STUDIEREN IN REYKJAVIK - Eine Uni im Dämmerzustand
http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,284072,00.htmlVon Henryk M. Broder Das Wintersemester in Island gleicht einer ewigen Nacht. Gegen Depressionen hilft da nur eins: Arbeiten, bis es wieder heller wird.
Presseresonanz vom: 01.03.2004
Erschienen in: Uni Spiegel
Als Carsten Thomas im September 2002 in Reykjavík ankam, da
war "noch alles in Ordnung". Die Tage waren lang, die Nächte
kurz. Der DAAD-Lektor für Germanistik hatte sich eigentlich für
eine Stelle in Großbritannien beworben, "aber dann wurde es
eben Island". Er wusste, dass die klimatischen Bedingungen hart
sein würden, ganz anders als in Siegen und Houston (Texas), wo
er Germanistik, Philosophie und Psychologie studiert hatte.
Aber als es dann November wurde, merkte Carsten Thomas, dass er
allein mit Disziplin und Fleiß nicht über die Runden käme, wenn
er seinen Studenten deutsche Literaturgeschichte von Martin
Luther bis Martin Walser beibringen wollte. "Ich musste meinen
Rhythmus umstellen, ich konnte nachts nicht schlafen, ich
gewöhnte es mir an, nachts zu arbeiten."
Thomas machte die Nacht zum Tag, er korrigierte Arbeiten bis
zwei Uhr morgens, las dann bis fünf oder sechs Uhr, schlief
drei, vier Stunden und war um zehn Uhr wieder in der
Universität, um seine Seminare zu geben. "Das kostete viel
Kraft, und ich hatte schon Angst, dass es so bleiben würde."
Als die Tage dann im Februar länger wurden, stellte er seine
innere Uhr wieder um. "Ich arbeitete nur noch bis zwei Uhr
nachts, schlief länger und stand früher auf." Und mit dem
Sommer, der in Island im Mai einsetzt, kam "der endlose
Energieschub". Es wurde Licht! "Man guckt aus dem Fenster, es
ist hell, und man weiß nicht, ist es Tag oder ist es Nacht."
Jetzt schaut Thomas aus dem Fenster seines Büros im Haus der
Geisteswissenschaftler auf dem Gelände der Isländischen
Universität und sieht, wie die Flugzeuge auf dem Stadtflughafen
nebenan starten und landen. Es ist elf Uhr, Reykjavík liegt im
Dämmerlicht, die Nacht weicht dem Tag, es könnte aber auch
umgekehrt sein. Thomas hat schon ein Seminar hinter sich, über
die Geschichte der Comedian Harmonists. Es fing um acht Uhr an,
das war "für alle Beteiligten mitten in der Nacht". Sogar bei
"Veronika, der Lenz ist da!" hatten seine Studenten Mühe, die
Augen offen zu halten.
"Licht auf Vorrat tanken"
Kann man unter so extremen Wetterbedingungen lernen und
arbeiten? "Man kann", sagt Thomas, der 1966 im Westerwald
geboren wurde, wo das Wetter ebenfalls zu den Prüfungen gehört,
denen man nicht entkommen kann. "Man muss sich nur darauf
einstellen." Im Winter sollte man "viel spazieren gehen und
natürliches Licht aufnehmen", und im Sommer, "wenn es nicht
viel wärmer, sondern nur heller wird", sollte man "Licht auf
Vorrat tanken". Seine Kollegen hätten ihn gewarnt, man könne im
isländischen Winter "leicht depressiv werden", aber so weit sei
er nicht. Und wenn ihn doch ein wenig Schwermut überkommt, dann
hilft das Poster, das über seinem Schreibtisch an der Wand
hängt: "Kreidefelsen auf Rügen, um 1818" - auf dem Bild von
Caspar David Friedrich scheint die Sonne das ganze Jahr.
