
Kurzgeschichte des Sehens
Wie die Camera obscura einen Perspektivwechsel einläutete.
Die Geschichte des Sehens ist untrennbar mit der Entwicklung
und Veränderung von Perspektive sowie der Entstehung der
optischen Medien verknüpft. Insofern macht es Sinn dem
Medientheoretiker Friedrich Kittler zu folgen (vgl. Kittler 2002)
und die Geschichte hin bis zu den ersten Bildern
zurückzuverfolgen. Denn diese stellen die ersten Speichermedien
dar. Ihr entscheidender Unterschied zu heutigen Bildern liegt
allerdings darin, dass sie zwar speicherbar jedoch nicht
übertragbar waren. Denn Bilder hatten stets einen festen Ort,
der aufgesucht werden musste, um sie zu betrachten. Doch schon
allein die Tatsache, dass diese Bilder Informationen speichern
konnten, macht sie zu einem wichtigen Teil in der Vorgeschichte
unserer Perspektive.
Mit der Entwicklung der Schrift auf Papyrus oder Pergament kam
dagegen ein neues Medium auf, das nicht nur Speicher- sondern
auch gewisse – wenn auch noch langsame –
Übertragungsfähigkeiten besaß. Schriftrollen und spätere Bücher
konnten weitergegeben und übertragen werden. In der einmaligen
Kombination aus Speicherung und Übertragung von Informationen
sieht Kittler den wesentlichen Grund für die lange währende
monopolistische Stellung der Schrift.
- 3D-Prinzip der "Zentralperspektive" nach Leon Battista
Alberti. Quelle »
Entstehung der linearen Zentralperspektive
Die malerische Technik, alle Linien, Winkel und
Größenverhältnisse auf einem Bild genauso erscheinen zu lassen,
wie sie sich auf unserer Netzhaut abbilden, also die
Selbstabbildung der Natur, wird als Linearperspektive oder lineare Zentralperspektive
bezeichnet.
Diese realistische Abbildung der Natur herrschte jedoch noch
nicht immer vor, sondern entwickelte sich erst ab Mitte des 15.
Jahrhunderts. Eine entscheidende Rolle bei der Entdeckung
linearen Zentralperspektive und damit auch gleichzeitig der
Begründung der heutigen Bildanalyse, misst Friedrich Kittler
einem Schüler von Brunelleschi zu: Leon Battista Alberti . Dieser entwickelte das
„fenestra aperta“
, ein rechteckiger
Leinwandstoff als Fenster der durch seine senkrechten und
waagrechten Fäden lauter kleiner rechteckige Löcher bildete.
Auf Papier übertragen, konnten in diesem Muster geometrische
Zeichnungen entstehen, die allen Gesetzen der linearen
Zentralperspektive entsprachen. Und erst um 1600 formulierte
Johannes Kepler die erste physikalisch abgesicherte Theorie des
Netzhautbildes
, und übertrug damit das
Prinzip der Natur auf die Funktionsweise des menschlichen
Auges.
- Zeichnung aus Descartes' "Le Monde, ou traité de la
lumière", (1664). Quelle »
Angesichts dieser Tatsachen kommt – zu Recht – die Frage
auf, warum sich diese Form von Geometrie erst so spät
durchsetzte. Der Grund liegt vor allem darin, dass die
herrschende Lehre bis dahin alle optischen Gesetze auf einen
Sehstrahl begründete, der nicht von der Lichtquelle zum Auge
sondern umgekehrt vom Auge zur Lichtquelle führte. Eine
Vorstellung der Antike, die jeden Gedanken an eine
Selbstabbildung der Natur im Auge verhinderte. Zudem gab es
einen lange währenden Widerspruch zwischen dem perspektivischen
Sehen und der vorherrschenden theologischen Meinung. Das neue
Konzept des menschlichen Sehens , dass sich
von der antiken Vorstellung des Augenstrahls löste, passte
nicht mehr in das Bild von Religion und überschritt damit
folglich den Bereich des Erlaubten. So veröffentlichte
beispielsweise der französische Philosoph, Mathematiker und
Naturphysiker René Descartes seine Schrift "Traité de l'homme"
("Abhandlung über den Menschen") aus dem Jahr 1632 zeitlebens
nicht; aus Furcht vor der Inquisition. Erst 1662 erschien das
Werk, in dem Descartes den Organismus des Menschen auf dessen
Mechanik reduzierte, unter dem Titel "De homine".
Ein weiterer Grund, weshalb sich die lineare Zentralperspektive
erst im 15. Jahrhundert durchsetze dürfte die Erfindung des
Buchdrucks durch Johannes Gutenberg sein. Diesen Schluss
zieht auch Friedrich Kittler. Er sieht im Buchdruck das
einmalige Medium das andere Medien erst freigab. Denn erst die
Erfindung des Buchdrucks in Europa hat dafür gesorgt, dass
Wissen reproduzierbar war und damit beliebig weitergegeben und
genutzt werden konnte.
