Der Schatz der Ehemaligen
Auch deutsche Universitäten entdecken ihre Absolventen. Nach amerikanischem Vorbild wollen sie die "Alumni" für den Erfolg der Hochschule einspannen Von Martin Spiewak
Presseresonanz vom: 11.10.2001
Erschienen in: Die Zeit
Das hätte Boris Iwansky nicht für möglich gehalten. Dass er
noch einmal an seine alte Universität zurückkehrt. Ausgerechnet
nach Siegen. Was ist schlimmer als verlieren? Siegen. Dieser
Spruch kursierte damals unter jenen, die von der ZVS, der
Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen, in die
"Wirtschaftsmetropole Südwestfalen" verschickt wurden.
Freiwillig ging niemand nach Siegen, sagt Iwansky. Aber am Ende
war das Studium doch ganz schön, erinnert sich der
Betriebswirt: enge Kontakte zu Mitstudenten, kaum überfüllte
Seminare, ansprechbare Dozenten. Und so folgte Iwansky der
Einladung zum 1. Alumni-Tag der Universität Siegen. "Ich wollte
mal schauen, wer so da ist." Immerhin sechs ehemalige
Kommilitonen traf er, tauschte Anekdoten und Neuigkeiten aus,
besuchte den Workshop eines seiner damaligen Professoren und
reihte sich wie früher in die Essensschlange ein. Am Ende wehte
es ihn fast ein wenig wehmütig an: "Die Jahre an der Uni waren
doch eine prägende Zeit." Selbst - oder gerade - in Siegen.
Die Einsicht ist kaum überraschend; umso erstaunlicher ist die
Tatsache, dass die deutschen Universitäten erst jetzt bemerken,
dass sie solche Wehmut für sich nutzen können. Jahrzehntelang
behandelten sie ihre Ehemaligen nach der Devise: aus dem
Hörsaal, aus dem Sinn. Allenfalls für wissenschaftlichen
Nachwuchs fühlten sie sich verantwortlich. Der Rest der
Ehemaligen, der nach dem Examen einen profanen Beruf ergriff,
blieb ihnen egal. Schließlich hatten sie ihre Pflicht erfüllt
und den Studenten zu einem Abschluss verholfen. Doch plötzlich
wächst die Liebe der Hochschulen zu ihren alten Eleven. Ob
Siegen oder Stuttgart, Göttingen, Greifswald oder Dresden:
Überall erhalten Akademiker Briefe, Anrufe oder E-Mails von
ihrer ehemaligen Hochschule mit Einladungen zu Festtagen und
Wiedersehensfeiern, in Zeitungsanzeigen bitten Unipräsidenten:
Ehemalige, meldet euch!
Mit den Alumni (lateinisch: Zöglinge) glauben die Hochschulen
einen vergessenen Schatz entdeckt zu haben. Er verspricht all
das, was ihnen weitgehend fehlt: Verbindungen zum Berufsalltag,
Praktika und Jobangebote für Studenten, größere Reputation -
und langfristig Geld. "Neben Forschung und Lehre ist die
Alumni-Arbeit der wichtigste Produktionsfaktor für die
Universitäten", glaubt Albrecht Bayer, der in Heidelberg die
internationalen Absolventen betreut. Die Universität Freiburg
entdeckte unter ihren Ehemaligen Botschafter, Politiker,
Vorstände großer Unternehmen und bekannte Journalisten. "Es ist
unglaublich", sagt Pressesprecher Rudolf-Werner Dreier, "dass
wir diese Lobby nicht schon viel früher genutzt haben."
In den Vereinigten Staaten, wo sich die Universitäten nur zum
Teil auf öffentliche Förderung verlassen können, sind die
Absolventenbetreuung und das Fundraising längst zu einem
lebenswichtigen Bestandteil des Hochschulmanagements geworden.
Allein an der Universität Berkeley kümmern sich 250 Personen um
die Ehemaligen. Als die Spendensammler dort kürzlich die
Rekordsumme von 1,44 Milliarden Dollar verbuchen konnte,
stammte der Großteil von ehemaligen Berkeley-Studenten.
