Berichte - Lemberg Teil 2
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Lemberg - Teil 2 (19.10.2001)
Die Stadtrundfahrt des nächsten Morgens begannen wir mit einer Busrundfahrt durch die Außenbezirke Lembergs, bei der in eindringlicher Weise die widrigen Lebensbedingungen, unter denen die Menschen in der Ukraine heute leben müssen, deutlich wurden. Der Zweite Weltkrieg stellt in vielfacher Hinsicht eine Zäsur in der Stadtgeschichte Lembergs dar. Er hatte nicht nur gravierende demographische Umbrüche - wie die Zerstörung der multiethnischen Vorkriegsgesellschaft durch die Deportation, Flucht und Ermordung von achtzig Prozent der ursprünglichen Bevölkerung - zur Folge. Auch stadtplanerisch muss von einem neuen Zeitabschnitt gesprochen werden. So sind in den 60er und 70er Jahren vielfach Trabantensiedlungen in der Peripherie der Stadt entstanden, die heute ca. vierzig Prozent der Gesamtfläche der Stadt ausmachen und in der die Mehrheit der städtischen Bevölkerung in zumeist kleinen Wohnungen von durchschnittlich 40 qm lebt. Die vielfältigen Umbrüche der letzten Jahre haben hier vor allem zu infrastrukturellen Problemen geführt. Zwar hat sich die Versorgung mit Lebensmitteln verbessert, doch die Wasser - oder Stromversorgung ist nach wie vor defizitär.
Zudem ergeben sich vielfältige soziale Probleme durch die gegenwärtigen Transformationsprozesse. Die hohe Armut zwingt insbesondere Frauen vielfach zur Erwerbstätigkeit im Ausland. Hieraus ergeben sich zwangsläufig familiäre Probleme und vielfältige soziale Probleme. Neben einer zahlreichen, völlig mittellosen Unterschicht hat sich in den letzten Jahren auch eine kleine, reiche Obersicht herausgebildet, welche sich häufig aus den ehemaligen Parteieliten rekrutiert. Die Wohnsiedlungen selbst befinden sich fast ausschließlich im Staatsbesitz, da sich die Privatisierung aufgrund fehlender Rechtssicherheit als sehr schwierig erweist.
Die Busfahrt ging weiter zum Schlossberg, auf dem sich auf einer aufgeschütteten Aussichtsplattform ein Ausblick über die gesamte Stadt bot, welcher deren wechselvolle und multiethnische Geschichte besonders gut verdeutlichte. Lemberg wurde erstmals 1258 urkundlich erwähnt. Aus dieser Zeit stammt auch die alte Lemberger Burg, deren Reste auf dem Schlossberg erhalten sind. Die von Danilo Ramnowitsch gegründete Stadt fiel 1349 an Polen. Immer war die Geschichte Lembergs geprägt durch die exponierte Lage an zentralen Handelsrouten; im 14. und 15. Jahrhundert gewann der Seehandel u.a. durch die Hanse an Bedeutung. Die Stadt entwickelte sich nicht nur zum Zentrum jüdischer und armenischer Kultur, sondern wurde auch zum Bischofssitz der orthodoxen wie auch der katholischen Kirche. 1772 schließlich wurde Lemberg in der ersten polnischen Teilung Teil der K.u.K.-Monarchie und erlebte im 19. Jahrhundert eine neuerliche Blüte, die sich an der zahlreich erhaltenen, reichen Bebauung aus dieser Zeit ablesen lässt. Der kurzen Unabhängigkeit der Ukraine ab 1918 bis 1921 folgte die 18 Jahre währende Zugehörigkeit Lembergs zu Polen. Literarisch kann der Zustand Lembergs in den 20er Jahren in Döblins "Reise in Polen" nachvollzogen werden. 1939 von der Sowjetunion okkupiert, wurde Lemberg 1941 von den Deutschen besetzt und erlebte als Distrikt des Generalgouvernement bis 1944 das dunkelste Kapitel seiner Geschichte. Nach Potsdam wurde Lemberg aufgrund der Westverschiebung Polens der Ukraine zugeschlagen. Seit der erneuten Unabhängigkeit der Ukraine 1991 schließlich ist in Lemberg und der gesamten Westukraine eine starke Orientierung auf Westeuropa festzustellen, während sich die Ostukraine mit der Hauptstadt Kiew stärker auf die russische Föderation konzentriert.
Auch in der historischen Altstadt zeigte sich die reiche und vielfältige kulturelle Vergangenheit Lembergs: Neben einigen Zeugnissen gotischer Bebauung des 13. Jahrhunderts fallen besonders einige Häuserzeilen aus der Zeit um 1600, errichtet durch italienische Handwerker und Architekten, ins Auge. Die Kirchenbauten sind teilweise älter, die besonders prachtvollen und großen Bauten wurden allerdings zur Zeiten der KuK-Monarchie errichtet. Das bemerkenswerte an der Lemberger Altstadt ist aber sicherlich ihre nahezu vollständige Erhaltung; nur die Synagogen fielen der faschistischen Besatzung zum Opfer.
Christian Krell, Christoph Sasse