SPIEGEL-Gespräch mit Elke Nikolai, Ehemalige der Universität Siegen, und Manfred Lindau
Elke Nikolai und Manfred Lindau sind zwei deutsche Professoren mit Arbeitsplatz in den USA. Die Germanistin Nicolai, die an der Gesamthochschule Siegen über Klaus Mann promovierte, kam 1995 in die Vereinigten Staaten, wo sie zunächst an der Catholic University, einer Privat-Uni in Washington, Deutsche Sprache und Literatur unterrichtete. Seit 1997
Presseresonanz vom: 25.07.2002
Erschienen in: Der Spiegel
DER SPIEGEL 30/2002 - 25. Juli 2002
URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,206125,00.html
SPIEGEL-Gespräch
SPIEGEL: Frau Professor Nicolai, Sie unterrichten Deutsch am
Hunter College, einer der größten städtischen Hochschulen in
New York. Herr Professor Lindau, Sie lehren in Cornell, einer
der bekanntesten Elite-Universitäten der USA, Biophysik. Was
muss ein Student zahlen, um Ihre Vorlesungen besuchen zu
können?
Nicolai: Da Hunter eine öffentlich subventionierte Universität
ist, sind die Gebühren hier vergleichsweise günstig. Ich
glaube, sie liegen im Augenblick bei etwa 3500 Dollar im Jahr.
Lindau: Bei uns beträgt der Jahresbeitrag, den ein Student
zahlen muss, rund 26.000 Dollar. Das ist bei den meisten
Privat-Universitäten etwa gleich.
SPIEGEL: 26.000 Dollar sind selbst für amerikanische
Verhältnisse ziemlich viel Geld. Das heißt, in Ihren Seminaren
finden sich vor allem reiche Oberschichtkinder?
Lindau: Nicht unbedingt. Grundsätzlich erfolgt die Zulassung
auch bei Cornell ausschließlich nach Qualifikation. Wer die
entsprechenden Leistungen bringt, aber nicht über das nötige
Einkommen verfügt, bekommt entsprechende Beihilfen, zum Teil
als Stipendium, zum Teil als Kredit, den man dann später
zurückzahlen muss.
SPIEGEL: Geld spielt bei der Zulassung folglich keine Rolle?
Lindau: Natürlich wird von jedem Studenten ein Eigenanteil
erwartet, und der kann im Einzelfall immer noch so hoch sein,
dass sich jemand fragt: Muss es wirklich Cornell sein?
Andererseits gibt es für Studenten, die beispielsweise aus
einer Latino-Familie kommen, ganz spezielle Förderprogramme.
Ich glaube, wenn einer wirklich gut ist, dann wird man auch
einen Weg finden, ihm sein Studium zu finanzieren, wo immer er
sich auch bewirbt.
Nicolai: Das mag im Einzelfall sicher richtig sein. Ich habe
hier kürzlich selbst eine bettelarme Studentin aus Russland
gehabt, die nach vier Semestern zum Medizinstudium nach Cornell
gewechselt ist. Es war eine dieser typischen
Emigrantengeschichten, wo die ganze Familie zusammengelegt hat.
Wenn aber dieser Familienzusammenhalt fehlt, dieser Wille und
dieser Druck von zu Hause, dann bleibt eine Uni wie Yale oder
Cornell immer ein ferner Traum. Dann geht man eher zu uns.
SPIEGEL: Auch in Deutschland wird seit längerem über die
Einführung von Studiengebühren debattiert. Viele
Hochschulpolitiker klagen darüber, dass den deutschen Studenten
der Anreiz fehle, ihr Studium zügig abzuschließen. Wie lange
studieren denn Ihre Studenten?
Lindau: Das Grundstudium, an dessen Ende der so genannte
Bachelor steht, dauert in der Regel vier Jahre. Danach kann man
sich entscheiden, ob man sich erst einmal einen Job sucht und
später vielleicht wieder an die Universität zurückkehrt, oder
ob man gleich ein Studium zum Master anschließt oder eine
Doktorarbeit. Letzteres macht nach meiner Erfahrung jedoch nur
ein kleiner Teil.
Nicolai: Diese Universitätslaufbahn, bei der man nahtlos vom
Grundstudium zum Hauptstudium und von dort weiter zum Magister
geführt wird, die gibt es bei uns am Hunter College nicht, was
die Studienzeiten natürlich enorm verkürzt. Theoretisch können
Sie allerdings auch in den USA so lange eingeschrieben bleiben,
wie Sie wollen. Das ist wie alles in Amerika eine Frage des
finanziellen Hintergrunds. Wenn Sie genug Geld haben, können
Sie auch sieben oder acht Jahre auf den Erwerb Ihres Bachelor
verwenden.