Es sind nicht nur Touristen und Zugezogene, deren Gemüt eine
Belastungsprobe erlebt, wenn die Tage kürzer und die Nächte
länger werden. Was die Dichter anregt und die isländische
Literatur zu einem Markenzeichen erhoben hat, das macht vielen
gewöhnlichen Isländern im Alltag schwer zu schaffen. Silja
Edvardsdóttir, 1979 in Reykjavík geboren, würde morgens nicht
aufstehen, wenn sie nicht ihre drei Pferde versorgen müsste.
Die Tochter einer Schuldirektorin und eines Mathematiklehrers
lebt zusammen mit ihren Eltern in Mosfellsbaer, 20 Autominuten
östlich von Reykjavík. Mit 16 Jahren hat sie "fast den ganzen
Winter im Zimmer verbracht", sieben Monate verließ sie das Haus
nur unter Zwang, um zur Schule zu gehen. "Vielen Jugendlichen
geht es genauso."
Nach dem Abitur ging sie für ein Jahr nach Deutschland, auf
einen Pferdehof bei Karlsruhe, wo Islandpferde gezüchtet
werden. Weil sie die Leute dort nicht verstand, beschloss sie,
Deutsch zu lernen, und schrieb sich nach ihrer Rückkehr bei den
Germanisten an der Uni ein. Inzwischen spricht sie fließend und
akzentfrei Deutsch und schreibt eine Arbeit über die Rezeption
isländischer Literatur in Deutschland. Im Herbst will sie nach
Heidelberg, um dort Neuere deutsche Literatur zu studieren -
und um dem langen, dunklen Winter auf Island zu entkommen.
"Jeden Morgen stehe ich um neun Uhr im Stall, um elf Uhr bin
ich im Seminar, dann wird es langsam hell, und wenn ich
nachmittags in die Bibliothek gehe, wird es wieder dunkel." Sie
hat Freunde, "die im Winter nicht schlafen können oder nur noch
schlafen möchten". Dass viele Deutsche auch in der dunklen
Jahreszeit gern nach Island kommen, kann sie sich nur mit der
seltsamen "Liebe der Deutschen zur heilen Welt" erklären: "Sie
sind Naturromantiker, und im Winter ist die Natur am
romantischsten."
Auch Antidepressiva helfen nur mäßig
Auch im Sommer unterscheiden sich die Tage nur wenig von den
Nächten, es bleibt einfach immer hell. "Da hat man Kraft ohne
Ende, und kein Mensch kommt dazu, depressiv zu sein." Es gibt
viele Möglichkeiten, die "Winterdepression" zu bezwingen.
Schwierig und belastend sind nicht so sehr die langen Abende
als vielmehr die dunklen Stunden am Vormittag. Eine
Akademikerin hat einen Job als Zeitungsausträgerin angenommen,
um sich zu zwingen, in der Frühe aufzustehen.
Das wäre Valur Antonsson zu mühsam. Als Schüler hat er Egill
Skallagrímsson bewundert, einen Wikinger und Dichter, der im
10. Jahrhundert im Kampf gefallen ist. "Der hat einfach den
ganzen Winter geschlafen." Das kann sich Valur, 1976 in
Reykjavík geboren, nicht leisten, denn er studiert Philosophie
und will sein Studium möglichst bald mit einer Arbeit über
Hegel abschließen. Außerdem schreibt er wie sehr viele Isländer
Gedichte. Sein erstes Lyrikbuch soll in diesem Monat erscheinen
und "Verlorene Superhelden" heißen. "Es geht darum, wie man den
modernen Zynismus überwinden kann."
Valur hat das Abitur in Schweden gemacht, in Prag und Granada
gelebt und verkörpert den neuen, mobilen Isländer, der "global
and local" zugleich agiert. Er wäre gern im Winter wieder nach
Spanien gefahren, aber das hätte seinen Studienplan
durcheinander gebracht. Also hat er sich eine Tageslichtlampe
gekauft. Die macht er morgens gleich nach dem Aufwachen an und
schaltet sie im Winter am frühen Nachmittag ein, "um den Tag zu
verlängern". Er schwört, dass es hilft, "die Disziplin und das
Selbstvertrauen" wiederherzustellen, die als Erste verloren
gehen, wenn die dunkle Jahreszeit einsetzt.
