Marcel Beyer
Marcel Beyer, geboren 1965 in Tailfingen bei
Stuttgart, studierte nach dem Abitur Germanistik,
Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der
Universität Siegen (bis 1992) und erwarb den
Magisterabschluss. Anschließend blieb er noch bis 1995
am Graduiertenkolleg in Siegen.
Marcel Beyer hat sich als freier Schriftsteller
innerhalb Deutschlands und darüber hinaus einen Namen
gemacht. Neben seinen Romanen wie "Menschenfleisch"
(Suhrkamp 1991), "Flughunde" (Suhrkamp 1995) oder
"Spione" (DuMont 2000) verfolgt er in "Falsches Futter"
(Gedichte, Suhrkamp 1997) oder "Erdkunde" (Gedichte,
DuMont 2002) auch einen lyrischen Ansatz. In seinen
Werken setzt er sich mit menschlicher Geschichte und
Kultur auseinander sowie mit dem Schreibwerkzeug
selbst, der Sprache, er hinterfragt die Möglichkeiten
ihres Einsatzes und ihrer Wahrnehmung.
Heute gehört Herr Beyer zu den reflektiertesten Autoren
der jüngeren Generation und hat bereits zahlreiche
Auszeichnungen und Literaturpreise an sich nehmen
dürfen, wie etwa den Berliner Literaturpreis und die
Johannes-Bobrowski-Medaille (1996), den Preis des
deutschen Kritikerverbandes (1996) und den
Uwe-Johnson-Preis (1997) sowie für sein episches und
lyrisches Gesamtwerk den Hölderlin-Preis von Stadt und
Universität Tübingen im Jahr 2003.
Zum Studium in Siegen
Warum haben Sie sich für diesen Studiengang/ diese Studienfächer entschieden?
Deutsch und Englisch waren meine
Leistungskursfächer, ich schrieb bereits, und so wählte
ich das Naheliegende. Medizin hätte mich auch
interessiert, mir aber keine Zeit mehr zum Schreiben
gelassen.
Eine Frage, die hier nicht steht, die ich aber trotzdem
beantworten möchte: Warum haben Sie sich gerade für
Siegen entschieden?
Mein Zivildienst endete im Januar - an vielen
Universitäten konnte man sich aber jeweils nur zum
Wintersemester neu einschreiben. Ich schaute mir die
Uni in Köln an (die Düsseldorfer Uni kannte ich schon)
und fand mich in einem Seminarraum ohne Fenster - wo
ich mich an den Spruch meines Englischlehrers
erinnerte: »Die Kölner Uni ist schön - das einzige, was
stört, sind die Studenten.« Ich studierte
Vorlesungsverzeichnisse und stellte fest, in Köln hätte
ich die Veranstaltungen, die mich interessierten, erst
nach Jahren überhaupt besuchen dürfen. Die einzige Uni,
deren Angebot mir einen (Probe-)Stundenplan von zwanzig
Stunden mit Veranstaltungen ermöglichte, die mich
durchweg interessierten, war Siegen. Außerdem fielen
mir Namen auf: etwa Professor Riha, Professor Siegfried
J. Schmidt, die mir in Lektürezusammenhängen bereits
untergekommen waren. Die klassische Moderne, die
nicht-realistische österreichische Literatur
Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg - diese Felder
interessierten mich damals (und sind mir bis heute
unverändert wichtig), wurden aber an anderen
Universitäten nicht zur Kenntnis genommen. Da fiel die
Entscheidung leicht.
Wie lautet Ihr Urteil über die Effizienz des Studiums im Hinblick auf Ihren heutigen Beruf?
Das Studium war zugleich sehr theorielastig und sehr praxislastig, also ideal. Die Schärfung des Den-kens und der Argumentationsfähigkeit, direkter Kontakt mit Theoriegrößen im Graduiertenkolleg, daneben Lektoratsarbeiten, Arbeit am Text, das Erlernen der deutschen Schreibschrift etc., und nicht zuletzt die Offenheit der Dozenten für Themenvorschläge der Studierenden.
Wie lautet Ihr persönlicher Kommentar zur Universität Siegen insgesamt?
Enger, freundlicher Kontakt mit Dozenten und Kommilitonen, eine gute Bibliothek, gute Verpflegung. Atmosphärisch war es nach sechzehn Uhr - wie wohl überall - manchmal ein bisschen kühl, dafür hatte man dann Ruhe zum Arbeiten.
Wie haben Sie Siegen als Studienstadt empfunden?
Kaum zur Kenntnis genommen. Es gab, glaube ich, eine Fernfahrerkneipe. Heute soll das - habe ich mir von CRAUSS glaubhaft versichern lassen - alles ganz anders sein. Da ich die Wochenenden in Köln verbrachte, war ich auf jene Fernfahrerkneipe nicht angewiesen.
Zur Berufswahl bzw. beruflichen Entwicklung
Gab es Unsicherheiten bei der Berufswahl oder eine Phase der Orientierungslosigkeit? Wie haben Sie sie überwunden?
Keine Orientierungslosigkeit, keine Unsicherheit - aber auch nicht der feststehende Wunsch, freier Schriftsteller zu werden.
Haben Sie eine bestimmte berufliche Tätigkeit von vornherein gezielt angestrebt? Oder wechselten die Wünsche?
Ich hatte eigentlich vor, mich um eine Stelle in einem belletristischen Verlag zu bemühen. Das entfiel dann, als Schreiben und die damit zusammenhängenden Tätigkeiten immer mehr Raum einnahmen.
Welche Stationen gab es in Ihrem beruflichen Werdegang?
