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Formspiele der Medien - Von erzählten Spielen und gespielten Geschichten


Computerspiele waren schon immer mehr als nur abstrakte Geschicklichkeits-, Strategie- oder Kombinationsspiele. Sie simulieren Welten, in denen Spieler Dinge tun und erleben können, die man sonst nur aus dem Fernsehen oder aus dem Kino kennt: Gamer spielen Helden und fahren wahlweise antike Wagen- oder futuristische Podrennen wie in Star Wars, sie kämpfen in Kriegen und durchqueren scheinbar undurchdringliche Urwälder; in Sportweltmeisterschaften treten sie als austrainierte Topathleten gegen die globale Elite der digitalen Zehnkämpfer an. Im gegenwärtigen Kino wiederum puzzeln sich die Zuschauer mit Vergnügen durch die Erzählrätsel von ‚Pulp Fiction‘, sie verfolgen mit Neugier die Plotvarianten in ‚Lola rennt‘ und haben Freude an den Paradoxien der janusköpfigen Welt von ‚The Matrix‘. Diese Formen szenisch konkretisierter Spiele und exzentrischen Erzählens markieren dabei einen wesentlichen medienästhetischen Trend heutiger Medienangebote: die Hybridisierung von Spiel und Erzählung in Computerspiel und Spielfilm.

Ganz gleich, ob Leitmedien1 oder nicht, bestimmte Medien motivieren zweifellos mehr als andere zu öffentlicher Kritik und Diskussion. 1912 bezeichnet beispielsweise der Theaterintendant Carl Hedinger das junge Massenmedium Film als einen ‚kulturellen Krebsschaden‘. 80 Jahre später nennt Neil Postman den Personal Computer ‚eine Art von kulturellem Aids‘. Und in der Killerspieldebatte der letzten Jahre ist das Computerspiel zur Gefahrenquelle für die Gesellschaft erklärt worden, mit der Folge, dass aktuell sogar das gesetzliche Verbot derartiger Spiele in den Parlamenten diskutiert und verhandelt wird. Die Geschichte der Medien verdeutlicht: Immer dann, wenn ein neues Medium für die Masse attraktiv wird, stilisieren es besorgte Kritiker zunächst zu einer Bedrohung der kulturellen Ordnung. Hat man sich dann an diese neuen Formen massenmedialer Angebote gewöhnt, schwindet die Aufregung.
Derzeit durchläuft also das Computerspiel diesen Prozess einer ‚Hysterisierung‘ und nachgeschalteten ‚Normalisierung‘. Denn spätestens seit es zum ökonomisch bedeutendsten Produkt der Unterhaltungsindustrie aufgestiegen ist, wird es als kulturell relevante Mediengattung ernst genommen. Zudem haben insbesondere die Kultur- und Medienwissenschaften begonnen, Computerspiele als zentrale Medien der Unterhaltungslandschaft zu analysieren. 

Hybridisierung von Spiel- und Erzählformen

So auch an der Universität Siegen. Im Forschungsprojekt ‚Mediennarrationen und Medienspiele‘ arbeiten derzeit drei Medienwissenschaftler und eine Medienwissenschaftlerin unter anderem zum Computerspiel im ‚digitalen Medienumbruch‘. Die sich aktuell vollziehende Umstrukturierung des Mediensystems durch den allumfassenden Prozess der Digitalisierung gibt Anlass zu einer Prüfung medienwissenschaftlicher Grundbegriffe. Das Siegener Forschungsprojekt unter Leitung von Prof. Dr. Rainer Leschke hat sich zum Ziel gesetzt, ein begriffliches Modell zu entwickeln, anhand dessen sich die Wechselbeziehungen zwischen Spielfilm und Computerspiel seit den 1990er Jahren beschreiben lassen. Vor dem Hintergrund, dass seit den 1990er Jahren in beiden Mediengattungen ein selbstverstärkender Trend zur Hybridisierung von Spiel- und Erzählformen eingesetzt hat, analysieren die vier Forscher unter dem Stichwort ‚Medienmorphologie‘ Formentwicklungen und Formdynamiken. Insbesondere seit den 1990er Jahren lassen sich diese Hybridisierungstendenzen im massenattraktiven Spielfilm beobachten. So greift der genuin als Erzählung rezipierte Spielfilm zunehmend auf spielnahe Formen zurück, die bisher nur im Kunstsystem möglich schienen: achronologische Erzählungen, deren chronologische Ereignisfolge vom Publikum rekonstruiert werden muss (Pulp Fiction, Memento), verschiedene Versionen desselben Geschehens (Lola rennt), logische Brüche in der erzählten Welt (Lost Highway) u.v.m.  

