Bildung eine deutsche Utopie
Wie ein Begriff der mittelalterlichen Mystik zum Generalthema der Pädagogik wurde und warum wir uns davon noch nicht erholt haben
Presseresonanz vom: 04.12.2003
Erschienen in: Die Zeit
Die Zeit (50/2003)
Von Michael Naumann
Deutschlands Universitäten sind das Spiegelbild des nationalen
Unbehagens und manchmal auch sein Blitzableiter. Noch sind sie
nicht haftbar gemacht worden für ökonomische Stagnation oder
die Verspätungen der Bundesbahn. Das wäre nicht gerecht, aber
auch nicht ganz abwegig. Schließlich sind sie es, die unsere
Verwaltungs- und Wirtschaftseliten ausbilden. Auch unsere
Juristen, die den Staatsapparat beherrschen, fallen nicht vom
Himmel. Sie jedenfalls werden so gut ausgebildet, dass sie in
der Lage sind, Macht und Verbreitung ihres Berufsstands ins
Unermessliche zu vergrößern: Pro Kopf der Bevölkerung
gerechnet, gibt es bei uns sechsmal so viele Berufsrichter wie
in England. Entsprechend mehr Rechtsanwälte muss es geben.
Jahrelang reichte es, die 68er-Generation für jeden
systemischen Fehler der Republik haftbar zu machen. Inzwischen
hat man neue Schuldige gefunden. Es sind die Strukturen des
Wohlfahrtsstaates und seiner wirtschaftsrelevanten
Rechtsverordnungen. Die Strukturanalytiker sind natürlich
ebenfalls Akademiker. Wenn denn die Bildungsanstalten an allem
Schuld sein sollen, dann können ihre Absolventen diese Schuld
in Hunderten von Kommissionssitzungen auch erklären und die
pädagogische Nationalkrise mit Reparaturvorschlägen beleben.
Seit Georg Pichts Prophezeiung einer drohenden deutschen
Bildungskatastrophe (1963) steht der Kammerton unserer Schul-
und Hochschuldebatten fest: Die öffentliche pädagogische
Diskussion ist stets von einem pessimistischen Gefühl des
Verlustes geprägt. Da helfen nur radikale Reformen.
Zivilisation war etwas Welsches, Kultur war das Unsere
Eine jener vielen Kommissionen, nämlich diejenige zur
Strukturreform der Hamburger Hochschulen, hat vor ein paar
Monaten ihre Blaupause zur Verbesserung der akademischen
Ausbildung vorgelegt. Sie sieht die Halbierung des
geisteswissenschaftlichen Fächerangebots vor, zum Vorteil der
Naturwissenschaften und der Ingenieurstudiengänge. Mehr
Steuergeld soll fließen für Nanotechnologie, Wirtschafts-,
Rechts- und Biowissenschaften. Doch ihre Vorschläge sind so neu
nicht.
Universitätsreformen in Deutschland sind seit dem Ausgang des
19. Jahrhunderts stets mit dem Abbau der Geisteswissenschaften
verbunden gewesen. Spätestens nach 1871 endete in Deutschland
der historische Antagonismus zwischen klassischer und moderner,
industriell und naturwissenschaftlich geprägter Bildung. Die
erfolgreich nachgeholte industrielle Revolution in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das Land von Grund auf
verwandelt. Nicht Bildung, sondern Erziehung hieß die
pädagogische Parole. Kaiser Wilhelm II. rühmte sich, das
Promotionsrecht für die Technischen Hochschulen (1899) erkämpft
zu haben. Die weitere Produktion junger Römer und Griechen an
den Gymnasien empfahl er nicht. Statt Latein wurde
Deutschunterricht die Konstante im wilhelminischen Schulgang.
Die Gleichwertigkeit der Gymnasien, Realgymnasien und
Oberrealschulen wurde durch Erlass vom 26.November 1900 amtlich
anerkannt. Deutschland, so sollte der Kaiser elf Jahre später
Kasselaner Gymnasiasten zurufen, stellten sich neue Aufgaben:
Wir müssen nationalökonomische und finanzielle Kenntnisse uns
aneignen, denn es gilt, Deutschland seine Stellung in der Welt,
besonders auf dem Weltmarkte zu wahren.