SPIEGEL: Aber das ist die Ausnahme?
Nicolai: Ich habe jedenfalls bis jetzt niemanden kennen
gelernt, der nicht in vier Jahren seinen Abschluss hatte. Am
Hunter College kommen sehr viele Studenten aus
Einwandererfamilien, die überlegen sich dreimal, ob sie länger
studieren als unbedingt nötig. Ich habe zuvor auch an einer
Privat-Uni gelehrt. Wenn mir da einer morgens um acht Uhr in
der Klasse eingeschlafen ist, dann hatte er die Nacht zuvor
getrunken. Wenn mir hier an Hunter einer um acht Uhr wegnickt,
dann hat er nachts irgendwo einen Kellnerjob gemacht.
SPIEGEL: Sie haben beide vor Ihrer Übersiedlung in die USA in
Deutschland studiert. Denken Sie gern an Ihre Studienzeit
zurück?
Nicolai: Auf jeden Fall. Ich habe unter paradiesischen
Umständen studiert. Ich bin, wenn Sie so wollen, eine
Verwöhnte. Wenn in Deutschland jemand neben dem Studium
arbeitete, dann meist, um eine eigene Wohnung zu finanzieren
oder ein Auto. Die Leute, die zu uns kommen, schlafen bei den
Eltern irgendwo in den Suburbs oder im Studentenheim. Wenn ich
mir ansehe, wie der Großteil meiner Studenten zurechtkommt,
dann kann ich nur den Hut ziehen.
Lindau: Ich denke, es kommt darauf an, was man unter "verwöhnt"
versteht. Was das Studium selbst betrifft, wird man hier als
Student eindeutig besser behandelt. Der persönliche Kontakt zu
den Professoren, überhaupt das hohe Maß an Zuwendung, das Sie
an Ihrer Fakultät erfahren - das gibt es so in Deutschland
nicht.
Nicolai: Ja, weil unsere Lehrtätigkeit hier als Dienstleistung
angesehen wird. In Deutschland ist Unterrichten ein Hoheitsakt.
In den USA machen wir Service. Das ist ein Riesenunterschied.
Lindau: Meine Leistung als Lehrer wird von den Studenten
regelmäßig bewertet - und nicht nur von denen. Hin und wieder
kommt jemand von der Fakultät in die Vorlesungen und notiert,
wie er das findet, was ich da so treibe. Diese Beurteilungen
kommen dann in eine Akte, damit alle Bescheid wissen, wer ein
guter Dozent ist und wer nicht, und man wird zu einem Gespräch
gebeten. Da kann es dann beispielsweise heißen: Wissen Sie,
wenn Sie an der Tafel immer so klein schreiben, dann können das
die Leute schlecht lesen - irgendetwas, das man vielleicht gar
nicht so bedacht hat.
SPIEGEL: Das heißt, Sie empfinden diese Anspruchshaltung an Sie
nicht als unangenehm, sondern als sehr berechtigt?
Lindau: Natürlich denkt man sich manchmal, ich hätte jetzt auch
etwas anderes zu tun, als hier mit einem Studenten seine
Seminararbeiten durchzugehen. Aber das ist nun einmal Teil des
Jobs. Ich glaube, dass es durchaus sinnvoll wäre, das Studium
auch in Deutschland kostenpflichtig zu machen. Ich könnte mir
ein System vorstellen, wo jeder ein entsprechendes Stipendium
bekommt. Der Student wüsste erstmals genau, was seine
Ausbildung kostet. Und der Uni würde klar, dass sie für das
Geld etwas leisten muss.
Nicolai: Das mag schon sein, aber ich frage mich manchmal, ob
dieser permante Druck, sein Studium möglichst schnell und
effizient abschließen zu müssen, wirklich immer so gut ist.
Auch an den Elite-Universitäten scheint das Klima der
Entwicklung der Studenten nicht nur förderlich zu sein. Oder
wie erklären Sie es sich, Herr Lindau, dass Cornell die
Selbstmord-Universität Nummer eins sein soll.
"Die Spannbreite der Hochschulausbildung ist enorm. In den USA
heißt ja alles College, von der Berufsfachschule bis zur
Universität."
