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Menschen können über sich hinauswachsen

Über den Status der „Provinz“: Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht zu Gast bei Forum Siegen

„Nachgefragt“ lautete – analog zum Thema des Wissenschaftsjahrs 2022 – das Oberthema der öffentlichen Vortragsreihe Forum Siegen der Universität Siegen im Sommersemester. Dieses ging nun mit einem besonderen Gast und Vortrag zu Ende. Der Romanist, Literaturwissenschaftler und Publizist Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University, vormals auch Universität Siegen) beschäftigte sich mit dem Thema „Über den Status der ,Provinz‘ in der deutschen (und europäischen) Kulturgeschichte“.

Über sein Buch „Provinz“ – Von Orten des Denkens und der Leidenschaft ist in einer Notiz des Kampen Verlags zu lesen: „Die Provinz hat keinen guten Ruf. Sie gilt als verschlafen, rückständig und piefig. ,Provinziell‘ zu sein, lässt sich daher niemand gerne nachsagen. Wer hip, modern sein und am Puls der Zeit leben will, muss sich in Berlin oder einer der Metropolen dieser Welt herumtreiben. Vergessen wird jedoch oft, dass das geistige und kulturelle Leben Deutschlands jahrhundertelang in der Provinz stattfand und bis heute stattfindet – man denke nur an Weimar, Heidelberg, Tübingen oder Marburg. Eine Metropole gab es lange Zeit nicht. Die Provinz war Ort des Aufbruchs, des intellektuellen und wirtschaftlichen, aber auch des erotischen, wie die französische Literatur des 19. Jahrhunderts belegt. Von Würzburg über Bochum und Siegen nach Palo Alto: Der Weltbürger Hans Ulrich Gumbrecht hat fast ausschließlich in der Peripherie gelebt. Da, wo sich Hightech-Unternehmen, Forschungsinstitutionen und viele der besten Universitäten der Welt befinden. Das Silicon Valley steht paradigmatisch für diesen Trend. Ist die Provinz vielleicht doch besser als ihr Ruf?“

Diese Frage bejahte Gumbrecht, der zwischen 1983 und 1989 in Siegen forschte und lehrte und im Pfarrhaus der Nikolaikirchen-Gemeinde mit seiner Familie wohnte. Gumbrecht präsentierte bei Forum Siegen keine Zusammenfassung seines Buches, „sondern ein Weiterdenken“. Für ihn bleiben die Siegener Jahre in positiver Erinnerung. Gumbrecht, 1948 in Würzburg geboren, im Rückblick auf seine Kindheit am Main: „Ich kenne und teile mit Siegen das Gefühl der Provinzstadt.“ Und weiter: „Es gibt ein spezifisches deutsches Provinzgefühl. Würzburg liegt wie Siegen in einem Tal, umgeben von ländlichen, wohlhabenden Dörfern.“ Die Tallage vermittle eine gewisse Enge. Würzburg gelte zudem als eine der Hauptstädte der Gegenreformation. Gumbrecht: „Das alles ergibt eine spezifische Ambivalenz unter deutschen Bedingungen, fern von Metropolen.“ Dieses Fernabsein werde verbunden mit der Vorstellung schöner Gebäude und kulinarischer Genüsse, aber auch mit einer ironischen Reflexion derselben.

In Deutschland gebe es die Tendenz, in der „Provinz“ zu arbeiten und die Wochenenden in Metropolen zu verbringen. In Ländern wie Frankreich, Portugal, Spanien und England gebe es Arbeit in Metropolen, an den Wochenenden und im Rentenalter ziehe es die Menschen aber aufs Land. Gumbrecht: „Die Ambivalenz der Provinz ist nirgendwo so ausgeprägt wie in Deutschland.“ Dabei zeige die Geschichte, dass abgelegenere Städte zumindest zeitweise zu „Orten des Geistes“ in Deutschland geworden seien. Als Beispiele führte der Gast Weimar und Marburg an. Dafür brauche es Gestalter und Gestalterinnen wie seinerzeit Großherzogin Anna Amalia in Weimar und ihr Sohn Karl August. Wieland, Goethe, Schiller, Fichte, Hegel kamen nach Weimar und Jena und führten die Region zur geistigen Blüte. Madame de Stael zog es von Paris zuerst nach Weimar ins Exil. Durch die Zersplitterung Deutschlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte eine „milde, friedliche Anarchie“, die es jedem / jeder gestattete, individuelle Sichtweisen zu entfalten. Mit dem Tod Goethes verlor Weimar diesen besonderen Status des „Thinktanks“.

Marburg wurde in den 1920er zum philosophischen Zentrum Deutschlands, wo nicht nur Martin Heidegger forschte und lehrte. Angestoßen wurde diese Entwicklung durch einen Kanzler, dem hochprominente Berufungen gelangen. Zerrieben wurde dieser Status in den 1930er Jahren durch die Nationalsozialisten. Insofern, bilanzierte Gumbrecht, habe sich die Gründung der Universität Siegen im Jahr 1972 bereits als nachhaltig erwiesen.

In Frankreich, so der Gast aus USA, werde unterschieden zwischen Metropole (Paris) und Provinz. Ein Blick auf realistische Romane des 19. Jahrhunderts zeige, dass Paris als Stadt, „wo die Phänomene zu gefährlichen Extremen geraten“, und die Provinz als Ort der Leidenschaft, die zum Scheitern verurteilt ist, dargestellt werde. Die Liebe scheitere an der Kälte der Hauptstadt, die Karriere verspreche.

International, so Gumbrecht, würden die Metropolen möglicherweise durch Megalopolis ersetzt. Diese Mega-Städte wachsen durch stetige Zuwanderung. Das Leben in ihnen gestalte sich zunehmend individuell und isoliert. Es gebe aber eine kosmopolitische Kommunikation beispielsweise auf Basis der englischen Sprache. Dem entgegen steht suburbanes Leben wie beispielsweise im Silicon Valley. Diese nicht determinierte suburbane Zone, die in der Regel nicht dauerhaft bestehe, gebe Menschen durch diese Instabilität und das Nicht-Konkurrieren zu Metropolen die Möglichkeit, über sich hinaus zu wachsen. Deshalb könnten diese Regionen besonders geeignet sein für Startups. Nicht determinierte suburbane Zonen verfügten in der Regel über „keinen Diskurs der Integration“. Dieses Potenzial spricht Gumbrecht auch Siegen zu.