Große Distanz zu Technik und Naturwissenschaften
Fehlender Brückenschlag zu den Kulturwissenschaften / Gespräch mit dem Siegener Professor Dr. Jürgen Zinnecker
Presseresonanz vom: 21.07.2003
Erschienen in: Siegener Zeitung
ewi Siegen. Technik und Naturwissenschaften seit vielen
Jahren ist das Interesse junger Menschen am Studium der
darunter fallenden Disziplinen rückläufig. Dabei besteht
Einigkeit darüber, dass diese Fächer für die
Innovationsprozesse einer Volkswirtschaft von größter Bedeutung
sind. Insbesondere für Menschen, die sich vornehmlich in
kulturwissenschaftlich orientierten Kreisen bewegen, kommt der
Schritt zu technisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen kaum
in Betracht. In einem Gespräch mit dem Siegener
Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Jürgen Zinnecker hat die SZ
versucht, Gründe dieser Distanz aufzudecken bzw. besser zu
verstehen.
Je mehr man sich an die Alltagserfahrung anlehne, so Zinnecker,
desto zutreffender erscheine die Beobachtung des englischen
Autors C. P. Snow, der in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts
von den »zwei Kulturen«, der technisch-naturwissenschaftlichen
und der literarischen gesprochen hatte. Der
Sozialwissenschaftler kann jedenfalls signifikante
Beobachtungen anführen, die auch für Unterschiede in der
Sozialisation der Menschen sprechen. So habe sich
beispielsweise in den 90er Jahren bei einem Vergleich von
Studierenden in Siegen und Wuppertal gezeigt, dass die
Ingenieurstudenten noch oft im Elternhaus wohnten, während die
Studierenden der kulturwissenschaftlichen Disziplinen
ausgezogen waren. Letztere seien zumeist in ihrer Lebensplanung
viel weiter fortgeschritten gewesen, hatten z. T. sogar schon
selber Familien.
Wie schon dieser erste Gesichtspunkt vermuten lässt, spielt das
Elternhaus bei der Entscheidung über die Studienwahl eine große
Rolle. So sind die Ingenieurberufe vielfach typische
Aufsteigerberufe, d. h. sie werden häufiger von jungen Leuten
gewählt, deren Eltern nicht studiert haben, die aber Berufe
ausüben, welche in der Familie zu einer technischen Ausrichtung
führen. Deshalb, so Zinnecker, liege auch die Vermutung nahe,
dass sie schon wegen ökonomischer Zwänge länger im Elternhaus
bleiben.
Viel spricht auch dafür, dass zumindest ein Großteil der
Elternhäuser geschlechtsspezifische Unterschiede macht.
Jedenfalls dürften sich angesichts des sehr geringen
Frauenanteils in den technischen und naturwissenschaftlichen
Disziplinen schon unterschiedliche Verhaltensmuster der Eltern
auswirken. Der Einfluss der Eltern bzw. eines Elternteils wird
vielleicht an einer speziellen Gruppe junger Frauen am
deutlichsten: Bei den ingenieurwissenschaftlichen Studentinnen,
so Zinnecker, gibt es eine Untergruppe, deren Technikinteresse
offensichtlich über die Väter geweckt worden ist. Sie sind im
Elternhaus praktisch wie Söhne aufgewachsen, haben schon früh
dem Vater bei Reparaturarbeiten geholfen usw. Die Signifikanz
der Ausnahme lässt wohl umgekehrt darauf schließen, was im
Normalfall gilt.
Junge Maschinenbauer und Architekten kommen heutzutage
typischer Weise aus zwei unterschiedlichen Richtungen, einer
handwerklichen (Basteln usw.) und einer künstlerischen, wobei
die Interessenten aus letzterer Richtung den Schritt zu
künstlerischen Fächern nicht tun. (Auch diese Richtungen
verbinden sich in unserer Gesellschaft sehr stark mit
Geschlechtsidentitäten. Für Kunst und Kunstgeschichte
entscheiden sich nach Angaben des Sozialwissenschaftlers heute
fast nur noch junge Frauen.)