SPIEGEL: Stimmt das, dass sich an Ihrer Hochschule so viele
Studenten das Leben nehmen wie nirgendwo sonst in den USA?
Lindau: Ja, es gibt solche Statistiken. Cornell liegt in einer
relativ dörflichen Umgebung im Bundesstaat New York,
landschaftlich zwar sehr nett, aber für den einen oder anderen
doch recht deprimierend. Und der Konkurrenzdruck, der unter den
Studenten entsteht, spielt sicherlich auch eine Rolle. Die
Latte bei der Zulassung liegt nun einmal ziemlich hoch, und das
führt automatisch dazu, dass Leute, die bislang in ihrem Leben
immer zu den Besten gehörten, auf einmal nicht mehr so glänzend
abschneiden. Manche kommen damit nicht zurecht.
Lesen Sie im zweiten Teil:
SPIEGEL: Wie wird eigentlich entschieden, wer über die nötige
Eignung für Cornell oder auch Hunter verfügt - anhand der
Schulnoten?
Nicolai: Die High-School-Zensuren haben zunächst gar nichts zu
sagen. Deshalb müssen Sie in den USA Ihre Hochschulreife nach
Beendigung der Schulzeit erst noch beweisen, und zwar durch
spezielle, standardisierte Tests, in denen Ihre Mathematik- und
Englischkenntnisse geprüft werden. Je höher dabei die
Punktzahl, desto besser die Chancen, dass Ihre Bewerbung
erfolgreich ist.
Lindau: Ein anderes, wichtiges Kriterium bei der Zulassung,
jedenfalls in Cornell, ist, wo einer zur Schule gegangen ist
und welchen Ruf diese Schule hat. Dann geht es darum, dass man
ein Empfehlungsschreiben von einem Lehrer bekommt. Und man
schreibt einen Aufsatz, in dem man deutlich macht, warum man
ausgerechnet an dieser oder jener Hochschule studieren will und
über welchen Hintergrund man verfügt.
SPIEGEL: Wenn wir Sie richtig verstehen, spielt also schon die
Wahl der richtigen High School eine entscheidende Rolle bei der
Frage, ob man es später mal auf eine Elite-Universität schafft?
Lindau: Ein gewisser Ausgleich wird durch die standardisierten
Tests hergestellt. Wenn einer von einer namenlosen Schule
irgendwo in North Dakota kommt, aber ganz tolle Ergebnisse in
Mathematik und Englisch vorweisen kann, dann wird man
sicherlich noch einmal genauer hingucken. Und wenn es dann noch
jemand ist, der zu einer Minoritätengruppe gehört, dann wird
man den auf alle Fälle nehmen.
Nicolai: Das Problem ist nur - man macht diese fabelhaften
Testergebnisse nicht aus dem Blauen heraus. Man macht sie, wenn
man von Kindheit an dazu angehalten wurde, in einer gewissen
Form zu denken und zu schreiben und das Leben wahrzunehmen. Wer
also aus einer schwarzen Unterschichtfamilie kommt, muss ein
ungleich größeres Potenzial haben, um diese Supernoten
hinzulegen, als jemand aus besseren Verhältnissen.
SPIEGEL: Wie wichtig sind Beziehungen?
Lindau: Natürlich kann es hilfreich sein, wenn Sie jemanden
kennen, der seinen Einfluss geltend macht. Vielleicht können
die Eltern der Universität auch zu einer großen Spende
verhelfen. Aber das ist doch eher die Ausnahme. Viel wichtiger
ist das entsprechende Beziehungsgeflecht, wenn Sie die Uni
verlassen. Da ist dann der Direktor einer Firma, der auch in
Cornell seinen Abschluss gemacht hat. So etwas kann Karrieren
durchaus beflügeln.
Nicolai: Mich würde dann allerdings schon mal die Frage
interessieren, warum die USA einen so großen Import an
ausländischen Akademikern hat, wenn das amerikanische
Hochschulsystem angeblich so leistungsorientiert ist. Herr
Lindau, warum sind wir beide hier?
Lindau: Es stimmt schon - in dem Feld, in dem ich tätig bin,
also in den Naturwissenschaften und der Grundlagenforschung, da
ist es schwer, genügend Amerikaner zu finden. Ich habe in
meiner eigenen Arbeitsgruppe unter den Graduierten gerade mal
zehn Prozent Amerikaner. Der Rest kommt aus Europa, aus China,
aus Indien oder wer weiß woher.
