Berichte - Das jüdische Lemberg
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Das jüdische Lemberg (19.10.2001)
Am Nachmittag machten wir uns zu einer erneuten Stadtführung unter einem spezifischen Aspekt der Geschichte Lembergs auf, einer Spurensuche in die jüdische Vergangenheit der Stadt. Unser Stadtführer Boris Dorfmann stellte sich als jüdischer Journalist vor und entschuldigte sich bei uns, dass er kaum Deutsch, dafür aber Jiddisch spreche. Er erklärte, dass Jiddisch heute in Lemberg eine tote Sprache sei und dass er einer der wenigen Lemberger Juden ist, von denen die Sprache noch aktiv gesprochen wird. Die Jugendlichen der jüdischen Gemeinden Lembergs lernen ausschließlich Hebräisch. Das Jiddische war für uns natürlich nicht immer leicht zu verstehen, es verlieh der Führung aber einen besonderen Charakter und eine plastische Authentizität.
Zunächst führte er uns in eine Gaststätte, in der auf einer Wand ein Panoramabild von Lviv aufgemalt war. Das Panorama zeigte Lemberg im 16. Jahrhundert, an dem Dorfmann uns zeigen konnte, dass das Judenghetto des Mittelalters nahe der alten Stadtmauer lag. Die Gaststätte barg noch eine weitere Sehenswürdigkeit: im Keller des Hauses konnten wir Reste eines Turmes betrachten, der ehemals Teil der mittelalterlichen Stadtmauer war. Die Bewachungstürme waren für die Stadt Lemberg von großer Bedeutung. Als Stadt lag und liegt Lemberg sehr zentral zwischen dem Baltischen und dem Schwarzen Meer, und war daher gerade im Mittelalter ein strategisch bedeutender Knotenpunkt. Lemberg erlebte zahlreiche Einfälle, unter anderem durch die Türken, Tataren und die Schweden.
Mit dem Blick auf das Panorama und die Reste der mittelalterlichen Stadtmauer begann nun die eigentliche Stadtführung. Dorfmanns "Zeitreise durch das jüdische Lemberg" sollte im Judenghetto des Mittelalters beginnen und im Ghetto der Nazis enden. Dorfmann führte uns ein paar Meter von der einstigen Stadtmauer weg hin zu einem größeren Platz mit mehreren Gebäuden. Bis 1939 waren in diesen Gebäuden jüdische Zeitungsredaktionen untergebracht, die durch die deutschen Besatzer zwangsgeschlossen wurden. Das jüdische Ghetto ist heute fast vollständig zerstört, bis auf die Ruinen der Synagoge, die "goldene Royz", die heute auf der Liste der UNESCO steht. Von der Synagoge ist lediglich das Portal erhalten. Die vom Architekten Pablo Romano gestaltete Synagoge wurde im Sommer 1942 von den deutschen Besatzern niedergebrannt. Vor der einschneidenden Wende bildete diese Synagoge den Mittelpunkt des Ghettos. Rund um das Gotteshaus wohnten die einflußreichsten und wohlhabendsten Juden Lembergs. Auf dem kleinen Raum des ehemaligen Gettos existierten zahlreiche jüdische Institutionen: ein jüdisches Gericht, Gefängnis, Religionsschulen, Schulen und verschiedene andere Institutionen. Bis 1939 trugen alle Straßen jüdisch geprägte Namen; unter den Besatzern wurden alle ehemals jüdischen Straßennamen naziterminologisch umbenannt. Heute leben etwa sechs- bis siebentausend Einwohner jüdischen Glaubens in Lemberg. Die größte jüdische Gemeinde ist die "Kultusgemeinde", die jeden Freitag in der Reformsynagoge ihre Gottesdienste hält. Noch heute ist Lemberg Zentrum für die gesamte jüdische Bevölkerung Galiziens. Denn noch immer treffen sich alle vier Jahre (seit 1586) Juden aus Krakau, Lublin, Lemberg und Wien zu einem Kongreß, um aktuelle Aspekte und Probleme zu diskutieren. Dorfmann führte uns zu der Stelle, an dem einst das "Jüdische Tor" die Grenze zur restlichen Stadt markierte. Direkt angrenzend lebte die ruthenische bzw. ukrainische und die serbische Bevölkerung ebenfalls in ihren jeweils eignen Stadtvierteln. Noch heute zeugen die Straßennamen von der ehemals strikten Stadtraumtrennung.
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten hundertfünfzigtausend Juden in Lemberg, achtzig Prozent der Stadtbevölkerung, die ursprünglich aus allen Ecken Europas kamen. Herr Dorfmann war bemüht, uns die multiethnische Zusammensetzung früherer Tage vor Augen zu führen. Auf unserem ca. drei Stunden dauernden, durch entlegene Stadtviertel führenden Führung, verdeutlichte er eindringlich diese längst vergangene multikulturelle Atmosphäre der Stadt.
Dorfmann führte die Tour "auf dem Pfad der Zerstörung" fort, und zeigte uns die Gedenktafel für die im Juli 1941 zerstörte Tempelsynagoge. Diese Synagoge wurde hauptsächlich von der jüdischen Intelligenz besucht. Die Zerstörung fand während eines Gottesdienstes statt, alle 138 Gottesdienstbesucher fanden den Tod in den Flammen. Gerne hätte uns Boris Dorfmann alle Standpunkte der ehemals dreiundvierzig Synagogen gezeigt - nur noch zwei Gotteshäuser stehen - , aber aus Zeitmangel sahen wir nur noch einige wenige. Die Führung endete an der jüdischen Gedenkstätte Lembergs, die als Mahnmal gegen den Holocaust und das Lemberger Ghetto errichtet wurde. In einem Zeitraum von zwanzig Monaten, November 1941 bis Juni 1943, wurden die 138.600 Juden des Lemberger Ghettos ermordet. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs war somit die jüdische Bevölkerung Lembergs fast vollständig ausgelöscht worden.
Julia Stäsche - Katja Thiele - Lucie Benz