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Band 22: Föderale Systeme (Kaiserreich-Donaumonarchie-Europäische Union)

Gerold Ambrosius/ Christian Henrich-Franke/ Cornelius Neutsch (Hrsg.)

Föderalismus in historisch-vergleichender Perspektive
Band 2: Föderale Systeme: Kaiserreich - Donaumonarchie - Europäische Union.
Nomos 2015.

Content
Introduction


Einleitung:
Gerold Ambrosius/ Christian Henrich-Franke/ Cornelius Neutsch

Die konstitutiven Merkmale von föderalen Systemen sind sowohl das eigene Recht, die Autonomie und die Legitimität der Gebietskörperschaften auf unterschiedlichen Ebenen als auch die gemeinsamen Interessen, Loyalitäten und Politikverflechtungen zwischen ihnen. Letztere bilden eine grundlegende Voraussetzung für föderale Problemlösungen. Dabei werden die verschiedenen Politiken durch unterschiedliche Verflechtungsmuster gekennzeichnet, die sich zudem im Laufe der Zeit wandeln. Dies kennzeichnet den Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg zum ‚unitaristischen Bundesstaat‘ ebenso wie den der Europäischen Union auf dem Weg zum ‚supranationalen Mehrebenensystem‘. Einerseits verändern sich die Verflechtungsmuster „unter der Hand“. Andererseits geraten auch die formalen Organisationsstrukturen unter Anpassungsdruck. Die strukturellen Auswirkungen der Diskussion um die Föderalismusreform in der Bundesrepublik machen dies ebenso deutlich wie die Konsequenzen, die die Union aus der dynamischen Variabilität ihrer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zieht; durch sie werden neue Integrationswege eröffnet. Dahinter steht – quasi als Megatrend – die tatsächliche oder postulierte Unfähigkeit von Staaten, gesellschaftliche Probleme aller Art mit den traditionellen hierarchisch- legalistischen Instrumenten des Regierens (government) zu lösen. An ihre Stelle soll eine neue Form von Staatlichkeit treten, die unter aktiver Einbeziehung der betroffenen Akteure mit kooperativ-moderierenden Instrumenten des Steuerns (governance) Problemlösungen sucht. Dadurch ändern sich auch die gesellschaftlichen Funktionsbedingungen von föderalen Systemen. Es sind diese aktuellen Veränderungen, die die Politikwissenschaft seit einigen Jahren veranlasst hat, sich wieder intensiver mit Föderal- bzw. Mehrebenensystemen zu beschäftigen. Letztlich sind dies auch die Gründe dafür, dass ebenso in der Geschichtswissenschaft ein neues Interesse an ihnen geweckt worden ist.

