Katrin Bückmann
Mit „Stadtmomenten“ Demenz als Chance begreifen können
Demenz ist jenes Thema, welches in Gesprächen über eine alternde Gesellschaft und eine sich wandelnde Demografie immer wieder auftaucht. Demenz als Problem, als Stigma, als Ausschlusskriterium, gar als letzte Station vor dem Ende? Dieser noch nicht vollständig erforschte Verfall kognitiver Fähigkeiten bedeutet für viele Betroffene einen dramatischen Ausschluss vom täglichen Leben, eine Abgabe der Selbstständigkeit und vielleicht den Abbruch von Kontakt zu Freunden und Familie.
Katrin Bückmann möchte dem entschieden entgegen treten. Die Siegenerin hat 2016 das Projekt „Stadtmomente“ ins Leben gerufen, in welchem sie Menschen mit Demenz eine Alternative zu klassischen Stadtführungen anbietet. Für sie ist Demenz kein Problemfall, sondern eine Möglichkeit die letzten Jahre des Lebens noch einmal positiv bereichert zu verleben. Ende der Neunziger hatte sie an der Universität Siegen ihr Diplomstudium „Architektur/Städtebau“ absolviert, im Anschluss jedoch zunächst in der Pflegebranche gearbeitet. Dadurch und durch den Kontakt mit dem Demenz-Servicezentrum Region Südwestfalen (DSZ-SW) kam ihr die Idee, ein Projekt speziell für Menschen mit Demenz zu initiieren. Ihre Tätigkeit untermauert sie aktuell mit einem weiteren Studium an der Universität Siegen im Bereich der Sozialen Arbeit mit Schwerpunkt auf kultureller Bildung und Arbeit mit älteren Menschen.
Demenz, so erklärt Katrin Bückmann im Gespräch, sei nicht der Verfall des Denkens per se, sondern eine teilweise Degeneration der kognitiven Fähigkeiten. Die betroffenen Menschen behalten sehr wohl ihre Sozialfähigkeit bei und sind nach wie vor in der Lage Emotionen zu empfinden und diese auszudrücken; nur eben oft nicht mehr in Worten. Es ginge ihr bei den Stadtmomenten um Assoziationen, Emotionen und das Erleben einer schönen Zeit, sagt sie, und zwar sowohl für Betroffene, als auch deren Begleitpersonen. Ihr ehrgeiziges Ziel, jedem Menschen bei den Spaziergängen eine positive Erfahrung bereiten zu können, hält sie eisern durch.
Während ihres Studiums an der Universität Siegen im Bereich Architektur und Städtebau arbeitete sie zwischenzeitlich als Stadtführerin für die Gesellschaft Für Stadtmarketing Siegen e.V.. Nach ihrem Abschluss um die Jahrtausendwende nahm sie jedoch zunächst eine Tätigkeit in die Pflegebranche auf und befasste sich dort mit Qualitätssicherung und Planungen. Dies habe sich aus diversen kleineren Jobs während des Studiums irgendwann ergeben, sagt sie. Dort sei dann ihre Verbindung zu Menschen mit Demenz entstanden, erzählt sie. Es geht ihr darum, diese gesellschaftlich nicht unter den Tisch fallen zu lassen, denn allein im Raum Siegen sind etwa 1,2% der Menschen von unterschiedlichen demenziellen Erscheinungsformen betroffen. Dies ist eine statistische Schätzung. Demenz kann unterschiedliche Ausprägungen haben und die Diagnose einer Demenzkrankheit ist keine schwarz-weiße Grenze, die den Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben bedeutet.
