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Ein analoges und ein digitales Bild aus der Geschichte der Teilchenphysik

Jens Schröter

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ So beschrieb einst Niklas Luhmann die Macht der Medien. Luhmann zielte mit dieser Sentenz zwar in erster Linie auf das Wissen, mit dem wir uns über die Gesellschaft, in der wir leben, orientieren. Ein Blick in die naturwissenschaftliche Forschung zeigt aber, dass der Satz zunehmend auch seine Gültigkeit in einer noch viel elementareren Hinsicht beweist. Denn die Art und Weise wie Forschung in der Gegenwart zu ihren Erkenntnissen kommt, ist auf das Engste mit dem Einsatz von Medien verbunden. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Abbild auf einer neuen und äußerst sensiblen Ebene – dort wo unser Wissen seinen Ausgang findet, in der Wissenschaft, wird zunehmend uneindeutiger, ob wir im Erkenntnisprozess das sehen, was wir medial erzeugen oder ob wir mit den Medien sehen, was die Welt ohne ihren Einsatz nicht preisgeben würde. Erweitern Medien, die in der Grundlagenforschung eingesetzt werden, unseren Blick oder verstellen sie ihn, indem sie ihren Produzenten den Spiegel vorhalten? Ob ihrer Bedeutung beschäftigt sich zunehmend auch die heutige Medienforschung mit der Frage, welche Funktion Medientechnologien für die naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung haben. Gerade in Hinsicht auf die Teilchenphysik leuchtet das unmittelbar ein. Denn wie sonst sollte man von der – jeder Anschauung unvorstellbar weit entrückten – Welt der Quanten erfahren, als eben über Bilder, Formeln und Kurven. In dieser Hinsicht sind die beiden hier abgedruckten Bilder aufschlussreich.

Das erste ist eines der wichtigsten Bilder aus der Geschichte der Teilchenphysik. Links sieht man das Bild Nr. 97025 einer Experimentalreihe am Brookhaven Laboratory, New York, rechts seine Interpretation. Zum Hintergrund: In dem amerikanischen Labor für Teilchenphysik hatten Forscher eine mit rund 1000 Litern Wasserstoff gefüllte Blasenkammer aufgestellt. In die 80 inch große Blasenkammer des Labors wurde ein Strahl aus negativ geladenen Kaonen geschossen. Bei den Kollisionen des Strahls mit den Atomen entstanden zahlreiche neue Partikel, die abhängig von ihrer Ladung und Masse Spuren, wie winzige Kondensstreifen, hinterließen. Doch nur ein Teilchen interessierte die Forscher – nämlich das Teilchen mit dem unscheinbaren Namen ‚Ω-‘. Murray Gell-Mann war es, der die Existenz dieses Teilchen schon 1962 auf einer internationalen Konferenz vor seinen Kollegen behauptet hatte. Gell-Mann konnte das Teilchen und dessen exakte Eigenschaften voraussagen, da er eine neue Regelhaftigkeit im bis dahin eher unübersichtlichen Teilchenzoo, nämlich die so genannte ‚SU(3)-Symmetrie‘, entdeckt hatte. Diese Theorie wurde durch den Nachweis der Spuren auf Foto Nr. 97025 bestätigt. Schon an der schlichten Tatsache, dass es das 97025ste Bild war, auf dem die gesuchten Spuren auftraten, wird der mediale Aufwand ersichtlich, der für die Teilchenjagd betrieben worden war. Über der Blasenkammer wurde mit hoher Geschwindigkeit ein Film vorbeigezogen, der die zahllosen und ungeordneten Kollisionsereignisse festhielt. Deutlich wird: Ohne den Film hätte es gar keine Aufzeichnung des Ereignisses gegeben. Ohne Medium kein Wissen. Nachdem der Beschuss beendet war, musste der Film Bild für Bild ausgewertet werden. Dafür gab es ganze Spezialistenteams (‚Scanner‘ genannt), die nach verdächtigen Spuren Ausschau hielten. Fand man fotografische Evidenzen, dann mussten sie interpretiert werden. Denn: die wenigen schwachen und verworrenen Linien, die das Licht auf das photosensible Material gezeichnet hatte, berichteten ja nicht selbst davon, was sie waren. Jedenfalls: Das 97025ste Bild wurde zusammen mit seiner Interpretation – das gejagte und kurzlebige Ω- ist der kleine Rechtsknick in einer der Linien – geradezu zu einer Ikone der Teilchenphysik. Es überzeugte die meisten Physiker davon, dass Murray Gell-Manns Theorie richtig war – sie ist daher heute unter dem Begriff ‚Quarkmodell‘ als eine tragende Säule in dem so genannten ‚Standardmodell der Teilchenphysik‘ aufgegangen. Wieder wäre dieser Überzeugungsprozess ohne das Foto von diesem – wie man sagt – ‚goldenen Ereignis‘ gar nicht möglich gewesen. Ohne die Bilder, die mühsame Arbeit ihres Durchsuchens und Bewertens, wäre keine physikalische Erkenntnis zu haben gewesen. Solche Prozesse untersucht eine wissenschaftshistorisch orientierte Medienwissenschaft – oder eine an Medien orientierte Wissenschaftsgeschichte, wie sie etwa Peter Galison in seinem erkenntnisreichen Buch ‚Image and Logic. A Material Culture of Microphysics‘ zeichnet.

