Band 13: Standardisierung und Integration

Gerold Ambrosius/ Christian Henrich Franke/ Cornelius Neutsch/ Guido Thiemeyer (Hrsg.)
Standardisierung und Integration europäischer Verkehrsinfrastruktur in historischer Perspektive
Hans-Liudger Dienel/ Hans-Ulrich Schiedt: Vorwort
Gerold Ambrosius: Standards und Standardisierungen in der Perspektive des Historikers ...
Aus dem zusammenfassenden Überlick zu den einzelnen Beiträgen:
(...) Gerold Ambrosius geht in seinem Beitrag über die „Typen der Standardisierung“ auf vier zentrale Fragen ein: Was bedeutet Standardisierung? Warum kommt es zur Stan-dardisierung? Wie verläuft Standardisierung? Gibt es historische „Standards“ der Stan-dardisierung? Angesichts der Tatsache, dass die Geschichtswissenschaft erst allmählich das Thema der historischen Standardisierung entdecke, plädiert er für eine möglichst offene Definition von Standardisierung. Ausgehend von der Netzwerkökonomik legt er die Gründe dar, die aus der Sicht des technisch-ökonomischen Rationalkalküls zur Standardisierung führten, verweist aber zugleich auf soziale, politische oder kulturelle Ursachen für Standardisierung. Die Verlaufsmuster oder Typen der Standardisierung werden festgemacht an der Art der Standards und der Art der Entscheidungsverfahren, die sich beide gegenseitig beeinflussen. Schließlich weist Ambrosius darauf hin, dass es die Aufgabe des Historikers sei, konkrete technisch-ökonomische Standardisierungsfäl-le in ihrem sozialen, politischen oder kulturellen Umfeld zu rekonstruieren, dass darüber hinaus aber versucht werden solle, bestimmte Standardisierungsmuster bestimmten so-zioökonomischen, politischen oder kulturellen Systemen zuzuordnen.
Uwe Müller setzt sich mit der Standardisierung im Straßen- und Straßenfahrzeugbau von der frühen Neuzeit bis zum Beginn der Automobilisierung auseinander. Obwohl Standardisierungen im Straßenverkehr weniger zwingend und schwerer zu realisieren waren als bei den Eisenbahnen, der Post oder dem Kanalbau, identifiziert er dennoch charakteristische Formen, Motive, Hindernisse und Folgen von Standardisierungen. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts konzentrierten sich Staaten vorwiegend darauf, die In-standsetzung von Straßen durch Verordnungen zu regeln. Indem sie deren Ausführung an Ämter oder gar Anlieger delegierten, blieben erhaltende Maßnahmen allerdings oft-mals aus. Wirkungsvoller waren indirekte Regeln, die einzig der Abnutzung der Straßen entgegenwirken sollten. Hierzu dienten Vorschriften über Gewichte oder Spurweiten der Fahrzeuge. Am Beispiel der Radfelgenbreite wird gezeigt, dass das Ziel möglichst breiter Felgen entweder über Verbote oder positive Anreize erreicht werden konnte. Im Zuge der Errichtung von Chausseen setzte schließlich eine Standardisierung des Stra-ßenbaus ein. Straßen- und Wegeordnungen legten u.a. die Breite, Wölbung und maxi-male Steigung von Straßen ebenso fest wie den Abstand säumender Bäume zueinander. Der Fokus liegt auf Deutschland, wobei auch französische und britische Entwicklungen einbezogen werden. Es kann beobachtet werden, dass Staaten mitunter bestehende Re-gelungen anderer Staaten übernahmen, was zu einer Angleichung von Standards führte.
Cornelius Neutsch grenzt in seinem Beitrag über die Standardisierung bei der Post im 19. Jahrhundert zwei Phasen voneinander ab. Dabei fragt er jeweils nach den Ursachen und Zielen von Standardisierungen, deren Arten (tarifäre, betriebliche, administrative und technische Standards) und schließlich den Wegen zu deren Umsetzung. In der auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts beschränkten ersten Phase spielten sich Standardi-sierungen auf nationaler bzw. einzelstaatlicher Ebene ab, was er am Beispiel Preußens aufzeigt. Mit der Gründung des Deutsch-Österreichischen Postvereins 1850 begann die zweite Phase, in der Standardisierungen auf zwischenstaatlicher Ebene vereinbart wur-den, um den grenzüberschreitenden Postverkehr zu vereinheitlichen. In der Folge pass-ten sich auch die innerstaatlichen Regelungen an die Standards des Deutsch-Österreichischen Postvereins an. Abschließend vergleicht Neutsch die Standards des Deutsch-Österreichischen Postvereins mit denen des Weltpostvereins und konstatiert eine Reihe von Parallelen.
