Das Leben der Boheme
Zum Tod des Germanisten Helmut Kreuzer
Presseresonanz vom: 05.08.2004
Erschienen in: Tagesspiegel online
In den Fünfzigerjahren war Stuttgart ein lebendiges
intellektuelles Zentrum der ansonsten eher betulichen
Bundesrepublik. Hier wirkte Max Bense, der Philosophie und
Informationstheorie zusammendachte. Der Psychotherapeut Ottomar
Domnick realisierte in Stuttgart seinen Spielfilm Jonas (1957),
der neuartige, verstörende Bilder fand. Von diesem Klima des
Austausches und der Grenzüberschreitung wurde der 1927 in
Feldstetten (Württemberg) geborene Helmut Kreuzer geprägt. 1956
promovierte er in Tübingen mit einer Arbeit über Hebbel, 1965
wurde er an der TU Stuttgart mit der bahnbrechenden Studie Die
Boheme habilitiert. Kreuzer enthüllt die antibürgerlichen
Lebensformen der Boheme als Ursprung der literarischen Moderne.
Rasch wurde er zum Exponenten einer Germanistik, die ihre
Methoden überdachte und Anschluss an Nachbardisziplinen suchte.
Etwa gleichzeitig mit Umberto Eco stritt Kreuzer dafür, E- und
U-Kultur nicht voneinander zu trennen, sondern als ein Feld
fließender Übergänge zu betrachten. In dem Band Mathematik und
Dichtung versammelte Kreuzer 1965 Positionen, die für eine
Synthese von naturwissenschaftlichen und
geisteswissenschaftlichen Fragen plädierten. 1971 gründete
Kreuzer Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und
Linguistik, die sich rasch zu einem internationalen
Diskussionsforum entwickelte. Früh hatte er erkannt, dass die
Literaturwissenschaft die audiovisuellen Ausdrucksformen von
Rundfunk, Film und Fernsehen nicht länger ignorieren konnte,
dass sie Verfahren entwickeln musste, um einem erweiterten
Literaturbegriff gerecht zu werden.
So wurde Helmut Kreuzer auf vielen Feldern zu einem Pionier
einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Germanistik: 1967
Ordinarius in Saarbrücken, 1970 Nachfolger von Benno von Wiese
in Bonn. Als er 1972 an die neu gegründete Gesamthochschule
Siegen und damit in die Provinz wechselte, reagierten viele
Fachkollegen mit Kopfschütteln. Doch Helmut Kreuzer wollte in
einer Hochschule neuen Typs an die Stuttgarter Anfänge
anknüpfen. Seiner Energie ist es zu verdanken, dass Siegen in
den 1980er-Jahren zu einem Zentrum der
literaturwissenschaftlichen Medienforschung wurde. Groß ist die
Zahl seiner Schüler, die er mit Liberalität und
freundschaftlichem Engagement förderte. Bis zuletzt war er
publizistisch aktiv, brachte Sammelbände zum Hörspiel und zur
Lyrik der 20er-Jahre heraus. Vieles ist aus
Arbeitszusammenhängen mit seiner Frau Ingrid entstanden, die
auch als Autorin hervorgetreten ist. 76-jährig ist Helmut
Kreuzer jetzt in Siegen gestorben.Karl Prümm
Der Autor ist Professor für Medienwissenschaft in Marburg und
langjähriger Mitarbeiter Helmut Kreuzers.
Quelle:
http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/05.08.2004/1283372.asp