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Diskret oder Kontinuierlich


Die Unterscheidung von Diskretem (Lat. discrētus = abgesondert, getrennt) und Kontinuierlichem (Lat. continuus = zusammenhängend) ist fast so alt wie die Mathematik selbst. Bereits die griechische Antike teilt die Mathematik, die Wissenschaft von den Größen, in diesem Sinne in zwei Bereiche ein: Mathematik ist zum einen Arithmetik, die Lehre von den diskreten Größen, also den Zahlen und zum anderen Geometrie, die Lehre von den kontinuierlichen Größen, also den Figuren in der Ebene oder im dreidimensionalen Raum. Diese Auffassung, Mathematik als Lehre von den Zahlen und Figuren, bleibt bis ins ausgehende 19. Jahrhundert weitgehend bestehen und spiegelt sich noch immer im Curriculum der unteren Schulklassen.

Die Frage nach einer möglichen Beziehung von Diskretem und Kontinuierlichem hat im Laufe der Mathematikgeschichte immer wieder Probleme aufgeworfen und damit fruchtbare Entwicklungen provoziert. Klassisches Beispiel ist die Entdeckung inkommensurabler Größen in der griechischen Mathematik. Hier stieß die Grundüberzeugung der Pythagoräer, dass sich ‚alles‘ durch Zahlen und Zahlenverhältnisse ausdrücken ließe, auf ein scheinbar unüberwindliches Problem. Es stellte sich nämlich heraus, dass schon bei ganz einfachen geometrischen Figuren, etwa dem Quadrat oder dem regelmäßigen Fünfeck, die Seite zur Diagonale in einem Größenverhältnis steht, das nicht als ein Verhältnis ganzer Zahlen, d.h. als Bruch, ausgedrückt werden kann. In moderner Sprechweise: Erstmalig wurden irrationale Verhältnisse, die wir heute ohne Skrupel als irrationale Zahlen bezeichnen, erkundet – besonders misslich für die Pythagoräer, dass dies just an ihrem Ordenssymbol, dem Pentagramm, deutlich wurde. Der Gipfel der Ironie ist schließlich, dass das Verhältnis von Seite und Diagonale im regelmäßigen Fünfeck in wohlbestimmtem Sinne die irrationalste aller Zahlen ist.

Für die Philosophie jedenfalls resultierte eine echte Grundlagenkrise und noch Aristoteles verbietet in seiner zweiten Analytik ausdrücklich jeglichen Übergang zwischen Geometrie und Arithmetik als ‚metabasis eis allos genos‘: Kein geometrischer Satz dürfe mittels Arithmetik bewiesen werden. Nicht zuletzt hier zeigt sich, dass der große Philosoph und Begründer der Logik zu wenig Gespür für die Fähigkeiten der Mathematik hatte. Glücklicherweise waren die Mathematiker weniger ängstlich, und so hatte bereits Eudoxos im 10. Buch der Elemente des Euklid eine quasi arithmetische Umgehensweise für solche inkommensurable Größen entwickelt. Geometrisches in Arithmetisches zu übersetzen und vice versa erwies sich jedenfalls immer wieder als äußerst fruchtbare Strategie. So eröffnet René Descartes mit der analytischen Geometrie die Möglichkeit, räumliche Gegebenheiten durch Zahlen auszudrücken; die ebenso einfache wie geniale Idee: Jeder Punkt im Raum wird durch drei Zahlen, die ‚cartesischen Koordinaten‘, eindeutig beschrieben. Geometrische Probleme werden so in arithmetische Gleichungen übersetzt, die durch Ausrechnen gelöst werden können. Umgekehrt ist es derselbe Descartes, der zeigt, wie sich die in ihrem Status noch immer ungeklärten Irrationalzahlen mit einem wohlbekannten geometrischen Objekt, einer Geraden, identifizieren lassen. Eine geschickte Anwendung der Strahlensätze erlaubt es ihm, das Produkt zweier Punkte durch geometrische Konstruktion auf der Geraden zu erhalten. ‚Unheimlichen‘ Zahlen durch Geometrisierung ein Bleiberecht in der Mathematik zu verschaffen, gelingt auch Carl Friedrich Gauß, der die cartesische Zahlengerade zu einer Ebene erweitert und diese mit den komplexen Zahlen identifiziert. Schließlich ungefähr 2000 Jahre nach Eudoxos gelingt es Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz mit ihrer ‚analysis infinitorum‘ einen (diskreten) Kalkül für kontinuierliche Bewegungen zu entwickeln. Mit der neuen Analysis wird die Physik Newtons überhaupt erst formulierbar – beginnt die stürmische Entwicklung der modernen Naturwissenschaften. Die Frage nach einer mathematisch akzeptablen arithmetischen Behandlung des Kontinuums wird allerdings bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gestellt – und ist auch heute allenfalls vorläufig beantwortet.

