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Band 9: Europäisches Gemeinwohl

Gerold Ambrosius/ Peter Schmitt-Egner (Hrsg.)

Europäisches Gemeinwohl: Historische Dimension und aktuelle Bedeutung.

Aus den Vorbemerkungen von Gerold Ambrosius

Jeder neuere Diskurs über das Gemeinwohl beginnt mit dem Hinweis, dass der Begriff irgendwie altmodisch, antiquiert, von Gestern ist und nicht mehr in die heutige Zeit passt. Dann wird allerdings angemerkt, dass von ihm eine gewisse Faszination ausgeht, dass er in der Vergangenheit immer wieder eine Renaissance erlebt hat und auch das gegenwärtige Nachdenken über ihn durchaus Sinn macht. Anschließend wird darauf hingewiesen, dass es eine materiell-essentialistische Bestimmung von Gemeinwohl heute nicht mehr geben kann. In traditionellen Gesellschaften mag ein substantielles a priori Verständnis von Gemeinwohl bedeutsam gewesen sein. In freiheitlich pluralen Demokratien hat ein final definiertes, wahrheitsbeanspruchendes Gemeinwohlverständnis keinen Platz mehr. Hier bringen Gruppen und Individuen ihre Gemeinwohlvorstellungen ebenso wie ihre spezifischen Eigeninteressen zur Geltung und es bleibt dem rechtstaatlich verfassten, demokratisch legitimierten Entscheidungsprozess überlassen, diese zu koordinieren und zu realisieren. Mehrheit und Einfluss treten an die Stelle von Wahrheit, die Rationalität und die Legitimität von Institutionen an die Stelle von Moral und Ethik von Menschen. Der Weg ist das Ziel. Ein solches prozessualinstitutionalistisches Verständnis bedeutet, dass die Organisation der Willensbildungsund Entscheidungsprozesse, die Formen der Partizipation, der Konfliktregelung und die Konsensmechanismen in den Vordergrund treten, dass das Gemeinwohl a posteriori bestimmt wird und dass seine Inhalte revidiert werden können. Natürlich braucht auch und gerade ein freiheitlich-demokratisches Gebilde Gemeinsinn, Verantwortung und Leitbilder, um Gemeinwohl durchsetzen zu können.

Jeder neuere Diskurs über Gemeinwohl beginnt zudem damit, dass eine grundsätzliche Skepsis geäußert wird. Gemeinwohl steht erst einmal unter Ideologieverdacht. Gemeinwohlrhetorik ist demnach ein häufig genutztes Mittel, um im Interessenkonflikt die eigene Position zu legitimieren. Diesem Ideologieverdacht kann nur dadurch begegnet werden, dass sein Inhalt einerseits offen bestimmt wird, dass es dynamisch gesellschaftlichen Veränderungen angepasst wird, dass es andererseits aber nicht in vager Unbestimmtheit völlig willkürlich interpretiert werden kann. Dazu muss es politikfeld-, institutionen- und periodenbezogen genauer bestimmt werden. Hier kann es weder darum gehen, Gemeinwohl als theoretische Kategorie als zu diffus und unpräzise abzuqualifizieren, noch als vieldeutige, normativ überfrachtete Leerformel im politischen Diskurs zu verdammen. Gemeinwohlsemantik sollte so verstanden werden, dass nach konkreten Inhalten in konkreten politischen Konstellationen gefragt wird. Es geht in Folgendem also um die funktionale Operationalisierung des Begriffs.

In den europäischen Richtlinien und Verordnungen, Mitteilungen und Stellungnahmen, Entschließungen und Gerichtsurteilen, Grün- und Weissbüchern finden sich eine Vielzahl von Gemeinwohltatbeständen. Insbesondere in den letzten Jahren werden sie mit erheblicher Dynamik in das Europarecht eingebaut – in die Sozial- und Gesundheitspolitik, in den Verbraucher- und Umweltschutz oder in die Regional- und Kohäsionspolitik. Immer häufiger tauchen Begriffe bzw. Formulierungen auf wie ‚Wohlfahrt’ und ‚Fortschritt’, ‚allgemeine Gesundheit’ und ‚allgemeines Wohlergehen’, ‚gemeinschaftliches Interesse’ und ‚gemeinsame Ziele’, ‚Solidarität’ und ‚Gemeinschaftssinn’, ‚gemeinsame Erfordernisse des Umweltschutzes’, ‚gemeinsame Werte’ usw. Die Gemeinwohltatbestände sollen hier im europäischen Umfeld verortet werden, nicht nur als juristische Kategorien im Rahmen der Gesetzesexegese, sondern als politische Kategorien im Rahmen der praktischen Integrationsprozesse.

Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkungen von Gerold Ambrosius