Für die Wahl der technisch-naturwissenschaftlichen Fächer
erweist sich das Verhältnis des/der Einzelnen zur Mathematik
sehr oft als entscheidend. Die Mathematik bilde quasi die
Trennlinie, legt Zinnecker dar. Insoweit haben Mädchen aber die
schlechteren Chancen, obwohl sie in der Grundschulmathematik
noch keineswegs schwächer abschneiden. Die Differenzierung
tritt spätestens von der Sekundarstufe I an auf, wo sich
Schülerinnen in Mathematik auch bei gleicher Leistung wie
Schüler als weniger begabt einschätzen. Nur eine Minderheit von
jungen Frauen, die mit Mathematik gut zurecht kommt, ist
teilweise sogar besser als die jungen Männer. Während letztere
überwiegend über die Technik in die ingenieur- und
naturwissenschaftlichen Fächer gelangen, findet die erwähnte
Minderheit junger Frauen über die Mathematik zu diesen
Disziplinen.
Offensichtlich gilt es angesichts solcher Tatbestände zu
fragen, ob vielleicht schon an den Schulen die Weichen falsch
gestellt werden. In Untersuchungen des Instituts für Pädagogik
der Naturwissenschaften in Kiel haben sich, so Zinnecker,
Anhalte dafür ergeben, dass die Begabungsreserven auf der Seite
der Mädchen in den Schulen nicht wirklich geweckt werden. Das
liege etwa daran, dass in der Schulphysik die Technikinteressen
der Jungen den Ausschlag geben, die aber den Mädchen nicht
genauso liegen. Eine geschlechtsneutrale Ausrichtung des
Unterrichts müsse deshalb berücksichtigen, dass Mädchen besser
über Alltagstechnik und ökologische Fragen anzusprechen seien,
was die Jungen oft gar nicht interessiert. In solchen Bereichen
sei unsere Gesellschaft noch sehr männerlastig.
Es kann nicht überraschen, dass die Kluft zwischen
naturwissenschaftlich-technischen und kulturwissenschaftlichen
Fächern auch schon in den Lehrerkollegien besteht. Spätestens
an den Hochschulen gelten die naturwissenschaftlich-technischen
Fächer dann als ausgesprochen leistungsorientiert, die
Abbrecherquote ist relativ hoch, und viele Abbrecher wechseln
zu den Kulturwissenschaften. Es fehle offenbar an
Hilfestellung, erklärt Zinnecker. Von Nachteil für die
naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen ist obendrein,
dass hier - vergleichbar dem Schweinezyklus - von Zeit zu Zeit
ein Angebotsüberhang am Arbeitsmarkt entsteht, was
Interessierte zurückschrecken lässt und so wieder die nächste
Lücke verursacht.
Die Leistungserwartungen der naturwissenschaftlich-technischen
Fächer sind also ihrer Akzeptanz unter jungen Leuten nicht sehr
zuträglich. Das hat auch damit zu tun, so Zinnecker, dass die
Lebensentwürfe heutzutage eher hedonistisch, lustbetont sind.
Die »postmoderne« Motivation heutiger Schüler sei offenbar ein
Hindernis für das »asketische Lernen«, wie es in Natur- und
Ingenieurwissenschaften zumeist gefordert wird (und wie es bei
z. T. auch bei Sportlerkarrieren üblich ist). Wer möglichst
schnell die Sonnenseiten des Lebens für sich auftun will, wird
solche Wege also tendenziell meiden. Dabei scheint es gerade in
diesen Disziplinen ausschlaggebend zu sein, in frühen Jahren
das größte Engagement zu bringen. Während nämlich
Kulturwissenschaftler ihre Höchstleistungen erst nach dem 40.
Lebensjahr bringen, ist dies bei Ingenieur- und
Naturwissenschaftlern schon in viel jüngeren Jahren der Fall.
Die erwähnten »zwei Kulturen« scheinen sich also
alltagspraktisch gesehen sogar in der Lebensführung
niederzuschlagen. Ja, anders als in den 70er und 80er Jahren,
als der Gegensatz stark politisiert wurde, nehme man einander
heute nicht einmal mehr zur Kenntnis, konstatiert Prof. Dr.
Zinnecker. Dabei könnte das Gegenteil, die inhaltliche
Auseinandersetzung, vielleicht gerade fruchtbar sein und evtl.
bei mehr jungen Menschen das Interesse an Technik und
Naturwissenschaften wecken.