Berichte - Lemberg Teil 1
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Lemberg - Teil 1 (19.10.2001)
Als ebenso eindrücklich und unvergesslich wie die Erfahrungen an der Grenze erwies sich auch unser Aufenthalt in Lemberg, dem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum der Westukraine:
Am späten Nachmittag, nach etwa einstündiger Überlandfahrt ab der Grenze, in Lviv - wie die Ukrainer ihre Stadt nennen - angekommen, bezogen wir zunächst das Hotel, dessen prachtvoll anmutende klassizistische Fassade und antiquarisches Interieur in krassem Widerspruch zu der nüchtern-sozialistisch anmutenden Plattenbaukultur des Krakauer Quartiers stand. Für den an westeuropäische Standards gewöhnten Reisenden stellten eher die spärlich gesäten sanitären Einrichtungen eine organisatorische Herausforderung dar. (Auf jeder Etage - etwa 30 Zimmer - befanden sich eine Toilette und eine Dusche.)
Bei einem etwa zweieinhalbstündigen Rundgang lernten wir die der 797.000 Einwohner zählenden Stadt eigene Atmosphäre sowie erste Marksteine ihrer Kultur und Geschichte kennen. In der Hauptstadt des Gebiets Lviv befinden sich drei Universitäten, Institute der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, mehrere Hochschulen, Museen und Theater, sowie ein Opernhaus. Wir besichtigten zunächst das im Stadtzentrum liegende Padotzky-Pallais, welches zu den wenigen sich in Restauration befindenden Häusern der Stadt gehört - was darauf zurückführen ist, dass hier die Residenz des ukrainischen Präsidenten Leonid Danilowitsch Kutschma im westlichen Landesteil entsteht. Die an dieser Stelle aufheulende Alarmanlage eines VW-Golfs veranlasste unseren engagierten Stadtführer zu der warnenden Bemerkung, es sei besser, sich abends nicht allein - bzw. ohne jemanden, der sich auskennt und verständigen kann - in dieser Stadt zu bewegen.
Abgesehen von einem eigenartigen Luftgemisch - zusammengesetzt aus Abgasen und anderen unergründlichen Elementen - umfing uns bereits (aufgrund der wegen der langen Wartezeit an der Grenze verspäteten Ankunft) nach kurzer Zeit die Dämmerung, so dass sich ein großer Teil der Führung in einer leicht surreal anmutenden Szenerie aus Dunkelheit und vereinzelt flackernden Straßenbeleuchtungen vollzog (die sich jedoch als etwas hinderlich für die Besichtigungstour erwies). Wir folgten der "vul. Stefanyka" bis hin zum ehemaligen galizischen Parlamentsgebäude, in dem heute ein Teil der Universität untergebracht ist. Die Allegorien Erziehung und Arbeit als Ideale humanistischer Bildung zieren auch heute noch den seit 1877 bestehenden Bau. Speziell auf unsere Gruppe zugeschnitten waren insbesondere einige "Insiderinformationen" aus dem ukrainischen Universitätswesen. Die vor dem Gebäude parkenden Autos gehörten zum überwiegenden Teil besser situierten Studenten und nicht, wie von einigen angenommen, den Dozenten. Diese werden nämlich äußerst schlecht bezahlt - 150-160,- DM im Monat - und müssen, um zu überleben, teilweise sogar noch Nebenjobs annehmen (Touristische Führungen u.ä.).
Eine Drehung um die eigene Achse führte uns zur nächsten "touristischen Attraktion" Lwóws: Eine Grünanlage, im 17. Jahrhundert nach italienischem Vorbild von Jesuiten angelegt, sollte zum Verweilen und Erholen einladen, wirkte jedoch in der heraufsteigenden Dämmerung eher abschreckend, so dass sich die Gruppe sehr dicht zusammenhielt. Am unteren Ende der Anlage befand sich ein gewaltiges Denkmal von Iwan Jakowytsch Franko, einem ukrainischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, der nicht zuletzt als politischer Journalist ein bedeutender Vertreter des ukrainischen Geisteslebens seiner Zeit war.
Durch mittlerweile finstere Straßen führte uns der Weg nun hinauf zur Georgskathedrale, die den Abschluss dieser ersten Führung bildete. Sie ist der Hauptsitz der ukrainisch-unierten Kirche, die orthodoxe und katholische Elemente verbindet: Die Riten stammen überwiegend aus der Orthodoxie, während die Anerkennung des Papstes als kirchliches Oberhaupt unübersehbar dem katholischen Wesen entspricht. Interessant erschien uns Besuchern speziell die besondere Kultur des sich über sechs Stunden hinziehenden Gottesdienstes, wobei die einzelnen Gemeindeglieder nach Belieben kamen und gingen. Abgesehen davon kann das 257 Jahre alte Rokoko-Gebäude auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Weil die unierte Kirche mit der Georgskathedrale als religiösem Mittelpunkt lange Zeit die beliebteste innerhalb der verschiedenen Richtungen christlichen Glaubens war, wurde sie zunächst von der sowjetischen Regierung toleriert. Aufgrund regimefeindlicher Äußerungen der Priester und Bischöfe, kam es immer wieder zu Repressalien, die die Kirchenoberen schließlich 1946 (Beschluss der Synode) dazu zwangen, in den Untergrund zu gehen und die sogenannte "Katakombenkirche" zu gründen. Erst 1990 konnte sich die ukrainisch-katholische Kirche im Gefolge der in der UdSSR und der Ukrainischen SSR erfolgten politischen Veränderungen rekonstituieren und umfasst heute in etwa 5 Mio. Gläubige in der Ukraine.
Im Anschluss an den Rundgang konnten wir uns in einem guten Kellerrestaurant bei Live-Klaviermusik und einem hervorragenden Vier-Gänge-Menü aufwärmen. Den Abschluss dieses ersten ereignisreichen Tages in der Ukraine sollte der Besuch eines studentischen Clubs bilden. Nachdem wir eine Dreiviertelstunde durch die Stadt gelaufen waren, einen Einheimischen nach dem Weg gefragt hatten, gelangten wir schließlich durch dunkle schlecht-gepflasterte Seitengassen zu unserem Ziel. Letztlich hielt uns jedoch die aus dem Keller heraufsteigende Musik, die noch auf der Straße sehr gut zu hören war, davon ab, uns einen genaueren Eindruck des studentischen Lebens zu verschaffen. Stattdessen einigte man sich auf die vornehme Kellerbar unseres Hotels, wo der Wodka zwar um einiges teurer war, aber trotzdem für westeuropäische Verhältnisse sehr günstig war (ca. 1,- DM pro Glas).
Diana Nentwig, Yvonne Hetzler