Christopher Kopper konstatiert in seinem Beitrag über die Automatisierung und Ratio-nalisierung bei der Deutschen Bundesbahn, dass erforderliche Rationalisierungsmaß-nahmen organisatorischer und technischer Art aufgrund der institutionellen Ausgestal-tung und gemeinwirtschaftlichen Ausrichtung der Deutschen Bundesbahn verzögert oder gar verhindert wurden. Die Tatsache, dass sich stets jene Kräfte durchsetzten, die auf bestehenden Strukturen beharrten, führt er auf asymmetrische Informationsvertei-lungen zurück. Das Festhalten an Widerspruchsrechten der Länder durch leitende Be-amte auf Direktionsebene identifiziert er als politisch-institutionelles Hemmnis für Ra-tionalisierungen. Seine These untermauert Kopper mit der gescheiterten Zusammenle-gung von Direktionsbezirken oder ausbleibenden Schließungen bzw. Verkäufen unren-tabler Werkstätten.
Gisela Hürlimann zeichnet detailliert den Entwicklungsprozess der automatischen Zug-sicherung nach: Sie beschreibt den „steinigen Weg“ hin zum „European Train Control System“ (ETCS) zwischen 1958 und 2008. Dabei wird deutlich, dass dieser Prozess einer technischen Standardisierung nicht gleichmäßig verlief und auch das Scheitern eingeschlagener Entwicklungen beinhaltete. Mit der „Linienförmigen Zugbeeinflus-sung“ und der „Punktförmigen Zugbeeinflussung“ standen sich zwei verschiedene Sys-teme gegenüber. Letztlich wurde mit dem ETCS 1991 ein soziotechnischer Kompro-miss gefunden, der nach dem Baukastensystem die Auf- und Abwärtskompatibilität garantierte. Unter Rückgriff auf das Konzept der Pfadabhängigkeit, kennzeichnet sie das ETCS als Wiedergänger des in den 1970er Jahren diskutierten integrierten UIC-Systems und stellt fest, dass die Wettbewerbslogik die Interoperabiltät favorisiert habe.
Christian Henrich-Franke wendet sich in seinem Aufsatz der Implementierung techni-scher Standards zu. Am Beispiel der 1955 gegründeten Europäischen Gesellschaft zur Finanzierung von rollendem Eisenbahnmaterial (Eurofima), einem Gemeinschaftsunter-nehmen der europäischen Eisenbahngesellschaften, zeigt er die Möglichkeiten und Grenzen technischer Standardisierung jenseits nationalstaatlicher Durchsetzungskompe-tenzen auf. Der Idee nach sollte die Eurofima gemeinsam Investitionskapital beschaffen, nationale Aufträge an die Eisenbahnindustrie bündeln und so die Standardisierung der europäischen Eisenbahnen beschleunigen, um deren Betrieb zu rationalisieren. Dieser Idee konnte die Eurofima aber nur bedingt gerecht werden, was mit hinderlichen natio-nalen Rahmenbedingungen erklärt wird. Die an der Gründung und Tätigkeit der Euro-fima beteiligten Akteure bevorzugten nationale Strategien zur Rationalisierung der Ei-senbahnen, deren Auswirkungen auf die nationale Wirtschaft auch durch nationale Maßnahmen begegnet werden konnte. Franke hebt darauf ab, dass sich noch nicht die Vorstellung durchgesetzt hatte, nationale Probleme effektiver durch europäische Stan-dardisierung lösen zu können. Am Ende bilanziert Henrich-Franke, dass Standardisie-rungen bei weitem keine technisch-ökonomisch rationalen Vorgänge waren, wie es manch theoretischer Ansatz zur Standardisierung gerne suggeriere.
Guido Thiemeyer behandelt in seinem Beitrag über die transnationale Integration der Binnenschifffahrt am Beispiel der „Arbeitsgemeinschaft für die Rheinschifffahrt“ den Prozess einer tarifären Standardisierung. Diese wurde 1953 zunächst mit dem Ziel ge-gründet, ein Preiskartell für bestimmte Güter auf bestimmten Strecken des Rheinver-kehrs zu errichten. Der tarifäre Standardisierungsvorgang begann auf der Ebene der Reedereien und ihrer Verbände und setzte sich auf der intergouvernementalen Ebene fort. Als man sich auch dort aus übergeordneten politischen Gründen nicht einigen konnte, wurde das Problem wieder auf die Ebene der Verbände zurückverwiesen, denen man hinsichtlich der Lösung völlig freie Hand gab. Das Ergebnis war eine tarifäre Stan-dardisierung, die, so Thiemeyer, den Interessen der Reedereien im besonderen Maße entsprach.
