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Die Mehrfachtätigkeit wird zur Signatur unserer Epoche
Prof. Dr. Friedhelm Decher zu Gast bei Forum Siegen - Es gibt die Zeit der Uhren, die Zeit des Lebens und die Zeit der Wirtschaft.
„Zeitnot ist in der modernen Gesellschaft zum Dauerproblem geworden.“ Diese Feststellung des Philosophie-Professors Dr. Friedhelm Decher zum Auftakt der jüngsten Veranstaltung von „Forum Siegen“ mit dem Titel „ Eine Gesellschaft, die keine Zeit hat, lebt nicht – Zeitnot, Ökonomie und Muße“ klingt nahezu banal und ist in all ihren Erklärungsfacetten doch kompliziert. Dass dieses Statement die Realität vieler Menschen in westlichen Ländern widerspiegelt, dafür sprechen nicht nur die eigene Erfahrung, sondern auch Umfrageergebnisse. Etwa acht Minuten, so wurde erhoben, sprechen Ehepaare am Tag miteinander. Etwa 40 Prozent der leitenden Angestellten leiden unter Zeitstress. Der Konsum von Beruhigungsmitteln, Antidepressiva und Muntermachern steigt jährlich um etwa 8 Prozent. Menschen sind immer vernetzter, müssen immer mehr koordinieren und verlieren dadurch letztlich an Kreativität.
Zwei Lebensweise-Typen gibt es laut Decher, monochrome sowie polychrome. Monochrom bedeutet einfarbig. Auf Lebenswelten übertragen steht der Begriff für die strikte Einhaltung von Zeitplänen und hohes Lebenstempo. An der Spitze dieser monochromen Länder rangieren die Schweiz, Irland, Deutschland und Japan. Polychrome Kulturen sind schon gemäß Namensgebung bunter. Gearbeitet wird so lange, bis Interesse an einer alternativen Tätigkeit geweckt wird. Ganz vorne auf der Liste der polychromen Lebensweisen stehen Länder wie El Salvador, Brasilien, Indonesien und Mexiko. Das Lebenstempo ist dort eher gering.
In monochromen Gesellschaften ist die Zeitknappheit allgegenwärtig. Kennzeichen sind die Jagd nach Schnäppchen, ständiger E-Mail-Verkehr und Bezug von Kurznachrichten, kurz: die Ausweitung der permanenten Verfügbarkeit des Menschen. Decher: „Wer in den Sog geraten ist, läuft Gefahr, immer tiefer hinein zu geraten.“ Entspannung wird zur Ausnahme. „In industriellen Gesellschaften rennen Menschen immer mehr“, so der Referent weiter. Zeit- und Geldstrukturen sind eng miteinander verwoben. Es gilt Benjamin Franklins Zitat: „Bedenke, dass Zeit Geld ist.“ Die Kopplung von Zeit und Geld wird zur „machtvollen Grundlage“, um Beziehungen und das Leben zu regeln.
Drei Arten von Zeit sind laut Decher voneinander zu unterscheiden: a) die Zeit der Uhren, b) die Zeit des Lebens und c) die Zeit der Wirtschaft. Die Zeit der Uhren hieß bei den alten Griechen „Chronos“. Den richtigen Zeitpunkt kennzeichnete der Begriff „Kairos“. Die Zeit der Wirtschaft oder das Motto „Zeit ist Geld“ waren in der Antike unbekannt. Uhrenzeit kommt der Darstellung von Bewegung im Raum gleich. Sie steht somit auch für Distanz. Binnen eines Tages oder 24 Stunden dreht die Erde sich um die eigene Achse. Der Tag-Nacht-Rhythmus findet hier seine Grundlage. Die Zeitzyklen der Natur dienten den Menschen dazu, ihren Lebenslauf beispielsweise nach Jahreszeiten auszurichten. Die Ägypter unterteilten das Jahr in zwölf Monate zu je 30 Tagen plus 5 Tage im Jahreslauf. Zeit war das Metermaß der Himmelskörper, gemessen im Raum. Um sich über den Globus hinweg zu verständigen, gibt es heute Uhren. Sie gelten über alle 24 Zeitzonen hinweg und sind Ergebnis eines räumlichen Maßes zur Definition von Zeit. Unsere heutige Internetzeit kennt nur mehr eine Zeitzone. Decher: „Jeder ist überall zum gleichem Zeitpunkt erreichbar.“
Die Zeit des Lebens steht in enger Beziehung zu den Gestirnen. Der Blick in den Spiegel verrät Menschen, dass Lebenszeit nicht stillsteht. Sieben Tage in der Woche jeweils 24 Stunden lang verfügbar sein, beeinträchtigt den Tag-Nacht-Rhythmus. Organismen aber benötigen ausreichend Zeit zur Regeneration. Decher: „Sonst brennen lebende Wesen auf Dauer aus.“ Deshalb wurden die Fünf-Tage-Woche und Feiertage eingeführt. Der Philosoph: „Im europäischen Mittelalter gab es 115 Feiertage pro Jahr.“ Ärmere Länder kennen immer noch mehr Feiertage als reiche. Heute ist Ruhe in monochromen Gesellschaften „out“. Die Menschen laufen Marathon anstatt spazieren zu gehen, Aktivität drängt Erholung zurück. Decher: „Die Regeneration, die vor Erschöpfung schützt, reicht nicht mehr aus.“
Die Zeit der Wirtschaft führt dazu, dass zunehmend mehr Aufgaben gleichzeitig erledigt werden. Decher: „Die Mehrfachtätigkeit wird zur Signatur unserer Epoche.“ Ein „coffee to go“ zwischen Wohnung und Arbeitsplatz, ein Hörbuch neben der Hausarbeit, das Zeitunglesen am stillen Örtchen – viele Dinge gehen nur noch nebenher. Uhren werden technisch aufgerüstet und zu „Agenten der Gleichzeitigkeit“. Damit wächst auch der Entscheidungsstress. Die Gleichzeitigkeit beeinträchtigt die Konzentrationsfähigkeit: „Multitasking ist nicht möglich.“ Die Kopplung von Zeit über Zins ans Geld führt dazu, dass Zinszahler ärmer und Zinsnehmer reicher werden. Decher: „Im Westen führt das durch Zerbrechen der Mittelschicht tendenziell zur Zwei-Klassen-Gesellschaft“. Und weiter: „Es ist unsere Art des Wirtschaftens, die für den Zeitdruck verantwortlich ist.“