Dem Geist in der Mathematik stehen viele Türen offen
Sie bildet das Rückgrat für eine Reihe wissenschaftlicher Disziplinen / Gespräch mit Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Wills
Presseresonanz vom: 06.07.2004
Erschienen in: Siegener Zeitung
sz Siegen. Der »Verzicht auf Anwendungsgebundenheit... geht
schließlich so weit, dass mathematische Theorien ,als
Selbstzweck entwickelt werden. Sie dienen dann gleichsam nur
noch der gehobenen Zerstreuung von Mathematikern.« Solche
Worte, während der Neuorientierung nach den 68er Unruhen von
drei namhaften Wissenschaftstheoretikern niedergeschrieben,
sind Balsam auf die Seele derer, die sich von der Mathematik
schon immer gepeinigt fühlten. Diese Kritiker dürften indes
verstummen, wenn ihnen einige der Innovationen versagt blieben,
welche von den Fachvertretern in ihrer angeblichen »gehobenen
Zerstreuung« ermöglicht worden sind.
Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Wills, international anerkannter,
emeritierter Mathematiker der Universität Siegen, weist
gegenüber der SZ z. B. darauf hin, dass Vertreter seines Fachs
maßgeblich daran beteiligt waren, dass man heutzutage über
tausende Kilometer hinweg störungsfrei telefonieren, fernsehen
oder Konzerte übertragen kann. Die Basis dafür lieferte die
gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von Claude Shannon
entwickelte Codierungstheorie. Sie erlaubt es, durch Zuordnung
von Zahlencodes zu den einzelnen Tönen diese akustisch rein
wiederzugeben, wenn nur ein Teil des Codes richtig ankommt.
Zudem, so Wills, kann für große Telefongesellschaften wie etwa
AT&T in den USA die Entwicklung eines besseren Codes durch
Mathematiker zu Kostensenkungen in Millionenhöhe dadurch
führen, dass die Masse der zu sendenden Signale gesenkt wird.
Und dennoch, eigenartig ist es schon, dass sich die
mathematischen Gefilde in rein ideelle »Regionen« ausbreiten
lassen. Aus den anthropologischen Grundgegebenheiten lässt sich
solches zunächst gar nicht absehen. Nachweisbar ist da ein
realitätsgebundenes quantitatives Wahrnehmen sowohl einzelner
Gegenstände bzw. Individuen als auch räumlicher Verhältnisse.
Erst wenn die rein logischen Kompetenzen des Gehirns
hinzutreten, können die Arithmetik als die Lehre von der Zahl
und die Geometrie als die Lehre vom Raum (eigentlich: der Erde)
entstehen.
Offensichtlich ist es erst das logische Denken, welches es
erlaubt, von allem Realitätsbezug abzusehen und eine »reine
Erkenntnis« anzustreben, wie dies die alten Griechen taten. Sie
hätten die ausschließliche Anwendung der Mathematik für suspekt
gehalten, erläutert Wills. Deshalb fassten »Die Elemente«, das
Lehrbuch Euklids (4./3. Jahrhundert v. Chr.), eine Reihe von
Axiomen, also Grundsätzen, zusammen. Nur Archimedes (285 - 212
v. Chr.) war Pragmatiker genug, sich auch der Anwendung zu
widmen (mit der Wasserschraube usw.).
Immerhin war Euklid mit seiner Geometrie aber noch jener
Raumvorstellung verhaftet geblieben, die eine Grundgegebenheit
zu bilden scheint: dem dreidimensionalen Raum, in dem durch
einen Punkt abseits einer Gerade nur eine einzige Gerade mit
gleichbleibendem Abstand führt, die jene erste Gerade nicht
schneidet die Parallele. Erst Carl Friedrich Gauß (1777 -
1857), der bedeutendste Mathematiker, hat, so Wills, erwogen,
zu welchen Räumen man gelangen würde, wenn durch jenen Punkt
abseits einer Geraden zwei oder keine Gerade verliefen, die die
erste Gerade schneiden. Gauß habe aber die Reaktion seiner
Zeitgenossen auf diesen revolutionären Gedanken gescheut und
ihn nicht veröffentlicht, er wurde erst von N. I. Lobatschewski
und J. Bolyai und später von G. F. B. Riemann (1826 - 1866)
ausgearbeitet. Ausgerechnet die Annahme eines
»nichteuklidischen« Raums wurde dann für Albert Einstein (1879
- 1955) zu Beginn des 20. Jahrhunderts für seine Spezielle und
Allgemeine Relativitätstheorie unerlässlich.