In der Naturphilosophie lässt sich eine ähnliche Dialektik beobachten. So wird etwa der Streit, ob die Materie aus kleinen, diskreten Bausteinen, den ‚Atomen‘, aufgebaut oder aber wesentlich kontinuierlich sei, seit Demokrit und Aristoteles immer wieder neu entfacht. Erst Immanuel Kant weist darauf hin, dass es sich hier wahrscheinlich um eine ‚philosophische Hamsterrolle‘ handelt, in der sich diese ewig herum bewegen muss, wenn sie nicht lernt, über ihre eigenen Bedingungen und Voraussetzungen zu reflektieren. Die Physik geht mit dieser Frage naturgemäß hemdsärmliger um; nach Jahrzehnten einer Dominanz der überaus erfolgreichen Kontinuumstheorien im 19. Jahrhundert, hat nun der Atomismus wieder die Oberhand. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass weite Bereiche auch der theoretischen Physik – etwa die Strömungsmechanik – nach wie vor von einer kontinuierlichen Materie ausgehen. Für die moderne Mathematik spielen Übergänge von diskreten (meist endlichen) und kontinuierlichen (unendlichen) Strukturen nach wie vor eine extrem wichtige Rolle; nur wenige Beispiele seien genannt. Die Analytische Zahlentheorie etwa versucht zahlentheoretische Fragen, z.B. zur Verteilung von Primzahlen, durch Anwendung von Methoden der Analysis, der Kontinuumsmathematik par excellence, zu lösen. Kontinuierliche Flächen oder Körper im Raum können in der Algebraischen Topologie durch wenige diskrete Größen, Invarianten, charakterisiert werden. In der Theorie Dynamischer Systeme untersucht man eine komplizierte (kontinuierliche) Bahn dadurch, dass man nur betrachtet, an welchen diskreten Punkten die Bahn eine festgelegte Ebene durchstößt. Schließlich ist für fast die gesamte numerische Mathematik essentiell, dass kontinuierliche Gleichungen durch ‚Diskretisierung‘ für einen digitalen Computer traktabel gemacht werden; eine Kurve wird durch einen Streckenzug ersetzt, eine Fläche durch viele kleine Dreiecke. So gelingt dann (vielleicht!) auch das Einfangen der (zumindest!) kontinuierlichen Welt im Netz der diskreten Mathematik.

Leider ist die Thematik von der zeitgenössischen, noch immer durch die formale Logik und Mengentheorie stark beeinflussten Mathematikphilosophie weitgehend unbeachtet geblieben. Schließlich setzt die formale Logik (einseitig) auf diskrete Zeichen, geht das grundlegende Konzept einer Menge von abgetrennten und unterschiedenen, diskreten Elementen aus. Vielleicht ist aber schon aus dem hier ganz knapp Skizzierten deutlich geworden, wie instruktiv solche Querschnitt-Themen, wie die Spannung von diskret und kontinuierlich, für ein tieferes Verständnis des nun schon mehr als drei Jahrtausende währenden Projektes der Weltkultur, genannt Mathematik, sein können.

Verfasser: Gregor Nickel

 

Ansprechpartner

Prof. Dr. Gregor Nickel
Universität Siegen
Geschichte und Philosophie der Mathematik
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