Irritation des Publikums

Solche Erzählformen sind bei der effizienten Vermittlung des Plots im Grunde genommen hinderlich, denn sie irritieren, enttäuschen die Erwartungen des Publikums und verlangen ihm eine erhöhte Rezeptionsleistung ab. „Mit der Irritation des Publikums wird aber nicht nur das Nachdenken über die Konstruktion der fiktionalen Welt angestoßen, sondern auch – und vor allem – eine spielerische Beschäftigung mit audiovisuellen Formen: Man muss ein wenig puzzeln, rätseln, neu anordnen, verschieben, ehe das Prinzip der Abweichung vom Bekannten deutlich wird“, führt Henriette Heidbrink aus. Dabei sind die für den Film neuen Formen, zum Beispiel Loops, Rätsel und Restarts, aus Spielzusammenhängen wohl bekannt, ihre Integration in den Film jedoch stellt ein Novum dar, auf das das Publikum mit erhöhter Aufmerksamkeit und interpretativen Bemühungen reagieren muss.
Parallel zu dieser Entwicklung beginnt das Computerspiel den massenattraktiven Spielfilm als kulturell repräsentative Mediengattung nachhaltig zu relativieren. Diese Verschiebung wurde zunächst durch eine rasante Effizienzsteigerung digitaler Bild- und Datenverarbeitung möglich, die es erlaubte, die abstrakten Muster klassischer Geschicklichkeits-, Kombinations- und Strategiespiele auf eine bis dahin unbekannte Weise ästhetisch anzureichern: „Fast jedes Computerspiel realisiert heute seine spielerischen Herausforderungen szenisch konkretisiert und mit entsprechend narrativer Aufladung“, erklärt Jürgen Sorg. Identifizierbare Spielfiguren (‚Pac-Man‘, ‚Max Payne‘, ‚Kratos‘) führen mit Spielinstrumenten (Fahrzeuge, Waffen wie z.B. die ‚Anti-Gravity-Gun‘, etc.) in Spielwelten (Weltall, Fußballstadion, ‚Monkey Island‘ etc.), Spielhandlungen aus (schießen, fahren, kämpfen) und verfolgen damit spezifische Spielziele (Rette die Welt! Finde die Prinzessin!). Die klassischen abstrakten Spielfiguren, -zeuge, -pläne, -aktionen, und -ziele werden durch die narrative Konkretisierung gewissermaßen kaschiert, mit dem Effekt, dass sie für den Spieler somit auch leichter zugänglich sind. Dabei bedient sich das Computerspiel bei den inhaltlichen und ästhetischen Beständen massenattraktiver Medienformate, insbesondere bei denen des Spielfilms. Mit der Folge, dass Computerspiele zunehmend filmisch anmuten: Perspektiven auf die Spielwelten erinnern an Filmeinstellungen, Spielhandlungen werden wie im Spielfilm musikalisch untermalt, die Spielherausforderungen finden sich erzählerisch und dramaturgisch gerahmt. ‚Cutscenes‘, (nicht spielbare Filmsequenzen innerhalb eines Computerspiels), versetzen den Spieler gar in eine passive Position, in der er nicht mehr in das Bildschirmgeschehen eingreifen kann.  