Alexander Klose zeichnet die Entstehung des Containersystems nach. Die Ursprünge dieser Form des intermodalen Transports führt er bis auf die Zeit vor dem Ersten Welt-krieg zurück. Detailliert arbeitet er die Unterschiede des heutigen Containerwesens ge-genüber früheren Entwicklungsstufen heraus. Noch bevor der erste Übersee-Container 1966 in Bremen gelöscht wurde, waren dessen wesentlichen Komponenten bereits stan-dardisiert worden. Dazu zählten z.B. Maße, Materialien, Höchstgewichte und technische Einzelheiten des Umschlagvorgangs. Zwei konkurrierende amerikanische Experten-kommissionen arbeiteten parallel Vorgaben aus, bevor sich auch die ISO der Thematik widmete. Der schließlich in den Normenkatalog aufgenommene Kompromiss fand in der Praxis allerdings keine Resonanz. In kurzer Zeit setzte sich ein einfach gehaltenes Containermaß durch. Es kann somit gezeigt werden, dass sich über den Markt Standards entgegen Beschlüssen von Komitees durchsetzen können. Die Standardisierung des Containersystems schützt hingegen nicht vor Inkompatibilitäten zu externen System-komponenten, wie das Beispiel der ISO-Container und der Euro-Paletten zeigt.
Stefan Albrecht thematisiert in seinem Artikel über die „Luftfahrt zwischen Internatio-nal Civil Aviation Organization- (ICAO) und Sowjetstandards“ die politisch gewollte Konkurrenz von Standards im Kontext des Ost-West-Konflikts. Bemühungen der Tschechoslowakei, sich den Standards der ICAO anzuschließen, wurden von der Sow-jetunion systematisch untergraben. Letztere wollte, auch aufgrund militärpolitischer Überlegungen z.B. im Bereich der Navigationstechnik, vielmehr eigene Standards imp-lementieren, hinkte 2den in der ICAO vereinbarten Standardisierungen jedoch zeitlich hinterher. Obwohl die von der Sowjetunion entwickelten Geräte z.B. hinsichtlich der verwendeten Frequenzen nicht mit denen der ICAO kompatibel waren, benutzte sie ins-geheim doch die Standards der ICAO. Für die im Spannungsfeld zwischen der ICAO und der Sowjetunion positionierte Tschechoslowakei, hatte dies zur Folge, dass sie un-praktische, da unkoordinierte Systeme beibehalten musste.
Als Fazit kann festgehalten werden, dass die einzelnen Beiträge oft gescheiterte Stan-dardisierungsprozesse thematisieren, die Netzwerkeffekte nur bedingt ermöglichten und dadurch zu so etwas wie einer „nationalen Verkehrskultur“ und nicht zu einer „europäi-schen“ beitrugen. Dabei fällt auf, dass das Scheitern oft auf eine Spannung zwischen unterschiedlichen Zielen der Standardisierung zurückgeführt werden konnte. Die tech-nisch-ökonomische Rationalität, die einen in diesem Sinne „optimalen Standard“ präfe-riert, harmonierte oftmals nicht mit nationalen Zielen der Standardisierung. So sollte z.B. häufig mit der Wahl eines Standards die nationale Industrie vor ausländischer Kon-kurrenz geschützt werden, ungeachtet der Tatsache, dass es sich dabei unter Umständen nicht um eine technisch effiziente Lösung handelte. Besonders deutlich konnte der Zu-sammenhang zwischen Standardisierungen und Netzwerkeffekten am Beispiel der Post im 19. Jahrhundert nachvollzogen werden. Mit der Übernahme von Standards des Deutsch-Österreichischen Postvereins durch den Weltpostverein vergrößerten sich gleichzeitig die positiven Netzwerkeffekte. Aufgrund von Netzwerkeffekten konnten sich, wie das Beispiel der ICAO- und Sowjetstandards gezeigt hat, sogar politisch un-gewollte Standards durchsetzen. Dies kann dann der Fall sein, wenn die mit der Nicht-annahme eines ungewünschten Standards verbundenen Kosten, im Sinne entgangener positiver Netzwerkeffekte, größer sind als der entsprechende Nutzen des gewünschten Standards. Es dürfte jedoch schwierig sein, Kosten und Nutzen empirisch zu quantifi-zieren.
Die Identifizierung einer Reihe von Forschungsdesideraten führt zu der Feststellung, dass Standardisierung und Netzwerkeffekte ein zukunftsträchtiges Thema darstellen, wobei eine Vernetzung der laufenden Forschungsarbeiten zu wünschen ist. Auffällig ist, dass man häufig eine technische, ökonomische und politische Ebene der Standardisie-rung abgrenzen kann, die in Bezug auf den Verlauf eines Standardisierungsprozesses in unterschiedliche Richtungen wirken konnten. Deutlich wird zudem, dass Standardisie-rungen in einem internationalen Rahmen tendenziell größere Probleme hervorriefen als in einem nationalen Rahmen. Nationale Standardisierungen konnten den Weg zu einer internationalen Standardisierung sowohl ebnen als auch blockieren. Für eine tiefer ge-hende Auseinandersetzung mit dem Thema Standardisierung und Netzwerkeffekte wird es jedoch unumgänglich sein, eine präzisere Fassung der Begriffe Standard, Standardi-sierung und Netzwerkeffekte und deren Beziehungen herauszuarbeiten.