"Ich bin hier im Paradies"
DER SPIEGEL 31/2002 - 29. Juli 2002URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,207083,00.html
Presseresonanz vom: 29.07.2002
Erschienen in: Der Spiegel
Mehr als acht Milliarden Dollar Vermögen, weltberühmte
Professoren, eine eigene Polizei und 14 000 Studenten -
Stanford in Kalifornien ist eine der renommiertesten
Universitäten der Welt. Das Studium ist härter als in
Deutschland, doch wer es schafft, gehört zur absoluten Elite.
Dies ist ein Bericht aus einer akademischen Gegenwelt. Er
spielt in Stanford, einer extrem erfolgreichen, privaten
Universität im Herzen des Silicon Valley bei San Francisco. Wie
Harvard, Yale oder Princeton besitzt sie all das, was keine
deutsche Uni (mehr) hat: Exzellenz, Selbständigkeit, Geld, eine
"Corporate Identity"; hoch begabte Studenten, dankbare
Absolventen, 1247 teils weltberühmte Professoren.
Diese Hochschule schöpft aus dem Vollen: Ihre Gesamtfläche
beträgt das Anderthalbfache des Frankfurter Flughafens. 678
Gebäude stehen darauf, und soll ein neues hinzukommen, dann
heuern die Uni-Manager Stararchitekten wie Norman Foster an.
Stanford besitzt drei Seen, einen Golfplatz, ein
Naturschutzgebiet, einen Teilchenbeschleuniger, ein Kraftwerk,
eine Kunstsammlung von Weltrang und ein Mausoleum für die Särge
der Stifterfamilie Stanford. Die Uni hat eine eigene Polizei
(60 Mann), 80 Kilometer Asphalt, ein Weltklassestadion mit 85
500 Plätzen und eines der besten Krankenhäuser der Welt. Über
den Riesencampus wandeln Träger von olympischem Gold, von
Pulitzer- und Nobelpreisen.
Auf die eine oder andere Weise zählt hier fast alles zum Besten
der Welt. Die Atmosphäre ist offen, die Hierarchien sind flach,
die Streitkultur ist robust. "Ich bin hier im Paradies", sagt
Gerhard Casper, 64. Das Geheimnis hinter dem Erfolg dieser
Universität kennt er wie kaum ein anderer, denn der aus Hamburg
stammende Jurist war von 1992 bis 2000 Stanfords Präsident.
Worin also besteht das wichtigste Geheimnis dieser Hochschule,
die als "Harvard des Westens" gilt, als Pendant zu der
Parade-Hochschule bei Boston, im Osten der USA. Ist es die
Tatsache, dass Stanford ein von Spendern eingesammeltes
Stiftungsvermögen von 8,25 Milliarden Dollar besitzt? Oder
liegt der Erfolg darin begründet, dass jeder Student pro
Studienjahr 27 000 Dollar zahlt, womit Kost und Logis noch
nicht abgedeckt sind?
Nein, sagt Casper. Das Geld spiele eine Rolle, aber keine
entscheidende. Die Studiengebühren deckten nicht einmal die
Kosten pro Student, jeder Einzelne werde subventioniert. Der
wichtigste Erfolgsfaktor für eine Universität sei das Recht,
sich ihre Studenten selbst auszusuchen. "Damit erst kommt diese
Leistungsspirale in Gang."
Die besten Studenten bleiben in den USA unter sich: Sie
bevölkern rund drei Hände voll Spitzenuniversitäten und werden
ermuntert, sich zur Inspiration ihrer Professoren in Ehrgeiz
und Leistung gegenseitig zu übertreffen. Die weniger Begabten
verschlägt es in Hunderte kleiner Colleges von mittelmäßiger
bis schlechter Qualität oder gar in die berüchtigten "Party
Schools", die ihre Klientel statt mit akademischem Gewicht eher
mit der Aussicht auf eine Studienzeit voller Sex, Drugs and
Rock'n'Roll ködern. Davon ist Stanford weit entfernt. Hier ist
von einer "dating crisis" die Rede, denn den Auserwählten
bleibt kaum Zeit zur Exploration des anderen Geschlechts.
Robin Mamlet dürfte auf der Liste der meistgefürchteten Frauen
Kaliforniens weit oben stehen: Sie ist die Chefin jener
Abteilung, die Studenten aussucht - und damit Einfluss nimmt
auf die Zusammensetzung der künftigen Elite Amerikas. Etwa 19
000 bewarben sich dieses Jahr. Sie sind 17, 18 Jahre alt und
zählen meist zu den Jahrgangsbesten, sie reichen
Empfehlungsschreiben von Lehrern und selbst verfasste Essays
ein, dazu die Ergebnisse aus standardisierten Leistungstests.
Etwa 17 000 Bewerber lehnt Mamlet ab. Gute Noten reichen ihr
nicht, und Objektivität ist nicht einmal ihr Ziel. Der Job,
sagt sie, erlange erst dadurch Bedeutung, dass sie nicht stur
wie ein Computer urteilt, sondern auch in Erwägung zieht, wie
"gut jemand seine Möglichkeiten genutzt" hat. Von den 1650
Erstsemestern, die im Spätsommer auf den Campus ziehen, sind
erstmals 51 Prozent nicht weißer Hautfarbe.