Wer sich mit Föderalismus in der europäischen Geschichte beschäftigt, stößt unmittelbar auf das Deutsche Reich von 1871 und die Habsburger Doppelmonarchie. In der Gegenwart finden die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union besondere Beachtung. Dies sind wohl die prägnantesten föderalen Gebilde der europäischen Neuzeit, wobei selbstverständlich die meisten Staaten in irgendeiner Form durch föderale Strukturen und Prozesse gekennzeichnet wurden und werden. Zurzeit gibt es jedenfalls in Deutschland zwei historische [8] Forschungsprojekte zum Föderalismus und zwar ein Projekt an der Ludwig-Maximilians- Universität München zur Habsburger Doppelmonarchie und ein weiteres an der Universität Siegen zum Deutschen Reich von 1871. Im Projekt über die Habsburger Monarchie wird Föderalismus als Organisation von Vielfalt verstanden. Als polyethnische und multikonfessionelle Gesellschaft war die Doppelmonarchie ein Laboratorium für föderale Ordnungsvorstellungen. Es stehen in diesem Projekt also die gesellschaftlichen Funktionsbedingungen und Folgen von Föderalismus im Vordergrund. Konzeptionelle Überlegungen zum Föderalismus werden als Antwort auf die Ausdifferenzierungsprozesse der Moderne gedeutet, die sich auf das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Gemeinschaft auswirkten. Unter dem Einfluss sich neu konstituierender gesellschaftlicher Gruppen wurden ständische und dynastische Föderalismusideen zu modernen Verfassungskonzepten weiterentwickelt. Konstitutive Elemente föderaler Ordnungen stellten dabei – so die Arbeitshypothese – konkurrierende und überlappende ‚Loyalitäten‘ dar. Funktionierende Loyalitätsbeziehungen zwischen Staat und staatlichen Teilgebilden, zwischen dem Staat und gesellschaftlichen Gruppen, aber auch innerhalb der Gesellschaft werden als unabdingbare Voraussetzungen für funktionsfähige Politikverflechtungen angesehen. Die gegenseitige Abgrenzung und Positionierung von sozialen Gruppen, Institutionen und regionalen Einheiten bedingt letztlich die innere Struktur von Föderalismus. Der Einfluss dieser bestehenden oder erwarteten Loyalitäten auf föderale Ordnungsmuster wird auf seine integrierende bzw. separierende Wirkung hin untersucht. Im Projekt über das Deutsche Reich von 1871 geht es insbesondere um die vertikalen und horizontalen Verflechtungen zwischen Reich und Bundesstaaten. Die Verfassung von 1871 hatte ein eher lose verbundenes föderales Gebilde geschaffen, das sich bis 1914 in einen integrierten föderalen Staat wandelte. Diesen Wandel zeichnet das Projekt nach, indem die politischen Strukturen und Prozesse auf unterschiedlichen Politikfeldern untersucht werden. Es wird herausgearbeitet, auf welche Weise das föderale System des Kaiserreichs funktionierte und wie es sich veränderte, d.h., wie sich die formellen Akteure im verfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmen positionierten und welche „informellen“ Akteure hinzutraten, wie die formellen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse sich entwickelten und auf welche Weise sie durch „informelle“ ergänzt oder sogar überlagert wurden. Die übergreifende Frage nach der Funktionsweise des Föderalismus beinhaltet die nach der Gestaltung und dem Wandel der politischen Steuerungs- und Koordinationsformen, insbesondere die nach dem Zusammenspiel der unterschiedlichen föderalen Ebenen. Obgleich die verfassungsrechtlich vorgegebenen Organe, insbesondere der Bundesrat, einen wichtigen Platz im föderalen System einnahmen, wird dieses weniger aus einer starren und statischen, [9] staatszentrierten und hierarchischen Perspektive heraus analysiert, sondern mehr aus einer flexiblen und dynamischen, zivilgesellschaftlichen und kooperativen. In beiden Projekten tritt also die staatsrechtliche bzw. -organisatorische Perspektive, die die historische Föderalismusforschung bisher prägte, in den Hintergrund und die gesellschaftliche in den Vordergrund. Damit greifen sie inhaltlich und methodisch-theoretisch die Überlegungen auf, die im Zentrum der „neuen“ politikwissenschaftlichen Föderalismusforschung stehen. Hier geht um die Frage, wie im politischen System der Europäischen Union und in anderen föderalen Integrationsgebilden staatliche und nicht-staatliche Akteure und politische Entscheidungsebenen miteinander verflochten sind und welche Konsequenzen sich aus dieser Fusion und Verflechtung von formellen und informellen Verfahren und Instrumenten für die politische Steuerung ergeben. Die Politikwissenschaft hat zunehmend erkannt, dass moderne Bundesstaaten zwar der Idee nach versuchen, die föderale Gewaltenteilung zu realisieren, dass in der politischen Praxis eine Trennung der Ebenen aber nicht durchführbar ist. Von kooperativem Föderalismus oder von Politikverflechtung ist die Rede. In die gleiche Richtung weist seit längerem das Konzept des Mehrebenensystems. Die Europäische Union wird dabei als ein System sich ausweitend interdependenter Handlungsebenen modelliert, das nationale, internationale und transnationale Akteure in unterschiedlichen Verhandlungsnetzen und Politikarenen an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt. An die Stelle der Debatte um die Überwindung oder Stärkung des Nationalstaats tritt die Frage der Transformation von Staatlichkeit und internationaler Ordnung. Nachdem das Konzept des Mehrebenensystems etabliert ist, werden auch föderalistisch strukturierte Nationalstaaten zunehmend als dynamische Mehrebenensysteme eigener Art anerkannt und untersucht. Der Vorteil dieser neuen Ansätze besteht also darin, dass sie sich weniger an den Kategorien ‚formaler Territorialstaatlichkeit‘ einschließlich der verschiedenen Ebenen des föderalen Systems orientieren, sondern mehr an denen ‚informeller Funktionsstaatlichkeit‘ einschließlich der damit verbundenen Netzwerke und Gremien sowie nicht-staatlichen Akteure.

Wenn hier die gesellschaftliche Dimension von föderalen Systemen hervorgehoben wird, soll damit nicht der Eindruck vermittelt werden, als ob die staatsrechtliche bzw. -organisatorische nicht mehr von Interesse wäre. Zwar hat sich die ältere geschichts- und politikwissenschaftliche sowie die staats- und verfassungsrechtliche Forschung ausführlich mit ihr beschäftigt, aber insbesondere der Vergleich unterschiedlicher föderaler Gebilde – unter Berücksichtigung historischer Ausprägungen – hat auch unter staats- und verfassungsrechtlicher Perspektive gerade in den letzten Jahren zu neuen Erkenntnissen geführt. Der vorliegende Band veröffentlicht Beiträge, die auf einer ersten gemeinsamen Tagung dieser beiden Projekte gehalten worden sind. Es werden in ihnen alle hier relevanten föderalen Gebilde behandelt: das Deutsche Reich von 1871, [10] die Habsburger Doppelmonarchie, die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union. Dabei werden sowohl synchron-vergleichende als auch diachron- vergleichende Perspektiven verfolgt. Historisch-hermeneutische Methoden der Geschichtswissenschaft kommen ebenso zur Anwendung wie systematischtheoretische der Politikwissenschaft. Mit dieser Zusammenführung von unterschiedlichen Föderalismen, Inhalten, Methoden und Theorien wird die Hoffnung verbunden, dass sich die historischen und systematischen Wissenschaften gegenseitig befruchten und dies zu neuen Erkenntnissen über die Ausprägung und das Funktionieren von föderalen Systemen führt. Siegen, im Januar 2015

Die Herausgeber