Denn die amerikanischen Alumni fühlen sich ihren Universitäten
eng verbunden. Sie benutzen zeitlebens die E-Mail-Adresse der
Uni, stecken sich deren Nadeln ans Revers und schreiben Briefe
an Politiker, die der Hochschule übel wollen. Der Einfluss der
Ehemaligen als Gönner, Lobbyisten und Botschafter ist enorm.
Kein Wunder; das Zusammengehörigkeitsgefühl wird durch viele
Rituale gestärkt - von der feierlichen Begrüßung der freshmen
durch den Universitätspräsidenten bis zur pompösen graduation
party mit Freunden, Eltern und Professoren. Große Hochschulen
füllen ganze Stadien, wenn am Ende der Collegezeit bei
feierlichen Gesängen und pathetischen Reden die Diplome
vergeben und die lebenslangen Bande mit der Universität
beschworen werden.
Von solcher Begeisterung können deutsche Hochschulen bislang
nur träumen. Wer hierzulande in überfüllten Hörsälen saß, nicht
ansprechbare Professoren erlebte und in den Bibliotheken
wichtige Bücher vermisste, ist nach langem Studium froh,
endlich raus aus der Uni zu sein. Jedenfalls wird er wenig Lust
verspüren, einem Alumni-Club beizutreten oder gar für die alte
Alma Mater zu werben. Wie soll man sich mit einer Rabenmutter
identifizieren, die ihren Kindern das Gefühl vermittelt, sie
seien eine Last, und die nie fragt, was aus ihnen geworden ist?
Das erste Problem der deutschen Universitäten: Sie müssen ihren
Alumni-Schatz erst einmal finden. Welche Hochschule weiß schon,
wo ihre Exstudenten stecken? Die Siegener Universität schaltete
dazu eine Suchanzeige und nutzte die Adressdateien einiger
Fördervereine, wie sie in vielen Hochschulen auf Fakultätsebene
existieren. Die Maschinentechniker, die in Siegen die meisten
Adressen lieferten, hatten beispielsweise 1998 eine
Ehemaligenvereinigung gegründet, als die Studentenzahlen
drastisch sanken. Eine Not initiative, die typisch ist: Der
Anstoß kommt - wie bei allen Hochschulreformen - von außen.
Studienanfänger bleiben aus, die Mittel werden knapper,
Politiker fordern Leistungsbelege und stellen ganze
Fachbereiche zur Disposition. Fragt man beim Siegener
Alumni-Tag herum, warum die Uni zum Wiedersehen lud, fällt
spätestens im dritten Satz das entscheidende Stichwort:
"Wettbewerb". Ein Expertenrat des nordrhein-westfälischen
Kultusministeriums hatte die Zukunft der Uni Siegen kritisch
beurteilt und zur nachhaltigen Schrumpfung geraten. Vom "Tod
auf Raten" war die Rede. Die meisten Vorschläge verschwanden
zwar in der Schublade der Ministerin, aber in Siegen hatte man
verstanden.
"Wir mussten uns etwas einfallen lassen", sagt Unikanzler
Johann Peter Schäfer. Also trimmte man Studiengänge auf die
neuen Bachelor- und Masterabschlüsse und besann sich auf die
Ehemaligen - darunter Klaus-Peter Thaler (Radrennfahrer),
Herbert Henzler (McKinsey) oder Frank Schirrmacher
(FAZ-Herausgeber). Diese kamen zwar nicht nach Siegen, immerhin
aber rund 1000 andere, einer sogar aus Melbourne. Das Treffen
soll die "Initialzündung für den Aufbau eines großen Netzwerkes
der Ehemaligen sein", sagt Kanzler Schäfer. Viele skeptische
Professoren seien nun überzeugt davon mitzumachen. "Alle wollen
doch bei den Siegern sein."
