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Eine Reise ins völlig Ungewisse

Bärbel Kuhn und Matthias Kirchbach gaben Einblicke in die Anfangszeit der „Ausländerbeschäftigung“ im Siegerland

Psychologen verstehen unter Erinnerung die mentale Wiederbelebung früherer Erlebnisse und Erfahrungen. Erinnerungsorte als Forschungsobjekte und auch Gegenstände des Wissenschaftstransfers stellten die Historikerin Prof.in Dr. Bärbel Kuhn und Doktorand Matthias Kirchbach bei Forum Siegen vor (siehe auch: https://zeitraum-siegen.de/). Der Titel lautete „Einwanderungsgesellschaft im Strukturwandel – Migration, Arbeit, Kultur im Siegerland“. Das Konzept der „Erinnerungsorte“ wurde in den 1980er Jahren in Frankreich entwickelt. Im Blickpunkt stehen kollektive Erinnerungen, die identitätsbildend sein können oder anregen, über Identität nachzudenken. Orte sind dabei nicht immer mit Verortung gleichbedeutend, sondern können auch Bräuche, Persönlichkeiten etc. sein und müssen gesellschaftliche Relevanz besitzen.

Eine Frage, die die Wissenschaftler*innen bewegt, ist die nach dem Entstehen einer regionalen Erinnerungskultur. Matthias Kirchbach beschäftigt sich im Rahmen seiner Doktorarbeit mit der Erinnerung so genannter Gastarbeiter seit den 1960er Jahren im Siegerland. Während dieser Zeit begann der Strukturwandel weg vom Bergbau und Stück für Stück hin zur modernen Dienstleistungsgesellschaft der heutigen Zeit.

Rund zehn Jahre nach Kriegsende begann in Deutschland das „Wirtschaftswunder“. Die Wirtschaft startete durch und benötigte Arbeitskräfte. Die wurden schließlich auch im Ausland gesucht – zuerst vor allem in Italien, Griechenland und Spanien, dann auch in Ländern wie der Türkei und Tunesien. Kirchbach: „Unser Interesse am Strukturwandel gilt den Erfahrungen von Menschen und den Auswirkungen des Strukturwandels auf die Biografien von Migrantinnen und Migranten.“ Dabei sei klar, dass Erinnerungen immer zuvorderst subjektiv seien. Lebens- und Arbeitserfahrungen prägten nicht zuletzt das Geschichtsbewusstsein einer Region. Der Begriff „Region“ müsse dabei dynamisch verstanden werden, nicht statisch. Regionen würden von Menschen gebildet.

Die „Ausländerbeschäftigung“ setzte im Siegerland zeitversetzt ein. Erst einmal wurde das Arbeitnehmerpotenzial in der Region ausgeschöpft. Zu Beginn der 1960er Jahre wurden im Siegerland 965 Beschäftigte aus dem Ausland – fast ausschließlich aus Italien und Spanien - gezählt, 1970 waren es 9071. Die Bundesrepublik hatte seit 1955 mit Staaten Anwerbeabkommen geschlossen, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit befristeten Arbeitsverträgen nach Deutschland holen zu können. Im Verlauf der Zeit wurde der Mangel an Arbeitskräften so drückend, dass Unternehmen sich selbst auf die Suche begaben. Der überwiegende Teil der angeworbenen Menschen besaß bei Reisebeginn keine Kenntnis der deutschen Sprache.

Doktorand Kirchbach führte Interviews mit vormaligen Gastarbeitern. Drei von ihnen stellte er im Forum exemplarisch vor – darunter einer seinerzeit 17-jährige Griechin, die nach dem Tod des Vaters im Jahr 1967 die große Familie aus Deutschland zu ernähren suchte; einen 27-jährigen türkischen Schlosser und Schweißer, der gewerkschaftlich engagiert war und in der Heimat Konflikte mit dem Arbeitgeber hatte; einen 18-jährigen Andalusier, der auf eigene Faust nach Deutschland reiste, um zu arbeiten und der Armut im Heimatland zu entkommen. Für alle drei Menschen bedeutete der Aufbruch eine Reise ins Ungewisse. Alle drei fanden Arbeit, allerdings unterschiedlicher Qualität im sekundären Sektor von Produktion und Dienstleistung.

Matthias Kirchbach: „Ein Viertel der Angeworbenen war weiblich. Sie arbeiteten überwiegend im Bereich Glas, Keramik,Textil oder in Gaststätten und den häuslichen Diensten.“ Die Gastarbeiter kamen inmitten des Strukturwandels und erlebten und gestalteten diesen mit. Dennoch war ihr Leben mit Blick auf Befristungen vorerst ungewiss: „Persönliche Entscheidungen wurden häufig vertagt.“ Mit zunehmender Stabilisierung der Arbeitsverhältnisse und dem Entstehen eigener kultureller Organisationen wurden diese Entscheidungen in Form beispielsweise von Familiengründungen und Familiennachzug getroffen.

Mit den 1970er Jahren endete das deutsche Wirtschaftswunder. Die Arbeitslosigkeit stieg an, nicht zuletzt auch aufgrund zunehmender Automatisierung von Produktionsabläufen. Der deutsche Staat gab Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern in den 1980er und 1990er Jahren Anreize zur Rückkehr in ihre Heimatländer. Etliche nahmen diese Angebote an, vor allem, wenn die Qualifikation gering geblieben war. Andere blieben – so die drei angeführten Beispielgeber*innen.

Für Frauen gab es zu dieser Zeit kaum Weiterqualifizierungsangebote. Ihnen war überwiegend der Platz in der Familie zugedacht. Ausnahmen waren häufig schicksalsbedingt, beispielsweise, wenn Frauen zu Familienernährerinnen werden mussten. Alle drei in den Beispielen genannten Menschen erreichten in Deutschland das Rentenalter. Nur der vormalige Gastarbeiter aus Spanien kehrte im Ruhestand dauerhaft in die (alte) Heimat zurück.

Mit seiner Doktorarbeit möchte Matthias Kirchbach eine Lücke in der regionalen Erinnerungskultur schließen, da der Blick auf die so genannten „Ausländerbeschäftigten“ bislang vernachlässigt wurde und diese seit Jahrzehnten das kulturelle und auch das Arbeitsleben in der Region mitgestalten und auch mitprägen.