Mamlet sucht nach jungen Leuten, die auch außerhalb der Schule
Lernbegierde und Führungsqualitäten gezeigt haben, die vor
allem aber über "intellektuelle Feuerkraft" verfügen. Wie weich
die Auswahlkriterien auch klingen - ganz falsch scheinen sie
nicht zu sein: "Ich habe hier in 13 Jahren noch keinen
schlechten Studenten gesehen", staunt Hans Ulrich Gumbrecht,
54, Literaturwissenschaftler in Stanford.
Lesen Sie im zweiten Teil:
Und weil Wettbewerb das Ein und Alles ist an dieser
Universität, sind für jene, die sich in den härtesten
Wettbewerben bewähren, Extraplätze reserviert:
Sonderzulassungen winken Spitzenmusikern und
Leistungssportlern. Bei den Olympischen Spielen in Sydney haben
Stanfords Athleten zehn Medaillen gewonnen, darunter viermal
Gold - mehr als Spanien, genauso viele wie Norwegen, aber acht
Medaillen weniger als noch in Atlanta.
Dollar hingegen spielen keine Rolle bei der Frage, wer das
Ticket nach Stanford bekommt. Anders als andere
US-Universitäten prüft Stanford erst nach der Aufnahme, wie ein
Student sein Studium bezahlen kann. Viele US-Familien sparen
schon ab der Geburt ihres Kindes, und jeden Dollar, der von
ihnen auf das College-Konto eingezahlt wird, können sie von der
Steuer absetzen. Aber fast drei Viertel der Stanford-Studenten
bekommen zusätzlich Stipendien aus Uni-Töpfen und verbilligte
Kredite, die sie später zurückzahlen.
"Gebühren", findet Ex-Präsident Casper, "sind nur gerecht. In
Deutschland lassen sich die Reichen ihr Studium von den armen
Steuerzahlern finanzieren." Zudem wirkten sie als "ein
Seriositätsanreiz: Die Studenten müssen ihr Studium schon sehr
ernst nehmen".
Das tun sie dann auch. Viele sehen sich als zahlende Kundschaft
und finden nichts dabei, ihren Professor am Wochenende
anzurufen, um ein paar Nachfragen zu stellen.
Das College-Studium für "Undergraduates" dauert exakt vier
Jahre - und für die Studenten ist dies die Zeit im Leben, die
sie am meisten prägt. Sie arbeiten hart, oft zehn Stunden am
Tag, manchmal länger. Sie wohnen auf dem Campus in kargen
Zimmern, die sie sich zu zweit, manchmal auch zu dritt oder
viert teilen. Fast jede Woche stehen Prüfungen auf dem Plan.
Gary Gaukler, 26, kommt aus Deutschland und ist bereits
Doktorand - doch selbst er muss jede Woche Hausaufgaben machen,
die benotet werden. Die Atmosphäre, sagt er, ist "ernsthafter
und zielorientierter" als daheim. Der Stoff sei nicht so
unterschiedlich, aber es herrsche ein immerwährender
Erfolgsdruck.
Max Hofmann, 25, hat Chemie in Tübingen und Heidelberg studiert
und verbringt ein Forschungsjahr in Stanford. Das Niveau
schreckt ihn nicht: Die Kommilitonen seien so gut wie die zehn
Prozent Besten an deutschen Unis. Aber von Stanford gehe ein
Impuls aus, sich richtig anzustrengen: "Das träge Umfeld in
Deutschland macht jede Motivation tot."
In diesem Umfeld fühlte sich auch Bernd Girod, 44, nicht wohl.
Bis Ende 1999 war er bayerischer Landesbeamter und Ordinarius
der Elektrotechnik in Erlangen-Nürnberg. Der Pionier der
Video-Kompression ("Streaming-Technologie") leitete ein
Institut, das "hervorragend ausgestattet" war. Dennoch: Als ihn
der Ruf ereilte, entschloss er sich leichten Herzens zur
Republikflucht.
In Stanford hat Girod ein Büro von 18 Quadratmetern und ein
Drittel einer Sekretärin. Forschungsmittel und Geräte muss er
selbst einwerben bei der Industrie und bei öffentlichen
Geldgebern. Und trotzdem findet er: "Ich habe hier das beste
akademische Umfeld der Welt."
Vor allem schätzt Girod die amerikanische Offenheit und die
segensreichen Wirkungen des allgegenwärtigen Wettbewerbs. "Um
einen besonders guten Studenten nach Stanford zu holen", sagt
er, "habe ich einmal um sechs Uhr früh im Wohnheim in China
angerufen" - mit Erfolg.
Im letzten Teil:
Auch in Erlangen wollte er einmal eine hoch begabte Chinesin
zur Promotion in Deutschland gewinnen - mit desaströsem
Ergebnis: Als das Landratsamt ihr eine Kaution von damals 35
000 Mark abforderte, entschloss sie sich, lieber in die USA zu
ziehen, wo sie immer noch lebt. "So werden die besten Leute
vertrieben", findet Girod.
