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Chirurgie mit dem Taschenrechner


Vom Studieren und Arbeiten als Teilchenphysiker

„Holzhacken ist deshalb so beliebt, weil man bei dieser Tätigkeit den Erfolg sofort sieht“, witzelte einst Albert Einstein mit kritischem Blick auf seine Profession. Einstein spricht damit andeutungsreich aus, was im Stillen wohl eine Mehrzahl der bundesdeutschen Bevölkerung denken dürfte: Physik gilt landläufig als schwer verständlich und praxisfern, die Absolventen des Faches als weltfremd. Hat das Image der Physik im Allgemeinen schon mit allerlei Vorurteilen zu kämpfen, wie abwegig muss es dann erst erscheinen, sich innerhalb der Physik auf das Fachgebiet ‚Experimentelle Teilchenphysik’ zu spezialisieren. Warum sollten Schulabgänger sich auf das Studium eines Phänomenbereichs der Grundlagenforschung einlassen? Laufen die zukünftigen Absolventen nicht Gefahr als Einsteins Erben in eine Sackgasse zu geraten? Oder vermittelt die experimentelle Teilchenphysik möglicherweise doch reichhaltigere Kenntnisse und Fähigkeiten?

„Die Fertigkeiten von Physikern, insbesondere derjenigen, die Experimentelle Teilchenphysik studieren, werden in vielen Berufszweigen sehr geschätzt, weist Isabell Steinseifer, Physikstudentin im siebten Semester an der Universität Siegen, alle Vorurteile zurück, die auf die hochgradige Spezialisierung ihres Studienfachs anspielen. Zu den Schlüsselqualifikationen gehöre insbesondere die Fähigkeit des abstrakten Denkens und die Zähigkeit sich in komplexe Problemstellungen einzuarbeiten, ergänzt Stefan Grebe, ebenfalls Student im siebten Semester, die Ausführungen seiner Kommilitonin. „Man wird bissig“, stimmt Isabell kopfnickend zu.
Tatsächlich erweist sich das spätere Betätigungsfeld für Absolventen als erstaunlich vielfältig. „Der ‚Biss’ kombiniert mit dem analytischen Blick steht bei vielen Arbeitgebern hoch im Kurs“, bestätigt Dr. Beate Raabe vom Arbeitsmarkt-Informationsservice (AMS) der Bundesagentur für Arbeit.

Intellektuelle Allzweckwaffen


„Physiker sind universell einsetzbare Allzweckwaffen mit hoher Frustrationstoleranz gegenüber Widerständen. Mit ihrer Problemlösungskompetenz erweisen sich Physiker als ausgezeichnete Pioniere, die wir gerne an den Stellen einsetzen, wo es intellektuelles Neuland zu betreten gilt“, lobt Dr. Rainer Baumgart, Vorstandsvorsitzender eines der größten Softwareunternehmen für IT-Sicherheit in Deutschland. Baumgart weiß wovon er redet. Er selbst hat 1987 seine Promotion im Fach Experimentelle Teilchenphysik an der Universität Siegen abgeschlossen. In den turbulenten Boomjahren des Neuen Marktes gründete Baumgart in Zusammenarbeit mit dem TÜV-Nord die inzwischen im CDAX notierte ‚Secunet AG’.
Für ihn lag der Sprung in die IT-Branche nahe. Denn spätestens seit den 70er Jahren geht in der Teilchenphysik nichts mehr ohne den Einsatz von Computertechnologie. Der experimentelle Gebrauch von Teilchenbeschleunigern produziert ein Datenaufkommen in solch einer Größenordnung, dass die Physiker der Zahlenflut nur noch mittels Großrechnern oder, wie in Zukunft, mit ausgefeilten GRID-Systemen Herr werden können. Für die Konstruktion von Beschleunigern und Detektoren müssen zudem die im Experiment zu erwartenden Prozesse zunächst in aufwendigen Computersimulationen getestet werden. Die Technologie und Software, die bei den Großexperimenten zum Einsatz kommt, kann zum größten Teil weder bei der Industrie eingekauft, noch bei Entwicklungsbüros in Auftrag gegeben werden. Vielmehr muss vom supraleitenden Supermagneten bis zur Simulationssoftware alles von den Physikern selbst entwickelt werden. „Teilchenphysiker müssen viele Technologien parallel beherrschen, sie betreten laufend ‚terra incognita’ und müssen bei spontan auftauchenden Problemen mit kreativen Lösungen aufwarten. Das kann auch bedeuten, dass man in der Werkstatt mal selber die Feile oder den Lötkolben schwingen muss“, so Baumgart. Angesichts der Dimensionen und der Komplexität der Anforderungen, die es bei Bau und Inbetriebnahme von Beschleunigern und Detektoren zu bewältigen gibt, liegt es nahe die ‚Daniel Düsentriebe’ Deutschlands nicht zuletzt in den Reihen der Teilchenphysiker zu suchen.
Dabei sind die Teilchenphysiker nicht unbedingt geeignet, um innovative Lösungen zur Marktreife zu bringen, meint Baumgart. Physiker seien an der Lösung komplexer Problemstellungen interessiert – sobald das Rätsel geknackt ist, überlässt der Physiker zumeist die Detailarbeit den Ingenieuren, so Baumgart.