"Ich gehöre einer Minderheit an, die sich mit dem Winter nicht
abfinden kann." Er hat es schon mit Antidepressiva versucht,
aber nur mit mäßigem Erfolg. Die Tageslichtlampe wirkt
schneller und hat keine Nebenwirkungen. "Man muss eine Stimmung
nicht als Schicksal hinnehmen, man kann etwas dagegen tun."
Zehn bis elf Prozent der Isländer leiden an einer
"Winterdepression", verursacht durch Mangel an Licht. Aber nur
etwa drei Prozent sind dauerhaft depressiv, unabhängig von der
Jahreszeit. Das hat Jóhann Axelsson herausgefunden,
emeritierter Professor für Neurophysiologie an der Isländischen
Universität. Axelsson, 1930 im Norden der Insel geboren, ist
eine Kapazität auf seinem Gebiet und gilt sogar unter den
isländischen Naturwissenschaftlern als Original. Sein Vater und
sein Großvater waren Fischer ("Aber mit eigenen Schiffen"), und
auch er sollte ein "Captain" werden.
"Wir Isländer tun gern seltsame Dinge"
Doch statt Fische zu fangen, wollte er lieber lernen, "wie das
Gehirn funktioniert und wie die Nerven und die Muskeln
zusammenarbeiten". Nach einem Studium der Medizin und
Pharmakologie in Kopenhagen, Oslo, Lund, Paris und Oxford und
zwei Promotionen kam er 1966 nach Reykjavík zurück, wo er
seitdem vor allem ein Gebiet erforscht und bearbeitet:
"Gesundheit in der Polarregion". Er misst Lichtdauer und
Lichtintensität im Jahresverlauf, hält die Ozonwerte fest und
stellt alle Daten, die er erhebt, in einen empirischen Kontext.
"Wir Isländer tun gern seltsame Dinge."
Jetzt hat er sich einen Tee in einer Suppentasse geholt und
doziert über die Tee-Rituale der Briten, bevor er sich seinem
eigentlichen Thema zuwendet, dem Zusammenhang von Licht, Wetter
und Wohlbefinden: Schon Hippokrates habe erkannt, welchen
Einfluss die Jahreszeiten auf die körperliche und seelische
Gesundheit hätten. Ein US-amerikanischer Psychiater namens
Norman Rosenthal habe Mitte der achtziger Jahre den Begriff
"Seasonal Affective Disorder" (SAD) eingeführt, eine Störung,
die "durch den Mangel an Tageslicht verursacht wird".
Vereinfacht gesagt, je weiter man in den Norden kommt, umso
höher wird die SAD-Rate. Während die Menschen in südlichen
Regionen, unabhängig von der Lebensqualität, weniger anfällig
sind, leiden in Alaska 30 bis 40 Prozent der Einwohner an der
Seasonal Affective Disorder.
Diesen Befunden entsprechend müsste auch Island, das zwischen
dem 63. und dem 67. nördlichen Breitengrad liegt, eine Hochburg
der Winterdepressiven sein. Das nahm auch Axelsson an. Weil er
aber nichts als gegeben hinnimmt ("Glaube niemals, was die
Professoren sagen"), fand er heraus, dass die Isländer in einem
viel geringeren Ausmaß SAD-befallen sind, als sie es der
Theorie nach sein müssten. Da er auch seinen eigenen
Ergebnissen nicht traute, unternahm Axelsson eine weitere
Studie in Kanada. Er untersuchte die Nachkommen eingewanderter
Isländer und "normale" Kanadier. In der Kontrollgruppe gab es
dreimal so viele Depressive wie bei den "Isländern".
