Unabhängigkeit ist besonders wichtig
Siegener Prof. Schumann untersuchte Schulsozialarbeit an Frankfurter Schule aus Nutzersicht
Presseresonanz vom: 12.10.2005
Erschienen in: Siegener Zeitung
kk Siegen. Der Begriff Evaluation ist derzeit viel
gebraucht. In Zeiten leerer Kassen werden Angebote auf
Qualität, Kosten-Nutzen-Relation und sogar Erfordernis geprüft.
Trifft die Begutachtung zudem einen Bereich, dessen Standards
nicht allgemein gültig definiert sind, können die Ergebnisse
Modellcharakter erreichen. Ein solches Experimentierfeld ist
immer noch die Schulsozialarbeit. Deshalb war es der
Arbeiterwohlfahrt als freier Träger der Schulsozialarbeit an
der Frankfurter Ernst-Reuter-Schule II (Klasse 5 bis 10) ein
Anliegen, die Arbeit der drei Sozialarbeiter sowie das gewählte
Modell nach ISO 9000 zertifizieren zu lassen.
Auf Wunsch des Geldgebers, der BHF-Bank-Stiftung/Frankfurt,
sollte eine wissenschaftliche Erhebung erfolgen. Deshalb
klopften die Hessen beim Siegener Erziehungswissenschaftler
Prof. Dr. Michael Schumann an die Tür, der im Zentrum für
Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) tätig ist.
Schumann und seine Mitarbeiter, die Sozial-Pädagogin Anja Sack
und der Dipl.-Psychologe Till Schumann, schlossen das
einjährige Projekt mit dem Titel »Schulsozialarbeit. Qualität
im Urteil der Nutzer« nun ab. Die Ergebnisse werden im nächsten
Frühjahr in Buchform publiziert.
Schumann: »Das ist sicherlich einmalig in Deutschland.« Doch
nicht nur die Zertifizierung ist nach Ansicht der
Wissenschaftler außergewöhnlich, insgesamt weisen sie der
Schulsozialarbeit an der Ernst-Reuter-Schule II Modellcharakter
zu. Der Erziehungswissenschaftler: »Das fachliche Niveau ist
hoch, es gibt vorbildliche Strukturen und die Schulsozialarbeit
ist bei vollständiger Wahrung ihrer Selbstständigkeit in die
Schule integriert.« Der Unabhängigkeit kommt besondere
Bedeutung zu. Schumann: »Die drei Sozialarbeiter haben einen
eigenständigen Bildungsauftrag. Sie werden nicht in eine
Hilfslehrerfunktion abgedrängt.«
Die Ernst-Reuter-Schule II liegt in der Frankfurter
Nordwest-Stadt. Das Umfeld weist mittlerweile gemischte
Bevölkerungsstrukturen auf. Etwa 20 Prozent der über 1000
Schüler sind Migranten. Schumann: »In der Schulsozialarbeit
sind viele Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, oder
die daheim wenig betreut werden.« Bereits in den 60er Jahren
als Reformschule gegründet, wurde an der Ernst-Reuter-Schule
Mitte der 70er Jahre Schulsozialarbeit eingeführt.
Um deren Qualität und Auswirkungen aus Sicht der Nutzer zu
erkunden, führten die Siegener zuvorderst eine umfangreiche
qualitative Befragung unter Schülern, Lehrern und Eltern durch,
bevor sie eine Fragebogenaktion unter allen Schülern starteten.
Schumann: »Wir wollten in Einzel- und Gruppeninterviews
erfahren, wie die Schulsozialarbeit erlebt wird und wie die
Leistungen bewertet werden.« Die Übereinstimmung der Aussagen
war groß, die Sichtweisen von Schülern und Lehrern indes
verschieden. Der Wissenschaftler: »Die Schüler sahen die
Schulsozialarbeit mehr unter dem Lebensweltaspekt, als Ort
außerhalb des Klassenraums, in dem sie aktiv sein können. Die
Lehrer sehen die Schule eher als System, das ohne die
Schulsozialarbeit geradezu unwirtlich wäre.« Ohne den Einsatz
der Sozialarbeiter gäbe es nach Einschätzung der befragten
Pädagogen mehr Disziplinlosigkeit und Gewalt an der Schule. Vor
allem die Vermittlung sozialer Kompetenzen vermindere mögliche
Probleme. Schumann: »Die Schulsozialarbeit kommt dem Unterricht
unmittelbar zugute.« Die ganze Schule stehe dahinter.
Die Begutachtung komplettierte eine Reihe teilnehmender
Beobachtungen in den fünf Segmenten der Schulsozialarbeit. Ein
Teilstück ist die Schul- und Berufsberatung in Klasse 9 und 10.
Schumann: »Diese ist sehr qualifiziert und engagiert. In vielen
Fällen führte sie zur erfolgreichen Vermittlung einer
Lehrstelle.« Die Schulsozialarbeiter bieten zudem den
Pausentreff an, der bei den jungen Leuten regen Anklang findet.
Zur Nachmittagsbetreuung gehört die Gruppenarbeit. Schumann:
»Ich konnte beobachten, wie die Schüler sich in einer
Modellbaugruppe um ein Thema herum ohne Anleitung selbst
organisierten und Lösungen suchten und fanden.«
Die Schulsozialarbeiter organisieren des Weiteren
Erlebnisangebote während der Ferien und übers Wochenende. Dazu
gehören Kletter- und Paddelfreizeiten. Der
Erziehungswissenschaftler: »Es geht vor allem darum, dass sich
die Gruppen selbst organisieren und autonom steuern.« Last not
least rundet die Individualberatung das Angebot ab. Schumann:
»Die Individualberatung ist niederschwellig, geschieht auf
Augenhöhe, und wird sehr stark genutzt.« Ob es um Probleme mit
Lehrern oder Noten geht, um Streit zwischen Schülern, oder um
Ärger im Elternhaus: Die Sozialarbeiter dienen als
Ansprechpartner und Vermittler.
Diesen »lebensweltlichen Ansatz« der Schulsozialarbeit erachtet
der Hochschullehrer in Anbetracht gesellschaftlicher
Entwicklungen als zunehmend wichtig für Schüler und Schulen.
Ein Knackpunkt ist dabei die Integration des eigenständigen
Systems Sozialarbeit. Schumann: »Das muss über Jahre hinweg von
unten wachsen.« Um Vorteile zwischen den Berufsgruppen an der
Schule gar nicht erst aufkeimen zu lassen, denken die Siegener
daran, künftig die Lehrerausbildung und die Ausbildung der
Sozialarbeiter stärker miteinander zu verbinden.