Teilchenphysiker: Einsatz in der Medizin


Als ausgebildete Allrounder arbeiten Teilchenphysiker nach ihrem Studium in den unterschiedlichsten Tätigkeitsbereichen. „Das Berufsspektrum ist bei Teilchenphysikern vergleichsweise größer als bei anderen naturwissenschaftlichen Studiengängen“, weiß Beate Raabe. Banken beschäftigen Teilchenphysiker ebenso wie Unternehmensberatungen, IT-Dienstleister ebenso wie Krankenhäuser. Selbst bei der Führung der Staatsgeschäfte vertraut Deutschland mit der amtierenden Bundeskanzlerin inzwischen auf die Fähigkeiten einer Physikerin. „Physiker sind nicht so festgelegt wie z.B. Mathematiker oder Ingenieure“, meint Dr. Detlef Mattern. Mattern arbeitet für die Siemens Medizin-Technik als Projektmanager in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung. „Aufgrund ihres breiten Grundlagenwissens sind Physiker in vielen Bereichen einsetzbar; sie können sich gut anpassen und schnell in neue Problemstellungen eindenken“, antwortet Mattern auf die Frage, wo denn die Vorzüge von Physikern lägen. Die Medizintechnik ist neben der IT-Branche ein weiteres Beispiel dafür, wie die Wirtschaft in Deutschland von der physikalischen Grundlagenforschung profitiert. So werden Teilchenbeschleuniger heutzutage überwiegend in anwendungsorientierten Gebieten eingesetzt. Siemens selbst baut inzwischen gebäudegroße Beschleuniger, die seit Jahren in der Medizin erfolgreich bei der Behandlung von Krebserkrankungen eingesetzt werden. Mittels Detektoren, die in anderer Form beispielsweise auch am CERN in der Schweiz oder am DESY in Hamburg Verwendung finden, lässt sich der hochenergetische Teilchenstrahl in allen drei Raumdimensionen exakt auf die befallenen Krebszellen fokussieren. Ähnlich wie bei dem Bildaufbau in einem Röhrenfernseher fährt der Teilchenstrahl dann punktgenau über das Krebsgewebe, um es zu zerstören; der Schaden für das angrenzende gesunde Gewebe kann so deutlich reduziert werden. Aber nicht nur in der Therapie ist das technologische Wissen von Teilchenphysikern heiß begehrt. Auch in der Diagnostik sind die Partikeljäger inzwischen unentbehrlich geworden. Durch die Arbeit an den Detektoren am CERN oder bei DESY sind Teilchenphysiker prädestiniert für die Erforschung und Entwicklung von bildgebenden, medizinischen Diagnoseverfahren – sei es bei der Verbesserung der althergebrachten Röntgentechnologie oder beim Bau und der Bedienung von modernen Kernspintomographen.