Die Camera obscura
Ein Meilenstein in der Entstehung der Linearperspektive war die
Erfindung der Camera obscura . Paradoxerweise war es,
trotz der antiken Vorstellung des Strahlenauges, Aristoteles
(384-332 v. Chr.), der das Prinzip der späteren Camera obscura
vermutlich zum ersten Mal nutzte: Um eine Sonnenfinsternis
beobachten zu können, ohne zu erblinden, schlug er vor, die
Szenerie indirekt über die Rückwand eines Raumes zu beobachten,
dessen Vorderwand ein kleines Loch aufwies.
- Älteste bekannte Illustration einer Camera obscura.
Stich von R. Gemma Frisius, De radio astronomico et
geometrico liber, 1545. Quelle »
Allerdings waren es erst die Araber, die Aristoteles
Überlieferungen von dem Loch näher untersuchten. Sie ersetzten
die Lichtquelle der Sonne durch eine einfache Wachskerze.
Gleichzeitig entwickelten arabische Mathematiker mit Hilfe von
rein empirischen Methoden die Trigonometrie , Winkelfunktionen, die zunächst dem
Zweck dienten, den Effekt von Lichtstrahlen auf ebenen Flächen
zu untersuchen.
Die erste Erwähnung der Camera obscura findet sich schließlich
bei Roger Bacon am Ende des 13. Jahrhunderts. Bacon
baute Apparate in Form einer Camera obscura zur
Sonnenbeobachtung. Es war Leonardo da Vinci
der um 1500 zum ersten den
Strahlengang näher untersuchte und erkannte, dass das Prinzip
auch auf das menschliche Auge angewendet werden kann. Auch
Giambattista della Porta
entwickelte um
1560 das Modell einer Camera obscura. Er schlug vor, das zur
Sonnenseite und Straße gelegene Fenster eines Zimmers bis auf
ein kleines Loch zu verdunkeln um an der gegenüberliegenden
Wand die vorbeilaufenden (und auf dem Kopf stehenden) Passanten
mitzuverfolgen.
Möglicherweise wendete jedoch der Florenzer Goldschmied,
Mathematiker und Architekt, Filippo Brunelleschi zum ersten Mal eine Camera
obscura an. Dessen verschollenes, aber durch einen Biographen
erwähntes Bild (um 1425), das die Außenansicht des Tempels von
San Giovanni, zeigt, lässt nach Überzeugung des japanischen
Kunsthistorikers Shigeri Tsuji den Rückschluss zu, dass
Brunelleschi für die Anfertigung des Bildes eine Camera obscura
genutzt und damit die lineare Zentralperspektive zum ersten Mal
angewendet haben könnte.
Um die Camera obscura nicht nur lediglich zum Abbilden von
Lichtquellen selber sondern auch für die Projektion von
beleuchteten Gegenständen nutzen zu können – also auch für
perspektivische Malerei – waren stets starke Lichtquellen
nötig. Nur so erreichten die Abbildungen eine ausreichende
Schärfe. Ein Problem, dass erst im 17. Jahrhundert durch die
Erfindung der Linse gelöst wurde.
Mit der Camera obscura wurde schließlich zum ersten Mal die
optische automatisierte Übertragung und manuelle Speicherung
von Informationen gekoppelt und damit eine bis dahin nicht
gekannte Exaktheit von Abbildungen erreicht. Gleichermaßen wie
der Buchdruck lieferte auch die Camera obscura zum ersten Mal
exakt Reproduzierbares.
- Lochkamera-Fotografie als Kunstform auf der
Internetseite von Redlich
& Osler
Da sie die manuelle Arbeit des Zeichnens noch nicht ersetzen
konnte, ist sie zwar noch keine Kamera im Wortsinn von
Photographie oder Film. Das Grundprinzip der noch heute
bekannten Lochkameras ist jedoch das gleiche; durch die
Ergänzung von lichtempfindlichem Material ermöglichen diese
allerdings eine automatisierte Speicherung der
Bildinformationen.
Die Funktionweise einer Camera obscura erschließt sich sehr
eindruckvoll bei einem Besuch der größten
begehbaren ihrer Art in Mühlheim oder indem man sich im
Eigenbau einer einfachen Lochkamera in
Miniturform
versucht. Hannelore
Redlich und Dieter Osler
, Jochen Dietrich
aus Siegen, Thomas Kellner
oder der auch Günter
Derleth
haben mit ihren Lochkamera-Fotografien sogar eine
eigene Kunstform geschaffen. Eine kleine Übersicht zu
weiterführender Literatur zum Thema Lochkamera findet sich u.a.
auf der Internetseite von Frank Große-Entrup
.
Auf jeden Fall stellt die Camera obscura den entscheidenden
Ausgangspunkt für diese Erfindungen und
auch für eine Vielzahl von anderen optischen Apparaten
dar, die nachfolgend
entwickelt wurden und immer noch werden. Die Auswirkungen der linearen Zentralperspektive
im
Zusammenspiel mit der Camera obscura sind Grundlagen der
Forschung bis heute – beispielsweise für die Erklärung der
räumlichen dreidimensionalen Wahrnehmung als Resultat aus einem
Zusammenspiel von menschlichen Auge und
Gehirn
.
Daniel Köhne