Unter den Doktoranden der harten, technischen Fächer sind meist
nur wenige Amerikaner zu finden. Asiaten dominieren, denn sie,
hat Girod festgestellt, tun sich hervor mit "einer besonderen
Arbeitsethik". Exzellente Wissenschaftler kämen von der
Qinghua-Universität in Peking, von den sechs ITTs, den "Indian
Institutes of Technology", und überraschenderweise von der
Scharif-Universität in Teheran. Sie zählten "zu den Besten",
aber wahrscheinlich würden sie nicht mehr ins Land gelassen, da
Iran auf der US-Liste der Schurkenstaaten steht.
Deutsche Doktoranden hat Girod nicht. Weil das deutsche Studium
so lange dauere, seien die Absolventen meist "zu alt" und daher
"etwas immobil". Ihre kreativsten Jahre verbrächten Deutsche in
Hörsälen und zähen Examina - "das ist traurig", findet er.
In Stanford ist das Studium kurz, denn hier gibt es Quartale
statt Semester, aber jedes Quartal sei so intensiv wie ein
deutsches Semester. Und selbst an schlechten US-Universitäten
sei die Qualität der Lehre immer noch besser als in
Deutschland. "Weil die Studenten Gebühren zahlen", sagt Girod,
"werden sie auch besser gepflegt."
Faule Professoren und Langweiler erleiden eine "fatale
Gehaltsentwicklung", erzählt Literaturwissenschaftler
Gumbrecht. Bezüge können eingefroren oder sogar abgesenkt
werden; anerkannte Lehrer hingegen dürfen sich über Preise und
Prestige freuen. Auch deshalb sei das alte Humboldtsche
Bildungsideal von der Einheit der Lehre und Forschung in
Stanford weitaus ausgeprägter als in Humboldts Heimat.
In Stanford ist das Studium kurz, denn es gibt Quartale statt
Semester, aber jedes Quartal ist so intensiv wie ein deutsches
Semester.
Die meisten Professoren leben ebenfalls auf dem Campus - nicht
in Wohnheimen, sondern in Einfamilienhäusern. Die
Immobilienpreise im Silicon Valley zählen zu den höchsten der
Welt, und damit diese ungewollte Spitzenstellung das Personal
nicht zu Konkurrenz-Unis vertreibt, hilft Stanford großzügig
mit Zuschüssen und billigen Hypotheken. Auf diese Weise kann
sich schon ein junger Assistenzprofessor ein Haus für eine
Million Dollar leisten.
Für solche Gaben muss die Universität immerzu Gelder einwerben
- und das gelingt ihr am besten bei den Alumni, den Ehemaligen,
einer in Deutschland völlig ungenutzten Ressource. 40 Prozent
der 170 000 lebenden Alumni geben ihrer Alma Mater aus
Dankbarkeit regelmäßig Geld, manche 50 Dollar, andere 50
Millionen. Im Jahr 2001 hat die Uni Spenden in Höhe von 469
Millionen Dollar eingenommen - auch, weil Stanford die
Klinkendrückerei auf professionelle Weise betreibt.
Die Hochschule sorgt dafür, dass sie bei ihren Absolventen nie
in Vergessenheit gerät. Gerade tourten mehrere Dutzend
Professoren und Geldeintreiber durch zwölf Städte. Sie
offerierten ihren Ehemaligen exklusive Diners, ein Wiedersehen
mit alten Freunden, Podiumsdiskussionen zur Stammzelldebatte
und Seminare wie zu Uni-Zeiten, beispielsweise von einem
prominenten Shakespeare-Kenner. "Wir bieten den Ehemaligen die
Chance, lebenslang von Stanford hinzuzulernen", sagt Howard
Wolf, Chef der Alumni-Association.
Im Gebäude der Vereinigung, das vor lauter Marmor aussieht wie
eine Bank, verfolgt eine ganze Abteilung die Karrieren aller
Ehemaligen mit Stasi-artiger Hingabe: Wer ist an die Börse
gegangen, wer hat Insolvenz angemeldet? Wer kam früher in den
Genuss eines Stipendiums und ist nun wohlhabend genug, auf
sanften Druck selbst eines zu stiften? Wer hat genug Geld und
Eitelkeit, ein Gebäude auf dem Campus zu finanzieren, das
seinen Namen trägt?
Nach Reichtum unter den Absolventen müssen die Spendenjäger
nicht lange suchen. William Hewlett und David Packard besuchten
Stanford, bevor sie jene Computerfirma gründeten, die heute von
der Ehemaligen Carly Fiorina geleitet wird. Absolventen haben
um den Campus herum mehr als 350 Technologie-Firmen gegründet,
darunter Yahoo, Google und Sun Microsystems, eine Firma, die
nichts mit der Sonne zu tun hat, aber viel mit dem "Stanford
University Network". Ohne Stanford, da sind sich alle einig,
gäbe es kein Silicon Valley.
Und ohne die Ehemaligen - kein Stanford.
MARCO EVERS