Band 17: Integration von Infrastrukturen - Bd 1:Synopse

Gerold Ambrosius | Christian Henrich-Franke
Integration von Infrastrukturen in Europa im historischen Vergleich.
Bd 1: Synopse,
Nomos 2013.
Einführung:
Es geht im Folgenden um die internationale Integration von Infrastrukturen in Europa vor dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich. Mit ‚Infrastrukturen’ sind hier die Netze und die Dienste im Verkehrswesen (Eisenbahn, Binnenschifffahrt, Straßenverkehr, Luftfahrt), im Nachrichtenwesen (Post, Telegrafie, Funk) und im Versorgungswesen (Elektrizität, Pipelines) gemeint. Im Verkehrswesen lassen sich Verkehrswege (Schienen, Straßen, Wasserwege) recht eindeutig den Netzen und der Betrieb der Fahrzeuge (Bahnen, Lastkraftwagen, Schiffe) den Diensten zuordnen. Im Versorgungswesen stellen die Leitungen (Kabel, Rohre) die Netze und der Transport der Produkte (Strom, Gas, Öl, Wasser) die Dienste dar. Im Nachrichtenwesen bilden ebenfalls die Leitungen (Telegrafen-, Telefonleitungen) – bei der Post auch Straßen und Schienen – die Netze, der Transport der Informationen (Telegramme, Telefongespräche, Briefe) die Dienste. Wenn im Folgenden von ‚Infrastrukturen’ gesprochen wird, sind zunächst sowohl die Netze als auch die Dienste gemeint.
Unter ‚Integration’ von Infrastrukturen wird deren Verbindung an den nationalen Außengrenzen (Interkonnektivität) sowie deren Verschmelzung über die nationalen Außengrenzen (Interoperabilität) hinweg verstanden. Eine solche Interkonnektivität oder Interoperabilität kann ebenso durch die internationale Standardisierung von technischen, betrieblichen, administrativen, tarifären oder rechtlichen Tatbeständen erreicht werden wie durch eine gemeinsame Ordnungspolitik für Infrastrukturen in Europa oder durch eine gemeinsame Planung und Verwirklichung transeuropäischer Verbindungen. Integration und ‚Standardisierung’ meinen hier das gleiche und werden synonym verwendet. Integration erfasst zusätzlich auch die Schaffung internationaler Entscheidungsstrukturen. Eine solche Integration kann grundsätzlich auf zwei Wegen erfolgen (siehe Schaubild): zum einen über die „Wirtschaft“, zum anderen über die „Politik“ – im Sinne von staatlicher oder öffentlicher Politik. In beiden Fällen gibt es die Optionen, dass sich die Angleichung nicht-kooperativ im Wettbewerb oder kooperativ über Verhandlungen vollzieht. Bei der kooperativen Form kann wiederum zwischen einer Zusammenarbeit auf informeller Basis oder einer innerhalb formeller Organisationsstrukturen unterschieden werden. Letztere können im Rahmen von Politik auf rein gouvernementaler, rein privater oder gemischt gouvernemental- privater Grundlage arbeiten.
Der Schwerpunkt der folgenden Darstellung liegt – auch entsprechend seiner Bedeutung für die internationale Standardisierung – auf dem kooperativen Weg, wobei die internationale Perspektive zur Folge hat, dass innerstaatliche Willens14 bildungsprozesse, die letztlich die Basis für internationale Verhandlungen darstellen, nur am Rande behandelt werden. Wenn die Standardisierung über den Markt in der folgenden Darstellung eher kurz ausfällt, so liegt dies auch an den archivalisch-methodischen Möglichkeiten, derartige Standardisierungsvorgänge quellengestützt zu rekonstruieren. Je nach Perspektive wird Integration als etwas Prozesshaftes verstanden, das letztlich keine Finalität kennt, oder als eine begrenzte Integrationsmaßnahme – z.B. die Angleichung eines bestimmtes technischen Standards –, die einen Abschluss findet. Je nach Erkenntnisinteresse lässt sich Integration unter politischen, kulturellen, sozialen, technischen oder wirtschaftlichen Perspektiven betrachten. Der Schwerpunkt liegt hier auf den politischen und wirtschaftlichen. Die räumliche oder geografische Eingrenzung wird flexibel gehandhabt. Mit dem Begriff ‚Europa’ werden sowohl in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als auch in der nach dem Zweiten je nach Sektor und Fallbeispiel unterschiedliche Länder erfasst. Je mehr sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Untersuchung aber der Gegenwart nähert, umso stärker ist sie auf die europäische Gemeinschaft fokussiert.
Auch in zeitlicher Hinsicht gibt es keine eindeutig Eingrenzung. Grundsätzlich werden die zweite Hälfte des 19. und das gesamte 20. Jahrhundert betrachtet. Je nach inhaltlicher und sektoraler Perspektive können aber auch nur bestimmte Jahrzehnte untersucht und verglichen werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf denen vor dem Ersten Weltkrieg und nach dem Zweiten bis in die 1980er Jahre. Die Zwischenkriegszeit wird, sofern dies für die Erklärung der Entwicklungen notwendig und sinnvoll ist, jeweils der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg oder der nach dem Zweiten zugeordnet. Es gilt zu betonen, dass in diesem Band keine (chronologische) Geschichte der Integration von Infrastrukturen geschrieben werden soll.
Die Aufgabe bzw. das Ziel dieses Bandes ist es zum einen, die Ergebnisse eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten mehrjährigen Projektes zusammenzufassen. Aus ihm sind verschiedene Einzelstudien zu den Bereichen Eisenbahn, Binnenschifffahrt, Post, Telekommunikation und Funk, Aufsätze und Sammelbände hervorgegangen. Das Ziel dieses Projekts war es, die Integration im Rahmen der internationalen Beziehungen in Wirtschaft und Politik sowohl sektoral als auch epochal vergleichend zu analysieren. Welche Motive hatten die an der Integration beteiligten Akteure und welche Ziele verfolgten sie? Welche Strukturen prägten die wirtschaftlichen Märkte und die politischen Beziehungen auf internationaler Ebene? Welche Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse liefen innerhalb dieser Strukturen ab? Welche Politikinhalte wurden durch diese Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse formuliert? Wie verhielten sich Strukturen, Prozesse und Inhalte zueinander? Zusammen mit den Ergebnissen dieses Projektes sollen die der neueren nationalen und internationalen Forschung zum hier behandelten Thema berücksichtigt werden, um daraus übergreifende Schlüsse zu ziehen.