Zu jenem Zeitpunkt hatte die Pharma-, Maschinenbau- und
Rüstungsindustrie den Vorsprung der konkurrierenden
europäischen Nationen aufgeholt. Im Zeitalter des akademischen
Positivismus stiegen die Philosophen, Historiker und Philologen
alter Schule auf der nationalen Prestige-Skala auf die
mittleren Plätze ab. Fabrikanten und Bankiers, Offiziere und
Erfinder galten als vorbildliche Bürger - und neben ihnen
natürlich die Beamten, vom Adel ganz zu schweigen. Doch die
Geisteswissenschaftler zogen sich nicht kampflos zurück. Sie
hinterließen den deutschen Inbegriff ihrer akademischen
Existenz, den Begriff der Bildung er war und blieb
explosiv.
Wir sind die einzigen Europäer, die für Erziehung noch ein
zweites, im Grunde genommen sehr seltsames Wort geprägt haben
ebenjene Bildung. Es taucht im allgemeinen Sprachgebrauch
Ende des 18.Jahrhunderts auf und war, in den Worten von Moses
Mendelssohn, neben Kultur und Aufklärung in unserer Sprache
noch (ein) Neuankömmling
(und bezeichnete) Bemühungen der
Menschen, ihr geselliges Leben zu verbessern
In Wirklichkeit waren bildunge, überbilden, in sich
bilden mittelalterliche Neologismen Meister Eckharts, die
mystische Erfahrungen der Gottesebenbildlichkeit des Menschen
beschrieben. Gott sich anzunähern, ja, mit ihm eins zu werden,
war für ihn ein Bildungsakt: Swenne der Geist haftet an Gote
mit ganzer einunge des willens, so wird er vergotet. Die
Hingabe an Gott war ein Bildungserlebnis.
Über den philosophus teutonicus Jakob Böhme drang die
ursprüngliche Bedeutung des Wortes in die Reflexionen der
deutschen Idealisten ein. Aus dem Himmel der mystischen
Erfahrung wurde es auf die Erde geholt. Seine Herkunft ist
heute vergessen; gleichwohl schimmert sein Erlösungsanspruch
immer noch in der Vehemenz unserer Bildungsdebatten durch. Erst
eine durch und durch gebildete Nation, so die heimliche
Hoffnung aller Bildungspolitiker, sei eine glückliche. Dass sie
zugleich auch eine wohlhabende sein würde, gilt als
willkommener Nebeneffekt.
Das ästhetische Bildungsideal des frühen 19.Jahrhunderts ist
zwar untergegangen, doch in seinem Nachschein ist das utopische
Versprechen von Freiheit und Glück aufbewahrt, das die
Idealisten und Neuhumanisten im Wort Bildung verborgen
hatten. Dabei hatte ihre Idee der Bildung den Universitäten von
Anfang an eine allzu hohe Verantwortung aufgeladen. Sie sollte
den Menschen befreien, während gleichzeitig die politische
Restauration das gesellschaftliche Leben mitsamt seinen
demokratischen Hoffnungen sterilisierte. Erziehung im Geist
der Aufklärung galt und gilt immer noch dem pädagogischen,
zweckgerichteten Prozess. Bildung hingegen war mehr, war
schon im späten 18. Jahrhundert die Summe aller Erziehung zu
einem höheren Zweck, nämlich der Emanzipation der mittleren
Stände. Sie ging in Deutschland einher mit der Nationbildung.
In der Geschichte des deutschen Bildungsideals also jenseits
der Anforderungen praktischer Erziehung war von Anfang an ein
Wille zur nationalen Überlegenheit beschlossen, und ebendieser
Wille zum absoluten Wissen, mit Hegel gesprochen, hat die
erzieherische Idee im Konzept von Bildung selbst unterhöhlt
und zugleich den mentalen Sonderweg der Deutschen in die
Moderne geprägt. Er zeichnet sich aus durch ein Nebeneinander
akademischer Tüchtigkeit in den technischen Hochschulen und
akademisch-nationalistischem Stolz führender
Geisteswissenschaftler und ihrer Klientel, dem
Bildungsbürgertum. Zur besseren Unterscheidung von den Nachbarn
entwickelten wir die Begriffsdifferenz zwischen Kultur und
Zivilisation. Letztere war etwas Welsches, allzu Modernes.
Bildung und Kultur aber waren das Unsere.
Jener Stolz war und ist dem seltsamen Erlösungsanspruch der
Bildungselite selbst geschuldet. Im Begriff von Bildung war
ein geradezu millenarischer Hochmut angelegt. Er hatte einfach
zu viel versprochen: Freiheit, mehr noch Gottwerdung durch
Bildung, durch Kunst und Kultur. In den Worten des Romantikers
Friedrich Schlegels: Gott werden, Mensch sein, sich bilden
sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten.