PacMan im Gewand von Hollywood

Die spielerische Herausforderung tritt während des Ablaufens der Cutscene in den Hintergrund und der Spieler wird – zeitlich begrenzt – zum Zuschauer.
Das Ziel des Forschungsprojekts ‚Mediennarrationen und Medienspiele‘ des Siegener Forschungskollegs SFB/FK 615 ‚Medienumbrüche‘ besteht darin, die neuen Formen der Verbindung von Spiel und Erzählung zu identifizieren und ihre Funktion(en) im gegenwärtigen Spielfilm und Computerspiel zu beschreiben. Das so erarbeitete Wissen um die Formlogiken der digitalisierten Medienästhetik lässt sich in Medienproduktionen praktisch anwenden, wenn es darum geht, neue Formvarianten zu erfinden. Besonders wichtig hierbei ist, dass man Spiel- oder Erzählformen zwar relativ einfach in den jeweils anderen Zusammenhang transferieren kann, sich mit dem Transfer aber auch die ursprüngliche medienspezifische Funktion verändert. Bei der Übernahme einer Form muss drauf geachtet, werden, dass die Form in die neue Umgebung passt, sie also jeweils auch eine inhaltsadäquate Funktion erfüllt. Schließlich kann man die Einzelteile eines Fahrrades nicht für die Reparatur eines defekten Autos verwenden – es mag aber die ein oder andere Funktion oder Problemlösung geben, die sich zur Reparatur des Autos und vielleicht sogar zur Konstruktion eines besseren Autos verwenden lässt, wenn sie funktional entsprechend eingepasst wird.
Die skizzierten komplexen Wechselwirkungen machen die Beobachtung des Transfers von Formen zu einer reizvollen Aufgabe; denn es gilt stets herauszufinden, wie sich ein Element im ‚Fremdkontext‘ verhalten wird. Konkret: Wenn die Spielform des Restarts in ‚Lola rennt‘ die Protagonistin drei Mal ‚Zurück auf Los‘ setzt – dann stellt sich durchaus die Frage, ob der Film noch als Erzählung ‚funktioniert‘; ein Kriterium, das über Erfolg oder Nicht-Erfolg eines Spielfilms entscheidet. Bei Lola ist die Spielform offensichtlich erfolgreich in die Erzählung eingepasst worden, indem die letzte gezeigte Variante des ‚Spielverlaufs‘ den Erwartungen eines Happy Endings entspricht.  

‚The Matrix‘ und ‚Max Payne‘

In Computerspielen wiederum können durch die Übernahme von Erzählformen gewissermaßen neue Betätigungs- bzw. Handlungsfelder für die in Vorgängerspielen erworbenen Fähigkeiten bereitgestellt werden. Funktional gesehen bilden solche Erzählformen inhaltliche Rahmen, dem Spielherausforderungen und Spielregeln verständlich zugeordnet werden können und darüber hinaus Varianz erzeugen. In ‚Max Payne‘ beispielsweise findet sich die Form der ‚bullet time‘ – die seit ‚The Matrix‘ zum Fundus filmischer Attraktionsformen gehört – als aktivierbare Zeitlupe, die es dem Spieler erlaubt, gegnerischen Projektilen besser auszuweichen und die Widersacher dadurch einfacher und vor allem ästhetisch ansprechender zu ‚erledigen‘. Das spielerische Grundgerüst von ‚Max Payne‘ unterscheidet sich dabei kaum von anderen so genannten ‚Shootern‘. Erst die ‚bullet time‘ erweitert das Spielerlebnis in ‚Max Payne‘, indem sie funktional in das Spielgeschehen integriert wird und so neben dem ästhetischen auch einen spielerischen Mehrwert erzeugt.
Ein weiteres Beispiel: Unter der medialen Form des ‚Portals‘ versteht das Projekt eine Form, für die vor allem kennzeichnend ist, dass sie Räume verbindet und Figuren oder auch Gegenstände von einem Ort zum anderen transportiert. Beim ‚Portal‘ laufen also die Spiel- bzw. Erzählstränge zusammen; diese müssen nicht räumlich determiniert sein, sondern es kann sich auch um zeitliche Beziehungen handeln. Projektleiter Leschke erläutert: „Das ‚Portal‘ kann man demnach als eine Art ‚Link‘ verstehen der zeitliche oder räumliche Verbindungen schafft – entsprechend handelt es sich hierbei um eine funktional-ästhetische Form, die sich sowohl für das Spiel als auch für die Erzählung eignet: In ‚Being John Malkovich‘ rutschen die Figuren durch ein ‚Tunnel-Portal‘ in Malkovichs Kopf, in ‚Tatsächlich Liebe‘ verbindet der Flughafen als Portal die unterschiedlichen Erzählstränge, und in ‚Butterfly Effect‘ übernimmt das Tagebuch des Protagonisten die Portalfunktion, so dass er in mehreren Erzählvarianten auftauchen kann, ohne dass ein logischer Bruch erzeugt wird.“ Im Computerspiel ist die Verbindung von Levels durch Portale seit langem eine etablierte mediale Form; üblich ist auch die Veränderung der gesamten Spielwelt nach Durchwandern eines Portals. Daran gekoppelt ist oftmals eine Modifizierung der jeweiligen Spielherausforderung (z.B. in Nintendos Super Mario 64). 

