sozialen Perspektive. Der populäre Umgang mit der Vergangenheit konnte in den Zeitschriften in populärer Form mit vieldimensionalen Deutungen aufgeladen werden und angesichts der Transformationen im Zuge der Industrialisierung immer wieder neu auf die wechselnden Bedürfnisse eines sich wandelnden britischen und deutschen Lesepublikums angepasst werden.

Bearbeiter: Tobias Scheidt M.A.

 
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