Die modernen Phantomschmerzen der Nation über den Verlust einer
kulturell gebildeten wirtschaftlichen und politischen Elite
haben ihren Ursprung in der enttäuschten, utopisch-ästhetischen
Hoffnung, dass sich Deutschland über die subjektive Erfahrung
künstlerischer Schönheit statt über revolutionäre Gewalt oder
eine republikanische Verfassung zur Freiheit hin, zum besten
aller möglichen Staaten entwickeln möge. Dass auch die
Elite-Kenntnisse der griechischen Heldensagen das politische
Unglück des 20.Jahrhunderts nicht verhindern konnten, steht auf
einem anderen Blatt.
Der göttliche Erziehungsplan und Deutschlands Rolle
Bildung war das erstrangige Symbol im historischen Aufbruch
des Bürgertums zur politischen Existenz. Unvergessen war den
gebildeten Ständen des frühen 19. Jahrhunderts Lessings
Erziehung des Menschengeschlechts, jene Vision eines
teleologisch ablaufenden Bildungs- und Erziehungsfortschritts
der Menschheit, die von einer Schulklasse zur anderen aufrückt,
von der Orthodoxie zur Aufklärung, von der Volksschule zur
Matura. Lessings Idee des göttlichen Erziehungsplans hatte sich
in der eschatologischen Grundstimmung des Idealismus und
Neuhumanismus zur heimlichen Obsession verklärt. Ich fühle
nun, so Wilhelm von Humboldt, dass ich auf eine Einheit
getrieben werde
Diese Einheit Gott zu nennen, finde ich
abgeschmackt, weil man sie so ganz unnützerweise aus sich
hinauswirft. Diese Einheit ist die Menschheit, und die
Menschheit ist nichts anderes als ich selbst.
Derlei Bildungsutopien hatten einen weniger exaltierten
Vorläufer. Die Rede ist von Schillers Briefen über die
ästhetische Erziehung des Menschen. Sie erschienen 1795 in den
Horen und sind der Gründungstext eines Bildungs- und
Kulturideals, das für das 19. Jahrhundert maßgeblich werden
sollte und das fortlebt im Spannungsverhältnis von Geist und
Macht (welches nur in Deutschland ein Thema der politischen
Diskussion im Feuilleton geblieben ist.)
Für eine neue Gesellschaft, für den neuen Staat, geboren aus
dem Geist der Vernunft und der Freiheit, entwickelte Schiller
Voraussetzungen mit dezidiert antirevolutionären Vorschlägen.
Er bestand nicht darauf, das Volk zum politischen Handeln zu
bewegen, sondern hoffte, den einzelnen Bürger und die Fürsten
an einen seelischen Punkt zu bringen, an dem sie reif würden
für den künftigen Vernunftstaat dank der kulturellen Veredelung
des Menschen. Er setzte alle Hoffnung auf die ästhetische
Erziehung, auf die kathartische Wirkung der Kunsterfahrungen
einer ganzen Nation. Dieser Traum, über ästhetische Bildung
frei zu werden, sollte schließlich das Geschenk der
Winckelmann, Goethe und Schiller, der Humboldt, Fichte,
Schelling und Hegel an das nachgeborene deutsche Bürgertum
sein, das die Perfektibilität der Menschheit an sich selbst,
als gebildetem, vorleben sollte. Für Wilhelm von Humboldt hieß
die Menschen zu bilden, sie nicht zu äußeren Zwecken zu
erziehen. 1810 fordert er, die Bildung der Bürger bis dahin
zu erhöhen, dass sie alle Triebfedern zur Beförderung des
Zwecks des Staats allein in der Idee des Nutzens finden, welche
ihnen die Staatseinrichtung zur Erreichung ihrer individuellen
Absichten gewährt. Anders gesagt: Der Staat ist gefordert als
Ermöglicher gesellschaftlicher Bildung, dies ist sein höchster
Zweck. Statt des amerikanischen Ideals pursuit of happiness
entwickelten wir the pursuit of Bildung.
Der preußische Staat als das Endprodukt menschlicher Bildung
Politische Funktion von Bildung sei es allerdings, in den
Worten von Hegels Rechtsphilosophie, den subjektiven Willen
des Einzelnen in jene Objektivität zu wenden, die er die
Wirklichkeit der sittlichen Idee nannte, also den Staat.
