Besonderer Ort für besonderes Buch
Siegener Autor Crauss präsentierte »Alles über Ruth« im Turm der Nikolaikirche
Presseresonanz vom: 27.01.2005
Erschienen in: Siegener Zeitung
dk Siegen. In die tiefschwarze Nacht hinaus geht der Blick
durchs regenbenetzte Fenster, vor dem unendlich viele vom Wind
hin und her gewirbelte Schneeflocken den Beobachter mit einem
hypnotischen Tanz in ihren Bann ziehen. Viel weiter unten liegt
die Krönchenstadt, hell erleuchtet und scheinbar völlig
geräuschlos. Von der Seite her dringt eine angenehme Stimme ans
Ohr, die in einem mal aufbrausenden und impulsiven, mal leicht
säuselnden und lakonischen Ton an diesem Abend u.a. pointiert
erzählt vom Rhein und »Verliebtsein in Siegen«, von Campari,
Jazz, Plastikleichen, einer Kneipe namens Wohnzimmer und einem
Affen, mit dem wahrlich nicht zu spaßen ist. Es ist die Stimme
des renommierten Siegener Autoren Crauss, der am Freitagabend
mit einer äußerst ansprechenden Autorenlesung seinen zweiten
Gedichtband »Alles über Ruth« vorstellte (erschienen 2004 in
der Reihe »Lyrikedition 2000« der Buch & Media GmbH).
Einen »spannenden und schönen Ort« hatte Crauss dafür gesucht,
und den hatte er auch gefunden: Die sehr zahlreich erschienenen
Besucher lud er nämlich hoch oben in das Turmzimmer der
Nikolaikirche, nur wenige Meter unter dem über Siegen
thronenden Krönchen. Nach dem mühsamen Aufstieg über steile,
enge Treppen wurde es dort zwar etwas eng, dafür entstand aber
schnell eine intime und gemütliche Atmosphäre. Wegen
Platzmangels positionierte sich Crauss kurzerhand unprätentiös
im Türrahmen und auf dem Flur. So kam jeder in den Genuss
seiner bis in die kleinsten Nuancen rhetorisch ausgefeilten,
die Sinne stimulierenden Vorträge.
Nach der Lesung ging es dann hinaus auf die Balustrade, die
eine atemberaubende Sicht über Siegen und Umgebung bot. Der
erste, längere Teil der Lesung fand zuvor auf der Empore statt,
wo die fast schon übermächtigen hohen Bögen einen Kontrast
darstellten zu den gefühlvoll vorgetragenen Gedichten. Und zum
klaren, berührenden Gesang der Dortmunder Mezzo-Sopranistin
Beate Jordan und den sanften, balladesken Tönen des lettischen
Gitarristen Andris Eglajs.
Thematisch lässt sich der neue Gedichtband »Alles über Ruth« in
drei Komplexe gliedern: Zum einen sind da die Gedichte über die
Freundesgruppe rund um Ruth, einer selbstbewussten,
unerschrockenen Frau, die schnell eifersüchtig werden kann, die
Männer fest im Griff hat und Crauss-Kennern bereits bestens
bekannt ist. Zum anderen Tanzgedichte, in denen der Autor im
Auf und Ab rhythmischer Bewegungen schwelgt. Zu guter Letzt
beschäftigt sich ein Teil der Gedichte mit unheimlichen
Begegnungen und Situationen wie einer Fahrt auf einer
menschenleeren, verschneiten Autobahn.
Im Gegensatz zu Crauss erstem Band »Crausstrophobie« sind die
Texte in »Alles über Ruth« weniger experimentell und
sprachspielerisch. Nichtsdestotrotz muss man aber nicht
verzichten auf den typischen Crauss-Stil mit seinen mitunter
absurden Brechungen und kreativen Wortneuschöpfungen sowie die
bevorzugten Themen des Autors: Gott, Engel und die berühmten
menschlichen vier Buchstaben.