Der Gegenentwurf zur klassischen Wissensvermittlung
Die Stadtmomente, welche Katrin Bückmann als Gegenentwurf anbietet, finden im Siegener Schlosspark statt. Das Gelände sei gepflegt, gut zugänglich und außerdem etwas isoliert vom lauten Stadtleben, sagt sie. Selten nimmt sie mehr als fünf bis sechs Personen mit, einfach um sich auf jeden Menschen einlassen zu können. Schon von Anfang an stand sie dafür im Austausch mit dem im oberen Schloss ansässigen Siegerlandmuseum und nutzt deren bereitwilliges Angebot eines Kaffee-Empfangs für ihre Führung. Es sei wichtig, dass alle Teilnehmer*innen sich kurz kennenlernen und die Atmosphäre entspannt und gemütlich ist, erklärt Katrin Bückmann ihr Programm. Demenz zeichne sich durch eine verstärkte Konzentration auf die Emotionsebene aus und wenn diese zurückhaltend und verschlossen sei, so hätten die Menschen auch kein positives Erlebnis bei den Stadtmomenten. Ihre Spaziergänge durch den Park dauern etwa eineinhalb Stunden, variieren aber nach Tempo der Senioren. Katrin Bückmanns Ziel ist dabei keine Wissensvermittlung, wie man sie von konventionellen Stadtführungen kennt, sondern das Verleben einer gemeinsamen schönen Zeit. Sie sieht sich als Impulsgeberin für Assoziationen zu beispielsweise dem Ausblick, dem Schloss, der Stadtgeschichte, oder auch ganz anderen Erinnerungen. Kein Stadtmoment sei je, wie ein zweiter gewesen, erzählt sie im Gespräch, denn die Menschen bringen immer ihre eigenen Geschichten mit. Oft seien diese netter und amüsanter, als alles was Katrin Bückmann im Vorfeld planen könnte, meint sie und erzählt davon, wie eine ältere Frau berichtete, dass ihr erster Kuss im Schlosspark stattgefunden habe. Die zu einer Erinnerung gehörenden Emotionen sind oft eine Art Abkürzung im Denkprozess von Menschen mit Demenz, da ihre emotionale Wahrnehmung nicht vom Verfall betroffen ist, lediglich die Befähigung diese in Worten auszudrücken.
Eine andere bemerkenswerte Geschichte trug sich ebenfalls mit einer von Demenz betroffenen Frau während der Stadtmomente zu. Die Seniorin, deren Kurzzeitgedächtnis stark eingeschränkt war und die vorher auch nur sehr widerwillig aus ihrem gewohnten Umfeld mit zu den Stadtmomenten gekommen war, sprach etwa einige Stunden nach dem Schlossparkspaziergang ihren (nicht dementen) Ehemann an und sagte: „Wir haben heute einen schönen Nachmittag im Schlosspark verbracht“. Dieser fast beiläufige Satz zeigt jedoch, dass es eine nicht zu verachtende emotionale Komponente im Zusammenhang mit dem Knüpfen von Erinnerungen gibt, die bei Menschen mit Demenz noch viel entscheidender ist. Emotion als Brücke vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis gewissermaßen. Diese Brücke zu schlagen, darin findet Katrin Bückmann ihre Aufgabe bei den Stadtmomenten. Sie nennt sich dabei selbst eine „Momentgeberin“. Die Impulse, die sie gibt haben genau diesen Zweck. Sie schaffen eine positive Emotion, die den Verfall der Kognition ein winziges Quantum verlangsamt, jedoch für die Betroffenen unbezahlbar ist.
Das Projekt als Konzept für andere Städte
Katrin Bückmanns Version des Projektes ist der Export in andere Städte und Regionen als Konzept. Sie selbst möchte Siegen treu bleiben, gibt aber bereits anderen Städten aus ganz Deutschland ihre Ideen, Konzepte und Arbeitsweisen an die Hand, damit diese selbst Stadtmomente nach dem Siegener Vorbild anbieten können. Natürlich sei sie eine Idealistin, meint sie, doch genau das treibe sie an all diese Dinge unter die Menschen zu bringen. Auf die Frage, ob sie selbst Angst habe einmal an Demenz zu erkranken, lacht sie und sagt, dass sie mit daran arbeite, bis dahin das Stigma ausgeräumt zu haben und vielleicht dann einmal selbst auf der anderen Seite an einem Stadtmoment teilnehmen zu können, doch Angst habe sie nicht.
Inzwischen ist Katrin Bückmann noch einmal als Studentin an der Universität Siegen zurückgekehrt, für ein Studium der „Sozialen Arbeit“. Hiermit schafft sie sich die berufliche und akademische Untermauerung ihrer Vision und Tätigkeit. Es gehe ihr nicht darum, sich universitär für den Umgang mit Menschen zertifizieren zu lassen, jedoch vielmehr darum das eigene Wissen zu fundieren und zu erweitern. Obwohl sie sich gerade in ihrem letzten Semester des Bachelorstudiums Soziale Arbeit befindet, möchte sie das Thema Demenz in Zukunft weiterhin betrachten, sowohl in Projekten wie den Stadtmomenten als auch akademisch im Zuge ihres geplanten Masterstudiums.
Das Thema Demenz sollte akademisch und gesellschaftlich nicht ausschließlich auf der Ebene der Prävention gedacht werden, sondern ganz klar in der Situation der Betroffenen (Menschen und ihre Angehörigen). Vielleicht können Menschen wie Katrin Bückmann uns helfen, diese Situation mit etwas anderen Augen zu sehen.
Dieses Porträt basiert auf einem Interview mit Katrin Bückmann und wurde von Maximilian Schlechtinger verfasst.