Wie stark Professoren und Studenten von den Alumni profitieren
können, zeigen nicht nur die amerikanischen Vorbilder, sondern
mittlerweile auch einige wenige Absolventenvereinigungen in
Deutschland. Oliver Figur baute den Alumni-Club der
wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der TU Karlsruhe Anfang
der neunziger Jahre mit einem Kommilitonen auf, der die Idee
aus den USA mitbrachte. Schon bald erhielten sie das erste
Stellenangebot eines Ehemaligen. Der vermittelte Absolvent
arbeitet noch heute in dem Unternehmen. Mittlerweile ist Figur
Vorsitzender von alumni-clubs.net, einem der beiden
Zusammenschlüsse von Absolventenvereinen in Deutschland. Er hat
vor allem eines gelernt: "Ohne die Unterstützung von oben
bleibt die Alumni-Pflege eine schöne Idee."
Vermarktung wie bei Popgruppen
In Mannheim entdeckte der ehemalige Rektor und jetzige
baden-württembergische Wissenschaftsminister Peter Frankenberg
das Potenzial der Ehemaligen. 1995 ließ er den Verein
AbsolventUM gründen. Er sollte von Beginn an flexibel sein,
unabhängig und sich selbst finanzieren. Denn bis vor einiger
Zeit war es den Universitäten geradezu verboten, Geld und
Stellen für Alumni-Betreuung und Spendensammeln zu verwenden.
So musste etwa die Führung der TU München zu Beginn über
eigenes Privatkapital ihre Fundraisingkampagne finanzieren. Die
Beschränkung erwies sich in Mannheim jedoch als Freiheit,
schnell entwickelte der unabhängige Verein Eigendynamik. Als
beste Werbung für neue Mitglieder stellte sich das
Absolventenbuch heraus, ein Verzeichnis der Lebensläufe und
Jobprofile aller frisch Examinierten, das der Verein für je
6000 Mark an Unternehmen der Region verkaufte. Die Idee hatte
doppelten Erfolg: Sie brachte AbsolventUM das Startkapital und
bot den Abgängern etwas Konkretes. Mittlerweile ist eine GmbH
hinzugekommen, die eine Jobbörse für Absolventen übernimmt,
Praktikavermittlung und künftig das Merchandising der Uni.
Kugelschreiber mit dem Logo der Uni Mannheim will man
vermarkten, Kappen, T-Shirts, "alles, was man von Popgruppen
oder Banken so kennt", sagt Geschäftsführer Christian Kramberg.
3000 Mitglieder zählt der Verein inzwischen, hat
Regionalgruppen in Seoul, Mailand und Budapest. Was noch
wichtiger ist: Jeder zweite Absolvent tritt dem Verein bei. All
das ist kümmerlich, wenn man es mit den Alumni-Aktivitäten
einer US-Universität vergleicht, für Deutschland aber geradezu
revolutionär. Denn bislang kümmert sich an hiesigen Hochschulen
meist nur die Pressestelle um das Thema, als eine Aufgabe von
vielen. Die wenigen Universitäten, an denen mindestens eine
Person ausschließlich die Absolventen umsorgt, sind in erster
Linie technische Hochschulen oder solche mit einem starken
wirtschaftlichen Bezug wie in Mannheim. Die Sozial- oder
Geisteswissenschaftler geraten dabei einmal mehr ins
Hintertreffen. Selbst in Freiburg, wo die Alumni-Idee früh
aufgegriffen wurde, waren die aktivsten Absolventen Biologen.
Sie fühlen sich durch Praktika und Exkursionen stärker
zusammengehörig als andere.
Geisteswissenschaftler seien im Studium "eher Einzelkämpfer als
Naturwissenschaftler" und dächten weniger an die Karriere, sagt
Volker Meyer-Guckel vom Stifterverband für die Deutsche
Wissenschaft. Es war kein Zufall, dass im Wettbewerb des
Stifterverbands um das beste Alumni-Konzept neben den Gewinnern
aus Mannheim nur wenige humanistisch orientierte Hochschulen
brillierten. Die Besten im Wettbewerb hatten verstanden, dass
man den Absolventen "mehr bieten muss als sentimentale
Erinnerungen", sagt Meyer-Guckel. Eine lebenslange
E-Mail-Adresse, verbilligte Weiterbildungsangebote, Teilnahme
am Hochschulsport, Karrierehilfe und regelmäßige Treffen -
damit locken die meisten Alumni-Clubs. Ferner müssten
Professoren und Unileitung ihren Ehemaligen eine gewisse
Mitsprache einräumen, fordert Meyer-Guckel. Die TU Berlin
beteiligt sie an der Evaluation von Instituten, in Mannheim und
bei der TU München sitzen Ehemalige im Hochschulrat. Die
private Hochschule für Unternehmensführung in Koblenz beteiligt
Alumni bei der Auswahl neuer Studenten.