Zahlengewaltiges Handwerkszeug


Dreh- und Angelpunkt in der Teilchenphysik ist und bleibt die Mathematik – soviel sei warnend für alle angemerkt, die mit einem Studium der Physik liebäugeln. „Die Begeisterung für mathematisch abstraktes Denken muss vorhanden sein, sonst wird es nichts“, bemerkt achselzuckend der Student Michael Pontz. Die Mathematik dient dem Physiker als sein chirurgisches Werkzeug. Mit Formeln und Gleichungen seziert er die Naturerscheinungen der Welt im Kleinsten und im Größten. Ohne Mathematik kein operativer Eingriff in physikalische Phänomene – zum Leidwesen vieler naturwissenschaftlich begeisterter Studienanfänger. Denn viele scheitern in ihrem Physikstudium in den ersten Semestern gerade an dem mathematischen Rüstzeug. Nach den Mathematikprüfungen im ersten Studienjahr werfen bis zu 40 Prozent der Studienanfänger entnervt das Handtuch. Ohne die nötige Begeisterung für die Anwendungsmöglichkeiten, die hinter dem zahlengewaltigen Handwerkszeug stehen, gelingt es den Studenten nur schwer sich für das Überspringen der ersten Hürden im Studium zu motivieren, meint Stefan Grebe.
Dass der Praxisbezug und damit die Faszination für die Physik nicht aus dem Blick gerät, dafür tragen die Lehrenden der Physik an der Universität Siegen aber durchaus Sorge. So gliedert sich das bundeseinheitliche Studium in einen praktischen und einen theoretischen Teil. 60 Prozent des Grundstudiums ist dem Ausprobieren und Experimentieren gewidmet. Auf den Vorlesungstisch kommen dann nicht nur komplexe Problemstellungen aus der Quantenmechanik oder der Teilchenphysik sondern auch Fragen aus dem alltäglichen Leben. „Warum ist der Himmel blau?“, „Wie funktioniert der Transformator in einem Auto?“ Die Liste der Seminarfragen liest sich wie das Inhaltsverzeichnis eines ‚Was ist Was’-Buchs. Bis zu zehn Experimente pro Doppelstunde sollen gewährleisten, dass die Begeisterung, mit der viele Jungforscher ihr Studium antreten, nicht in den trockenen Mühlen von Theorie und Mathematik aufgerieben wird.
„Die Studenten lernen sehr früh, mit Misserfolgen umzugehen. In der Teilchenphysik braucht man viele Anläufe, um wenige Male erfolgreich zu sein“, berichtet Claus Grupen, langjähriger Professor an der Universität Siegen. „Für viele Problemstellungen müssen unorthodoxe Lösungen gefunden werden.“ Die Studierenden müssen dabei eine enorme geistige Flexibilität beweisen – eine Beweglichkeit, die im Übrigen auch die Lehrenden vorhalten müssen. Denn zur Schadenfreude des Nachwuchs kommt es nicht selten vor, dass vorgeführte Experimente fehlschlagen. „Dann muss man als Lehrender spontan eine Erklärung parat haben, warum es nicht geklappt hat“, beschreibt Grupen die Anforderungen an den Vortragenden.


„Tüfteln und Probieren“


Für Abwechslung sorgt, neben dem Experimentieren im Unterricht, die frühe praktische Einbindung der Studierenden in die internationale Forschungsarbeit. „Forschung und Lehre ist in der Teilchenphysik eng miteinander verzahnt“, erklärt Peter Buchholz, Leiter der Arbeitsgruppe ‚Experimentelle Teilchenphysik’ an der Uni Siegen. „Obwohl Siegen eine kleine Universität ist, sind wir dennoch an den größten Forschungsexperimenten in der Welt beteiligt“ – sei es nun am CERN in Genf oder bei Pierre
Auger, einem Großforschungsprojekt zur kosmischen Strahlung in der
argentinischen Pampa. „Von Beginn an stehen viele Studenten mit der Übernahme eigenständiger Aufgabenbereiche an vorderster Front. Sie bekommen bereits während des Grundstudiums die Möglichkeit eigenverantwortlich zu arbeiten und sich nebenbei ein nicht geringes Zubrot zum Studium zu verdienen“, führt Buchholz weiter aus. Die besten Studenten können auf diesem Weg schon während des Studiums ein echtes Forscherleben führen. So z.B. Felipe Gerhard, Physikstudent mit dem Schwerpunkt Experimentelle Teilchenphysik. Gerhard arbeitet seit dem zweiten Studienjahr im Auftrag der Universität Siegen für ‚KASCADE-Grande’, dem größten Experiment in Deutschland zur Erforschung hochenergetischer Strahlung aus dem All. Der Nachwuchsforscher, der zuvor auch schon olympische Bronze bei der internationalen Physikolympiade in Seoul errungen hatte, beteiligt sich seit einem Jahr an der Datenauswertung bei KASCADE-Grande. Gerhard entwickelte Verfahren zur Kontrolle der Datenqualität. Die Ergebnisse seiner Arbeit stellte er dann im dritten Studiensemester auf einem Kollaborationstreffen vor Professoren und Doktoranden vor.

Das Beispiel weist neben dem Aspekt der Integration von Forschung und Lehre auf einen weiteren Punkt hin, der im Studium aber auch im Berufsleben der Teilchenphysiker eine enorme Bedeutung erhält: Internationalität. Um eine ausreichende Anzahl von Geldgebern für die millionenteuren Versuchsaufbauten zu versammeln, werden heutzutage nahezu alle Forschungsprojekte international aufgezogen. Konsequenz: Die Teilchenphysik spricht englisch. Ab dem Hauptstudium werden Vorlesungen daher fast nur noch in der Lingua Franca des Forschungsbetriebes gehalten – wovon insbesondere die ausländischen Studenten profitieren, die im Masterstudium am Fachbereich Physik der Universität Siegen immerhin einen Anteil von 40 Prozent ausmachen.