Das zweite Bild ist viel jünger. Es stammt aus der Gegenwart. Schon lange gibt es keine Blasenkammern mit Filmapparaten mehr. Stattdessen werden inzwischen komplizierte, computergestützte Detektoren für die Bildgebung eingesetzt. Der Medienumbruch von den analogen zu den digitalen Bildern ist auch an der Teilchenphysik nicht vorübergegangen, ja die Naturwissenschaften sind im Allgemeinen gerade die Vorreiter beim Einsatz – anfänglich ja oft noch sehr teurer – neuer Medientechnologien. Das Bild ist kein Foto, sondern die visuelle Darstellung einer Simulation. Es zeigt eine mögliche Variante eines Kollisionsereignisses, von dem die Physiker hoffen, dass es vielleicht am CERN, wenn der neue Large Hadron Collider dieses Jahr seine Arbeit aufnimmt, auftreten wird. Das Bild zeigt, anders als das Foto aus dem Brookhaven Lab, kein vergangenes, sondern ein mögliches, zukünftiges Ereignis. Statt ein fotografisch fixiertes Gewirr von Spuren zu interpretieren, um herauszufinden, ob von der Theorie vorausgesagte Ereignisse stattgefunden haben, wird die Theorie in gewisser Weise selbst zum Bild, das nun als Vorlage dient, um das gesuchte Ereignis aus der Fülle möglicher Ereignisse herauszufiltern. ‚Pattern recognition‘ also ‚Muster-Erkennung‘ nennen die Physiker diesen Prozess. Die Übersetzung von Bild und Theorie ineinander hat sich verändert. Neue Medien verändern die Modalitäten, mit denen wir uns der ‚Wirklichkeit‘ annähern. Natürlich sind Physiker nicht allein auf solche Bilder angewiesen – aber ohne Medientechnologien, die Daten sammeln, bearbeiten und auf verschiedene Weise darstellen können, ist Wissenschaft unmöglich. Es gibt heute schon die Disziplin ‚Computational Physics‘, in der die Rechenkraft großer Computer für die Erzeugung wissenschaftlicher Kenntnisse zentral wird. Und das Ereignis, das in dem simulierten Bild dargestellt wird, ist vielleicht von ähnlicher Bedeutung wie das Ω--Ereignis. Denn es geht um die Beantwortung einer Frage, die das heutige ‚Standardmodell‘ nicht beantworten kann. Warum besitzen die Teilchen so verschiedene Massen, ja überhaupt eine Masse? Das Bild ist die Visualisierung des Ereignisses der Produktion und des Zerfalls eines Higgs-Bosons bei der Kollision zweier Protonen. Das noch hypothetische Higgs-Boson und das ihm zugeordnete Higgs-Feld gelten heute als beste Kandidaten für die Erklärung der Partikelmassen. Doch erst wenn dem simulierten Bild dereinst ein wirkliches Ereignis entspricht, wird man wissen, ob diese Theorie richtig ist. Simulation ersetzt nicht die ‚Wirklichkeit‘; aber sie ist eine neue mediale Strategie herauszufinden, was ‚wirklich‘ ist. Der Titel von Niklas Luhmanns Buch „Die Realität der Massenmedien“ aus dem das Zitat zu Beginn dieses Artikels stammt, könnte demzufolge heute vielleicht richtiger heißen: „Die Realität der Medien“.

Ansprechpartner
Dr. Jens Schröter
Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg
SFB/FK 615 Medienumbrüche
Telefon: +49 271 740 4959
Telefax: +49 271 740 4924
schroeter@fk615.uni-siegen.de
www.theorie-der-medien.de
Forschungskolleg Medienumbrüche SFB/FK 615:
www.fk615.uni-siegen.de

Literaturtipp
Galison, Peter: Image & Logic.
A material culture of microphysics.
Chicago, 1997

Dr. Jens Schröter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des von der DFG geförderten kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs SFB/FK 615 ‚Medienumbrüche‘, das in dreizehn Teilprojekten Medienkulturen und Medienästhetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im Übergang zum 21. Jahrhundert erforscht. Schröter interessiert sich insbesondere für die technologische Dimension medialer Umbrüche. Entlang der paradigmatischen Leitdifferenz von ‚Analog’ und ‚Digital‘ spürt Schröter den epistemologischen, kulturellen und ästhetischen ‚Erschütterungen‘ nach, die im Zuge des Auftretens von neuen Medientechnologien auf vielen gesellschaftlichen Ebenen zu beobachten sind.