Aber auch mathematische Annahmen, die nichts mehr mit der
Realität zu tun haben, können sinnvoll sein. So arbeiten
Mathematiker etwa mit n-dimensionalen Räumen, indem sie statt
von drei, von beliebig vielen Dimensionen ausgehen. Damit
lassen sich komplexe Probleme zunächst »geometrisieren«, wie
Wills darlegt. Ohne dass solche Annahmen noch durch Anschauung
zu unterlegen wären, lässt sich doch damit rechnen. So kann ein
Ölkonzern den Einsatz seiner Tankerflotte dadurch optimieren,
dass jeder Tanker zum Parameter wird, dem eine Koordinate
zugeordnet ist. Zum Schluss der Berechnung kommt man zu völlig
realistischen Ergebnissen, während die Raumannahmen keine Rolle
mehr spielen.
Mit Blick auf die eingangs erwähnte Kritik dreier
Wissenschaftstheoretiker stellt Wills aber auch klar, dass
mathematische Ansätze, für die sich auf absehbare Zeit keine
Anwendungen abzeichnen, in der Regel verkümmern. Dennoch bleibt
es insgesamt frappierend, dass eine reine Geisteswissenschaft
der Realität in vielem so nahe kommt, dass man auf sie nicht
verzichten kann. So öffnen sich dem Geist in der Mathematik
viele Türen: mit Blick auf eine große Fülle physikalischer
Sachverhalte, mit Blick auf betriebs- und volkswirtschaftliche
Problemstellungen, auf die Ingenieurwissenschaften usw.
Unter dem Gesichtswinkel der Wissenschaftstheorie zeigen sich
freilich auch Grenzen der Disziplin. So hatte der Philosoph und
Mathematiker B. Russell zusammen mit A. N. Whitehead zu Beginn
des 20. Jahrhunderts gestützt auf G. Frege u. a. eine
Theorie entwickelt, nach der sich die Mathematik voll auf die
Formale Logik zurückführen lassen sollte. »Die gesamte reine
Mathematik, soweit sie aus der Theorie der natürlichen Zahlen
abgeleitet werden kann«, so Russell, sei »nur eine Erweiterung
der Logik«. Dagegen bewies später K. Gödel, dass sich so nicht
alle Teilgebiete von Mathematik (und Logik) vollständig
darstellen lassen.
Solche Probleme, so Wills, spielen allerdings für Mathematiker
heute keine Rolle mehr: Sie arbeiten mit Axiomensystemen, die
derlei aussparen. Gleichwohl steht aber damit zugleich fest,
dass die Mathematik ihrer eigenen Grundlagen nicht wirklich
»mächtig« ist, was offenbar zugleich bedeutet, dass sich der
Geist in ihr auch nicht erschöpft. Nur würde sich für eine
Universität, die auf eigenständige Grundlagenkompetenzen in der
Mathematik verzichten wollte, sehr bald die Frage stellen, ob
sie überhaupt noch wirklich »Universität« ist.
Wills zeigt allerdings auch Verständnis für diejenigen in der
Universität, die an der »Siegener« Mathematik Kritik üben. Die
Probleme resultierten aus der frühen Phase der Hochschule und
der Vorgängerinstitutionen, als bei den Berufungen nicht auf
die Bedürfnisse aller derjenigen Disziplinen geachtet wurde,
die der Zuarbeit kompetenter Mathematikprofessoren bedurften.
Diese Probleme, so Wills ließen sich nun aber durch
Neuberufungen Schritt um Schritt lösen.