Bildung verwandelt sich so zum spekulativen Kern einer
idealistischen theologia civilis, die eine freiheitliche
Versöhnung von Subjekt und Objekt, von Individuum und Staat
feiert. Ihre praktische Ausbildung lautet dementsprechend
freiwilliger Gehorsam, Liebe zum Staatsdienst, Hingabe an die
Nation. Die Künste, bei Schiller noch Voraussetzung glücklicher
privater Existenz, sind im Idealismus gleichsam überwunden,
sind nur noch historische Vorstufe in der Emanzipation der
Menschheit zum absoluten Wissen, das im preußischen Staat
politische Realität wird. Dieser ist, anders gesagt, das
Endprodukt menschlicher Bildung. Dem Idealismus ist der
bürgerliche Staat das objektive, göttliche, auf alle Fälle aber
sittliche deutsche Bildungsprodukt. Folgerichtig verstehen sich
die Lehrer, bereits 1848 zahlreich in der Paulskirche
vertreten, als neue Priester (Friedrich Theodor Vischer) der
säkularen Gesellschaft.
Weder Frankreichs noch Amerikas Revolutionäre waren der
Ansicht, dass politische Freiheit ein Produkt der ästhetischen
Erziehung sei. Man sah das pragmatischer. Herrschaftsteilung,
Machtkontrolle, Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf
Privatbesitz, Meinungsfreiheit und Toleranz galten als die
Tugenden einer freien Gesellschaft. In Deutschland aber sollte
sich die Hoffnung verbreiten, dass Freiheit eine Freiheit des
Herzens, des Wissens und der ästhetischen Empfindsamkeit sein
könne. Dies machte schließlich den besonderen Charakter unserer
Vorstellung von wahrer Bildung aus: Er hat die eigene Krise,
ja, seine positivistische Überwindung im späteren 19.
Jahrhundert überstanden.
Auf dem Gipfel der Geschichte stand eine deutsche Universität,
stand ihr Absolvent, der Bildungsbürger. Selbst das olympische
Selbstbewusstsein der deutschen Ordinarien-Universität, das
noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu bestaunen
war, war ein fernes Echo dieser Entwicklung. Seine
gesellschaftliche Haltlosigkeit hatte sich mit der verspäteten
Industrialisierung Deutschlands angekündigt, als die
geisteswissenschaftlichen Fakultäten in den Schatten der
positivistischen Fortschrittsstimmung gerieten. Dort ist der
klassische Bildungsbegriff, seines idealistischen Inhalts
entleert, untergegangen. Nun lebt er als Worthülse fort, die
von Jahr zu Jahr mit neuen Kommissionsvorschlägen gefüllt
werden kann.
Im Sprachgebrauch verbanden sich die Begriffe Kultur und
Bildung oft genug mit nationalistischem Größenwahn und
übersteigertem Selbstwertgefühl. Kein anderer Staat hat sich in
seiner Geschichte so nachdrücklich auf seine Kultur berufen,
sie dermaßen idealisiert und zugleich malträtiert wie
Deutschland. Im Wort vom Volk der Dichter und Denker verbarg
sich der Wille zu europäischer Besonderheit, ja, zur geistigen
Überlegenheit. Der deutsche Sonderweg, jenes eigentümliche, von
England, Frankreich oder den USA so sorgsam unterschiedene
Identitätsgefühl, das andere Verständnis von
Nationalstaatsbildung und davon, wie die
technisch-wissenschaftliche Modernisierung zu bewältigen sei,
dieser Sonderweg ist aufzufinden in den Spuren und der Sprache
unserer Kultur aber auch in Adornos klagender Rede vom
Verblendungszusammenhang der (amerikanischen)
Kulturindustrie.
Der zeitgenössische Pessimismus der deutschen Kultur- und
Bildungskritik entspringt offenkundig immer noch dem
monumentalen Anspruch des Idealismus, in Bildung und Kultur den
deutschen Weg zur vernünftigen Ordnung des Staates entdeckt zu
haben. Dank seiner eigenen Verstiegenheit ist dieser Anspruch
schon im 19.Jahrhundert gescheitert; doch seine originäre
Substanz lebt fort in der deutschen Bildungsdebatte. Dass sie
immer noch mit heftiger Inbrunst geführt wird, lässt sich
vielleicht aus ihrem ursprünglichen Plan erklären, entweder die
ganze Welt zu erlösen oder doch dem einzelnen Menschen
zumindest in seiner machtgeschützten Innerlichkeit das Glück
zu verschaffen, das andere Nationen im Politischen zu verankern
suchten.
Unsere Bildungsdebatten sind insofern historisch
undurchsichtige Debatten zur Selbstverständigung. Da wir uns
aber keine besseren gesellschaftlichen Diskussionsthemen
vorstellen können als angeblich drohende kulturelle oder
wirtschaftliche Katastrophen und die Suche nach ihren
Schuldigen, werden sie uns so lange weiter begleiten, solange
es die Bundesrepublik gibt.
(c) DIE ZEIT 04.12.2003 Nr.50