Damit war Norman Rosenthal widerlegt. "Der Mangel an Licht
spielt eine Rolle, aber es gibt auch einen genetischen Faktor."
Das biologische und kulturelle Erbe präge die isländische
Mentalität stärker als das Wetter. "Die Wikinger können nicht
depressiv gewesen sein, sonst wären sie nicht in das Unbekannte
aufgebrochen."
Axelsson ist ein Beleg für seine eigene Theorie. Mit zwölf
Jahren hatte er zum ersten Mal eine Winterdepression. Die Ärzte
konnten ihm nicht helfen. Sein Vater las ihm tagelang aus der
Grettis-Saga vor. Heute ist er 73, seit drei Jahren eigentlich
pensioniert, forscht und lehrt aber noch immer. "Die werden
mich nicht los." Und Axelsson ist keine Ausnahme. Das übliche
Rentenalter beginnt mit 70 Jahren, Freiberufler arbeiten, so
lange sie wollen oder können, niemand käme auf die Idee, für
die 35-Stunden-Woche zu streiken.
Schier endloser Winterschlaf
"Wir arbeiten viel und gern", sagt die Philosophin Sigridur
Thorgeirsdóttir, die an der Universität Kant und Hegel liest,
"es gibt bei uns nicht einmal arbeitslose Philosophen." Und
deswegen muss, wer vom Lernen und Studieren in Island spricht,
auch übers Arbeiten reden. Denn die Übergänge sind fließend.
"Hier studieren die Leute in jedem Alter", sagt Heimir
Steinarsson, 35, der mit seiner Frau Elisa und zwei kleinen
Kindern in einem Vorort von Reykjavík lebt. Der Sohn eines
Flugingenieurs bei der Cargolux ist in Luxemburg aufgewachsen,
kam mit 17 nach Island zurück, beendete die Schule und machte
eine Lehre als Setzer. Dann arbeitete er in einer Druckerei,
gründete eine Familie und beschloss vor einem Jahr, Germanistik
zu studieren. Seinen Abschluss will er mit einer Arbeit über
vergleichende Linguistik machen. Als Kind, erinnert er sich,
"fiel ich in eine Art Winterschlaf von November bis Ostern",
als Drucker "konnte ich mir keine Winterdepression leisten",
denn im November und Dezember "war immer Hochbetrieb".
Heimir ist mit seinem Leben zufrieden, ebenso wie Bryndís, 25,
die im Seminar neben ihm sitzt. Die junge Mutter wohnt mit
ihrem Mann Jürgen, einem Schreiner, in einem Studentenheim und
gibt ihren Sohn Isak, 18 Monate, jeden Morgen im Kindergarten
im selben Haus ab. Dann bereitet sie sich auf die Uni vor. "Ich
finde es romantisch, in der Dämmerung zu lernen." Im Mai, wenn
der Tag nicht mehr endet, falle es ihr schwerer, sich zu
konzentrieren, zu viele Versuchungen locken ins Freie.
"Wir arbeiten uns einfach durch den Winter", sagt Audunn
Arnorsson, 35, Redakteur bei der Reykjavíker Zeitung
"Morgunbladid"; er schreibt gerade ein Buch, in dem er den
Isländern die Osterweiterung der EU erklärt. Im Sommer lasse
die Disziplin dann erheblich nach. "Man bringt sich mit Arbeit
durch den Winter", sagt auch Hany Hadaya, 41, ein Syrer, der
seit 1988 auf Island lebt, acht Jahre beim isländischen
Nationalballett getanzt hat und jetzt zusammen mit seiner Frau
im "Kramhúsid", einer privaten Tanzschule, Tango, Walzer und
Milonga unterrichtet. Seine älteste Schülerin ist 85, sie kommt
mit ihren zwei Töchtern, beide über 60, zum Unterricht. Und
macht schon Pläne für den nächsten Winter, möchte dann Yoga
oder Bauchtanz lernen. Oder beides.