Genau betrachtet keine. Silvester 1995 hatte ich einfach keine Lust zu überlegen, wovon ich im nächsten Jahr leben wolle - also lebe ich seitdem von etwas, was ich zu dem Zeitpunkt ohnehin bereits fünfzehn Jahre gemacht hatte.
Wie sah (oder sieht) Ihr Weg zur Erreichung Ihres Wunschjobs aus?
Langsam kommen wir zum problematischen Berufsbild des freien Schriftstellers. Ich wusste, ich würde weiter schreiben, habe mir aber nicht vorgenommen, mit dem Schreiben meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es ist passiert. Es ist seit 1996 so, aber ich weiß nicht, ob es so bleibt. Nichts geht ohne Eigeninitiative. Das Knüpfen und Aufrechterhalten von Kontakten ist unerlässlich. Genauso ist es natürlich als Schriftsteller möglich, sich ganz von der Welt abzuschotten. Mir liegt das nur zeitweise. Ein Quereinstieg ist natürlich möglich, es gibt viele Beispiele dafür. Einen Direkteinstieg, wie ihn manche versuchen, die ihr Studium abbrechen, sobald ihr erstes Buch erschienen ist, würde ich niemandem empfehlen.
...Zufälle, Situationen, Begegnungen mit bestimmten Personen, die Ihren beruflichen Werdegang besonders geprägt haben?
Viele. Zwei Beispiele: Glen Burns brachte mich 1987 auf William S. Burroughs - derzeit arbeite ich an einem Libretto zu / mit Burroughs für den Komponisten Enno Poppe. Siegfried J. Schmidt und Karl Riha teilten meine Begeisterung etwa für Friederike Mayröcker - mit ihrem Werk befasse ich mich bis heute, zuletzt habe ich an der Edition ihrer Gesammelten Prosa mitgearbeitet.
…sonstige markante (Erkenntnis-?)Punkte Ihres beruflichen Werdegangs?
Womit ich nicht gerechnet hätte: Ich bin mehr auf Reisen, als dass ich am Schreibtisch sitze. Oder, positiv betrachtet: Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Leben so viele Orte kennen lernen würde.
Aktuelle berufliche Tätigkeit
Welches ist Ihre berufliche Tätigkeit heute?
Ich bin freier Schriftsteller. Es gibt Reisephasen (Lesereisen, Vorträge, Treffen mit Übersetzern, sonstige Veranstaltungen) und Schreibphasen. Problematisch ist es mitunter, wenn ich auf einer Reise merke, ich würde lieber schreiben, oder wenn in einer für das Schreiben freigehaltenen Phase nichts passiert. Gelegentlich schreibe ich auch für Zeitungen und übersetze aus dem Englischen. Dies auch, weil es manchmal (gerade während eines größeren Projekts, das sich ins Unendliche zu erstrecken scheint) schön ist, mit festem Abgabetermin, klarer Thematik und genau abgesteckter Rahmenvorgabe zu arbeiten. Das Ziel: gute Arbeit zu machen.
Was schätzen Sie an Ihrer Tätigkeit?
Den Wechsel von Zeiten, die ich ganz mit mir (und dem Text) allein verbringe, und solchen, da ich unter Menschen bin (Lesungen, Gespräche mit Zuhörern, Begegnungen mit Kollegen bei Veranstaltungen, Kontakt mit Übersetzern). Oder auch: Eine Zeitlang im Zimmer eingeschlossen sein, dann auf Reisen gehen - wobei die Orte, die ich auf Reisen sehe, nicht selten wieder Eindrücke bringen, die in die Arbeit einfließen. Eine Schreibphase wiederum ermöglicht mir ganz unterschiedliche Tätigkeiten: Lesen, Schreiben, Recherchieren (was dann wieder ins Reisen übergehen kann).
Welche persönlichen Tendenzen empfinden Sie über Ihre momentane Jobsituation? Welche weiteren Pläne haben Sie?
Momentante Jobsituation: Das ist komplex. Der Buchmarkt kracht gerade in sich zusammen, und ich bin froh, dass ich nicht erst heute einen Platz im literarischen Betrieb finden muss. Aber wer schreibt, um reich zu werden oder berühmt, sollte es ohnehin lassen, das hat immer gegolten. Weitere Pläne: Weiterschreiben.
Inwiefern hat sich Ihr Leben durch den Übergang von Studium zu Berufsleben verändert? Gibt es Grund, der "schönen, alten Studienzeit" nachzutrauern?
Hm. Es kommt mir manchmal so vor, als hätte ich während des Studiums trotz Veranstaltungen und Hausarbeiten mehr Zeit zum Schreiben gehabt. Aber ich trauere der Studienzeit nicht nach. Auch heute halte ich mich ja zeitweise an Universitäten auf (zu Gastvorträgen, Symposien), und dann denke ich: Unis (als Gebäude, Gebäudekomplexe) insgesamt sind mir ein bisschen unheimlich (die kunststoffbeschichteten Tische, die grelle Beleuchtung - die ganze Einrichtung, die Denken nicht fördern, sondern verhindern soll, wie es scheint).
Bleibt neben Ihrem Jobleben noch Freizeit?
Nein. Das hat aber mit meiner Tätigkeit zu tun - auch vermeintliche Leerzeit ist für das Arbeiten relevant. Wenn Freizeit das Abendessen mit Freunden meint: Ja. Aber Urlaub zum Beispiel plane ich nicht ein.
Welchen Rat würden Sie zukünftigen Absolventen mit auf den Weg geben?
Konzentrieren Sie sich auf das, wofür Sie sich begeistern, und entwickeln Sie dann Eigeninitiative in dieser Richtung.
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