Berichte - Auschwitz-Birkenau
Einleitung | Berichte | Bilder |
Auschwitz-Birkenau (15.10.2001)
Betritt man das einstige Zentrum und Sinnbild des nationalsozialistischen Vernichtungsapparates, so erscheint die gesamte Szenerie real und doch ungeheuer abstrakt zugleich. Die Relikte der Vernichtungsmaschinerie: die Rampe, an der nach Ankunft der Züge aus ganz Europa die Selektionen an den oft in Güterwagen eingeferchten jüdischen Insassen vorgenommen wurden, primitivste Baracken, die Ruinen der zerstörten Gaskammern und Krematorien und die endlosen Stacheldrahtzäune, dies alles führt die zerstörerische und menschenverachtende Ideologie, die hier am Werk war, unmissverständlich vor Augen. Dennoch sprengt das Ausmaß menschlichen Leids, das hier erlitten wurde, die eigene Vorstellungskraft, und man wird umso stärker der Distanz gewahr, die einen von diesem "Planeten Auschwitz" trennt, je mehr man versucht, die unzähligen verinnerlichten Bilder und Berichte aus Büchern und Dokumentationen mit dem Ort Auschwitz an einem sonnigen Herbstnachmittag im Jahr 2001 in Übereinstimmung zu bringen.
Die Auseinandersetzung mit dem finstersten Kapitel deutscher Geschichte am Ort des Geschehens wirft Probleme auf, die sich nicht zuletzt auch während unserer Führung über das Lagergelände offenbaren. Einerseits handelt unsere polnische Museumsführerin die einzelnen Stationen des Lagers wie museale Attraktionen des Grauens unter eng bemessener Zeitvorgabe ab, so dass etwa die Besichtigung einer Baracke mit der Bitte, doch nun zum Krematorium und zur Gaskammer zu folgen, beendet wird, andererseits wird durch zusätzliche Einflussnahme versucht, zu emotionalisieren und eine Art kollektiven Betroffenheitsritus zu beschwören. In diesem Sinne ist auch die Filmvorführung vor der Besichtigung Auschwitz-Birkenaus zu bewerten: Untermalt von Passagen aus Beethovens "Eroica" wird anhand sowjetischen Filmmaterials die Befreiung des Lagers Auschwitz dokumentiert. Darüber hinaus versucht unsere polnische Führerin während der Schilderungen des Lageralltags, auch in ihrer Stimme dem Grauen und Entsetzen Ausdruck zu verleihen. Gerade dies wirkt jedoch besonders aufgesetzt, da es offensichtlich ist, dass sie derartige Führungen unzählige Male im Laufe eines Jahres leitet und hier auf das Inventar ihres Berufes zurückgreift. Es ist außerordentlich problematisch, Betroffenheit zu ritualisieren. Der Ort spricht trotz der zeitlichen Distanz, die uns von den hier stattgefundenen Verbrechen trennen, seine ganz eigene, deutliche Sprache, die keiner weiteren Kommentierung bedarf. Betrachtet man die Latrinen in einer Baracke, ein meterlanges Brett mit Dutzenden eingelassenen Löchern, auf dem die Häftlinge in einer Reihe zum Verrichten ihrer Notdurft gezwungen waren, wird der bewusst herbeigeführte Verlust jeglicher Intimität und Individualität unmittelbar offensichtlich.
Die strenge Geometrie, in der die einst über 300 Baracken auf dem etwa 170 Hektar großen Gelände angelegt waren, zeugt von der Pervertierung deutscher Sekundärtugenden: der Aufrichtung eines unmenschlichen Ordnungssystems, in dem anschließend Chaos und Zerstörung entfaltet wurden. Unter dem Leitmotiv der Vernichtung war das NS-Regime zugleich bestrebt, die Arbeitskraft der Lagerhäftlinge in höchstmöglichem Grade auszubeuten. Die tiefen Entwässerungsgräben des einst äußerst sumpfigen Lagergeländes sind noch heute neben der Eisenbahnrampe erkennbar und wurden ausschließlich durch Häftlingskommandos angelegt. Vom Turm der Hauptwache sind in einigen Kilometern Entfernung die Schornsteine einer Kunststofffabrik, der ehemaligen Buna-Werke (Auschwitz III, Monowitz) zu sehen, nur eines der zahlreichen Nebenlager, in denen Auschwitz-Häftlinge nach täglichem Fußmarsch zur Arbeit gezwungen wurden. Der alles durchdringende Vernichtungsgedanke manifestierte sich jedoch am deutlichsten in den insgesamt vier Krematorien und Gaskammern in Auschwitz, durch die das Töten industrielle Formen und Ausmaße annahm. Nachdem das Krematorium IV im Herbst 1944 durch Häftlinge des jüdischen Sonderkommandos, das der SS beim Ausplündern der eigenen Glaubensgenossen und dem Tötungs- und Verbrennungsvorgang zuarbeiten musste, zerstört wurde, sprengte die SS im Frühjahr 1945 die übrigen Gaskammern und Krematorien, um die Spuren vor der heranrückenden Roten Armee zu beseitigen. Im vorgefundenen Zustand belassen, zeugen heute nur noch Ruinen von den Einrichtungen des fabrikmäßigen Mordens. Nicht nur der Aufstand des jüdischen Sonderkommandos stellte eine diesem Umfeld bemerkenswerte Form des Widerstandes dar, anderen Häftlingen gelang es, sich zu organisieren und Informationen über die stattfindenden Massentötungen und das im Lager beschäftigte Personal zu sammeln und nach außen weiterzuleiten. Obwohl die Alliierten demzufolge frühzeitig über die Vorgänge in Auschwitz in Kenntnis gesetzt waren, unternahmen sie dennoch keinen Versuch, die Eisenbahnlinien nach Auschwitz zu bombardieren und damit weitere Vernichtungstransporte auf diesem Wege zu unterbinden. Die Tötungsmaschinerie funktionierte fast bis zum Kriegsende, so wurden etwa im Jahre 1944 im Laufe von nur wenigen Monaten nahezu alle ungarischen Juden in Auschwitz-Birkenau ermordet (etwa 400.000 Menschen).
Zwischen den Überresten der Krematorien II und III, am Ende der Rampe, hat man den Opfern von Auschwitz ein Mahnmal mit mehrsprachigen Gedenktafeln errichtet. Der deutschsprachige Text lautet: "Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit. Hier ermordeten die Nazis etwa anderthalb Millionen Männer, Frauen und Kinder. Die meisten waren Juden aus verschiedenen Ländern Europas." Auf dem Rückweg zum Tor Begegnung mit einer fahnenschwenkenden Gruppe junger Israelis, vom Turm der Hauptwache blickt die nächste Besuchergruppe auf uns herab. Zurück zum Busparkplatz, vor wenigen Jahren Schauplatz Spielbergscher Dreharbeiten: Auschwitz- Birkenau an einem sonnigen Herbstnachmittag 2001.
Philip Bamberger, David Ditzer, Stefan Spiller