In Mannheim will AbsolventUM die Lehre beeinflussen, denn "das
didaktische Niveau vieler Veranstaltungen ist
verbesserungswürdig", sagt diplomatisch der emeritierte
Professor und Vereinsvorsitzende Hans Raffée. Den Auftakt
bildet ein Kongress zur Hochschuldidaktik. Der sanfte Versuch,
Seminare und Vorlesungen interessanter zu machen, dient auch
dem Verein: Begeisterte Studenten identifizieren sich eher mit
ihrer Uni.
Eine Umfrage des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) unter
ehemaligen Studenten ergab, dass rund 40 Prozent von ihnen
schon vor dem Abschluss innerlich gekündigt hatten. Denn die
Hochschulen sind meist anonyme, auf Gleichförmigkeit getrimmte
Ausbildungsfabriken. Im Zuge der 68er-Bewegung wurde ihnen
neben dem Muff aus 1000 Jahren gleich auch jeder Stil, jede
Tradition und Identität mit ausgetrieben. Mühsam versuchen
viele Universitäten, sich nun wieder ein Gesicht und den
Studenten eine Heimat zu geben. In Freiburg lädt der Rektor zum
Semesterbeginn die neuen Studenten samt Eltern ein. In Siegen
bekommen Anfänger einen Professor als Mentor zugeordnet, der
sie während des Studiums begleiten soll. Und die Bochumer Uni
verleiht ihre Examensurkunden in einem pompösen Festakt, mit
Talaren made in USA.
"Die Ist-mir-egal-Haltung von Studenten und Professoren
verliert an Anhängern", sagt Oliver Figur von alumni-clubs.net.
Die Universitäten merken, dass friendraising dem Fundraising
vorausgehen muss. Noch sind Mitgliedsbeiträge an vielen
Universitäten kein Thema. "Wir wollen nicht an die Geldbörse,
sondern eher an das Know-how der Ehemaligen", sagt Bettina
Klotz von der TU Berlin. In Mannheim ist man weniger
zurückhaltend. Als die Hörsäle modernisiert werden sollten, bat
AbsolventUM Ehemalige und Firmen der Region um Spenden. Mit
Erfolg. Heute lauschen die Studenten Vorlesungen im
AbsolventUM-Hörsaal oder im La-Roche-Forum, ein anderes
Auditorium ist nach einem besonders großzügigen Alumnus
benannt. Mehrere Millionen Mark fehlen noch, damit alle
Veranstaltungssäle bis zum Jubiläum der Universität im Jahr
2007 renoviert sind. Das Ziel ist durchaus realistisch. Als die
Agentur UniConcepts zusammen mit der Universität Hamburg
Ehemalige und Bürger der Hansestadt aufforderte, eine
Patenschaft für Bücher der Universität zu übernehmen, kam mehr
als eine Million zusammen. Im Gegenzug finden die Gönner ihren
Namen aufgeklebt in einem Buch wieder. Im Herbst will
UniConcepts die erfolgreiche Aktion bundesweit starten.
"Spender sind eitel, und sie wollen wissen, wohin ihr Geld
fließt", erklärt Volker Meyer-Guckel vom Stifterverband.
Auch Boris Iwansky könnte sich vorstellen, etwas für seine alte
Siegener Hochschule zu spenden. Noch lieber würde der Leiter
einer Werbeagentur als Ratgeber helfen. "Die meisten in der Uni
wissen nicht, wie die Trends draußen laufen."