Migration der Form(en)

Letztlich sind die Beobachtungen des Forschungsprojekts ein weiterer Beleg dafür, dass der Prozess der ‚Migration der Form(en)‘ (siehe documenta 12) sich nicht nur in der Kunst, sondern auch in den Massenmedien vollzieht. Die massenmediale Produktion hat sich vor allem durch die technischen Innovationen der Digitalisierung und die dadurch schnell voranschreitende Medienkonvergenz beschleunigt. Anders als der Kunstmarkt, der sich an innovativen Singularitäten orientiert, kommt es in den Massenmedien auf die Innovation zielgruppenspezifischer Muster und Formen an. „Mit der theoretischen Arbeit an einer ‚Medienmorphologie‘ will das Forschungsprojekt ein begriffliches Handwerkszeug entwickeln, das sich insbesondere dazu eignet, das innovative und flexible Formgeschehen begreifbar werden zu lassen, denn sie sorgt für die notwendigen Unterscheidungskriterien und schärft diese Beobachtungsroutinen am aktuellen medialen Material stetig weiter“, so Rainer Leschke.


1Buch, Hörfunk, Presse, Fernsehen, Internet – sie alle wurden zu ihrer Zeit, im Rahmen spezifischer Maßstäbe als Leitmedien bezeichnet. Auch technischen Einzelmedien und Kommunikationsgeräten – aktuell z.B. dem Computer oder dem Mobiltelefon – wird der Status Leitmedium zugeschrieben: Das Handy, so kann man in den letzten ‚JIM-Studien‘ lesen, ist seit einigen Jahren das meist verbreitete Kommunikationsmedium unter Jugendlichen, und der Computer ist aus Beruf und Freizeit heute kaum mehr wegzudenken. Internetsuchmaschinen wiederum listen die CD- bzw. DVD-ROM als bedeutendste Speichermedien unserer digitalisierten Medienkultur. Und befragt man seine nähere Umgebung nach den wichtigsten Medien, werden natürlich der allseits beliebte iPod, die Playstation und der DVD-Player genannt. Offensichtlich lässt sich dieses mediale Sammelsurium sehr unterschiedlich hierarchisieren: Verbreitung, öffentliche Aufmerksamkeit, Präsenz, Dauer sowie Intensität und qualitative Aspekte der Nutzung etc. – das alles können Kriterien sein, einem Medium das Label ‚Leitmedium‘ zu oder abzusprechen.
Für die Siegener Forscher des Projekts ‚Mediennarrationen und Medienspiele‘ ist die Frage nach den Leitmedien allerdings von geringerer Bedeutung. Ihre Interessen und Fragestellungen setzten unterhalb der gängigen Mediengrenzen an: es geht nicht um einzelne Medien wie Spielfilme oder Computerspiele, sondern um die medialen Formen als kompositorische Eigenschaften von Medien, die als ‚typisch‘ für eine Klasse von Medien erlebt werden

Ansprechpartner

Henriette Heidbrink
Universität Siegen
Forschungskolleg SFB/FK 615 'Medienumbrüche‘
Teilprojekt B9: Mediennarrationen und Medienspiele
Am Eichenhang 50
57076 Siegen
Telefon: +49 271 238 2302
Telefax: +49 271 740 4924
heidbrink@fk615.uni-siegen.de

Forschungskolleg 'Medienumbrüche‘
www.fk615.uni-siegen.de