In der Welt zu Hause


Geht es schon im Studium international zu, so ist das Promotionsstudium, das gut ein Drittel der Graduierten nach ihrem Abschluss aufnehmen, überhaupt nicht mehr in nationalen Grenzen zu denken. Tatsächlich sind es die Promovierenden, die in erster Linie den internationalen Forschungsbetrieb ‚stemmen’. Viel mehr als die Professoren tragen sie mit ihren Forschungsarbeiten an Beschleunigern, Detektoren und Observatorien rund um die Welt zu den Erkenntnisfortschritten in der Teilchenphysik bei. Ist die Scheu vor der Fremdsprache erst einmal überwunden, lernen die Promovierenden die Internationalität durchaus zu schätzen. In wenigen anderen Berufsfeldern fällt es so leicht, Grenzen zu überschreiten und mit seinen Fachkenntnissen international tätig zu werden. Rainer Baumgart vermutet, dass viele Graduierte nach Ende ihres Studiums die Option wahrnehmen, im Ausland zu arbeiten. „Denn“, so Baumgart, „es gibt kaum Arbeit suchende Physiker, die an unsere Türen klopfen.“

Auch die Aneignung der so genannten ‚soft skills’ ist ein unvermeidlicher aber willkommener Nebeneffekt einer Promotion in der experimentellen Teilchenphysik. Beate Raabe schätzt, dass Arbeitgebern die außerfachlichen Kompetenzen mindesten so wichtig sind, wenn nicht sogar wichtiger als die Fachkompetenzen. Denn: „Fachkompetenzen im jeweiligen Berufsfeld lassen sich auch ‚on the job’ noch ausbauen. Die soft skills, wie Präsentationstechniken oder Kommunikationsfähigkeit, sind im nachhinein allerdings nur noch schwer zu verbessern“, schildert Raabe ihre Erfahrungen mit Arbeitnehmern. „Hat man erst einmal einen englischen Vortrag in einem vollen Saal vor mehr als 300 Gurus der internationalen Physikszene gehalten“ – ein unvermeidlicher Vorgang, der sich im Zuge der Datenauswertung einstellt, mit der man es während der Promotion zu tun bekommt – „dann relativieren sich alle nachfolgenden Präsentationen, die man später im Berufsleben zu halten hat“, erinnert sich Matthias Böcker, der inzwischen bei einer der größten Unternehmensberatungen der Welt arbeitet. Die internationale Verbundforschung in der experimentellen Teilchenphysik trainiert neben Präsentationstechniken darüber hinaus auch die von Arbeitgebern hoch geschätzten Fertigkeiten wie Teamfähigkeit und Projektmanagement. „Als ich als Unternehmensberater anfing, waren mir viele Arbeitsabläufe schon aus meiner akademischen Ausbildung vertraut. Der Übergang in die Berufspraxis fiel mir, im Gegensatz zu einigen anderen Kollegen, daher sehr leicht. Viele persönlichkeitsbildende Erfahrungen konnte ich schon während meiner Promotion sammeln“, freut sich Böcker. Vielleicht konnte er sich auch gerade deswegen als einziger gegen 470 Mitbewerber durchsetzen.
Freuen dürfte alle Physikstudenten wohl auch die Nachricht, dass Physiker überproportional oft in leitenden Tätigkeiten oder sogar auf Vorstandsebene arbeiten. Raabe macht hierfür den Umstand verantwortlich, dass Physiker in Unternehmen eine hohe Schnittstellenkompetenz aufweisen; mit ihrer Fähigkeit zum vernetzten Denken sind Physiker besonders geeignet die teilweise sehr heterogenen Sparten eines Unternehmens miteinander zu integrieren.
Aber nicht alle Absolventen der Teilchenphysik möchten nach dem anforderungsreichen Studium auch noch eine im Durchschnitt vierjährige Promotion anschließen. So wollen die Studenten Isabell Steinseifer und Stefan Grebe lieber in die Praxis einsteigen. Sie sind sich sicher, dass sie mit ihrem erlernten Methodenwissen in vielen Berufssparten unterkommen können. Nur Michael Pontz möchte auch nach dem Studium – am liebsten in der Forschung – der Physik treu bleiben. In einem Punkt sind sich die Studenten allerdings einig: Holzhacken möchte keiner von ihnen.

 

Ansprechpartner
Prof. Dr. Claus Grupen
Telefon: +49 271 740 3795
Telefax: +49 271 740 3886
grupen@hep.physik.uni-siegen.de