SPIEGEL: Was studiert denn der amerikanische
Durchschnittsstudent?
Lindau: Viele gehen in Richtung Wirtschaft, Rechtswissenschaft,
Medizin - dahin, wo das große Geld lockt.
Nicolai: Bildung hat einen ganz anderen Stellenwert als in
Deutschland. In den USA muss immer ersichtlich sein, was unter
dem Strich herauskommt, das System ist extrem pragmatisch
ausgerichtet. In Deutschland ist die Anwendbarkeit von Bildung
eher ein zweitrangiger Gedanke, da steht mehr der Kulturbegriff
im Vordergrund, vielleicht auch deshalb, weil sich Deutschland
nicht als politische Nation zusammengefunden hat, sondern als
kulturelle.
SPIEGEL: Wie ist es denn um den Kenntnisstand der Studenten
bestellt, mit denen Sie es hier zu tun haben?
Nicolai: Die Hauptaufgabe besteht zunächst darin, die Leute auf
ein einigermaßen einheitliches Niveau zu bringen. In den ersten
Semestern wird bei uns viel von dem nachgeholt, was in
Deutschland schon vor dem Abitur gelehrt wurde. Und dann kommt
es ganz darauf an, wo man studiert. Ein Bachelor kann am Ende
im Stellenwert von einer guten mittleren Reife bis zu einem
schwachen Staatsexamen reichen. Sie müssen schon ganz genau
hinsehen, wo jemand seinen Abschluss erworben hat, um seine
Qualifikation einschätzen zu können.
Lindau: Die Spannbreite der Hochschulausbildung ist in der Tat
enorm. In den USA heißt ja alles College, von der
Berufsfachschule bis zur Universität. Wenn Sie hier zu einem
Community College gehen, dann entspricht Ihr Wissenstand dem,
den Sie in Deutschland an einer Ingenieurschule geboten
bekommen. Wenn Sie hingegen in Cornell Physik studiert haben,
dann haben Sie dieselbe theoretische Physik gepaukt wie in
Deutschland auch. Der Unterschied zwischen dem Bachelor und
einem Diplom ist dann einfach, dass der Bachelor an einem
früheren Punkt endet.
SPIEGEL: Sie würden ein solches zweistufiges Modell auch für
Deutschland empfehlen?
Lindau: Die Universitäten wollen ihre Studenten natürlich am
allerliebsten alle zu Wissenschaftlern ausbilden, weil wir
Professoren Wissenschaft so toll finden. Aber die Realität ist
nun einmal, dass viele Studenten später ganz woanders arbeiten
wollen, und deshalb reicht es zunächst, ein gesundes Fundament
zu legen, auf das man dann aufbauen kann.
Nicolai: Keine Frage, dass es einiges am amerikanischen
Hochschulsystem gibt, das übernehmenswert wäre. Aber wenn die
Deutschen das System der Amerikaner kopieren wollen, dann
dürfen sie nicht nur nach Cornell oder Harvard gucken. Diese
privaten Elite-Universitäten machen gerade mal fünf Prozent der
amerikanischen Hochschullandschaft aus, der große
Rattenschwanz, das sind Einrichtungen wie Hunter, und dort
fehlt es an allen Ecken und Enden. Das geht los bei der
Ausstattung und endet bei den knappen Gehältern für das
Lehrpersonal.
SPIEGEL: Denken Sie manchmal daran, an eine deutsche
Universität zurückzukehren?
Lindau: Ich bin eigentlich ein Großstadtmensch und habe
manchmal so meine Probleme damit, in einer Kleinstadt zu leben.
Aber was die Hochschule angeht, fühle ich mich vollkommen wohl.
Da gibt es nichts, wo ich sagen könnte, da hätte ich es an
einer deutschen Universität aber besser.
Nicolai: Ich schwanke noch, ob ich bleiben soll, was allerdings
mehr mit meiner generellen USA-Unbehaglichkeit zu tun hat als
mit der Universität. Gehen Sie mal in ein germanistisches
Seminar in Deutschland, da ist es manchmal zum Verzweifeln, wie
schlecht vorbereitet die Studenten sind. Wenn ich an Hunter
einen Seminarraum betrete, haben die Leute alles gelesen, was
sie lesen müssen. Und das macht Spaß.
SPIEGEL: Frau Nicolai, Herr Lindau, wir danken Ihnen für dieses
Gespräch.
Das Gespräch führten die Redakteure Martin Doerry und Jan
Fleischhauer.