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Berichte - Gespräch mit dem Politologen Juri Schweder

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Gespräch mit dem Politologen Juri Schweder (19.10.2001)

Den Abschluss unseres Aufenthaltes in der Ukraine bildete ein Vortrag des Lemberger Politologen Juri Schweder, mit dem Ziel, eine allgemeine Skizze der gegenwärtigen politischen Situation in der Ukraine zu geben. Er ist Mitglied der Partei "Reformen und Ordnung", die er dem liberalen Flügel zuordnet.

Schweder führte aus, dass nach dem Systemwechsel 1991 die Ukraine als ehemalige Sowjetrepublik formell ihre Unabhängigkeit erreichte. Die Arbeiten an einer neuen Verfassung konnten jedoch erst 1995 abgeschlossen werden. Heute ist die Ukraine eine parlamentarisch-präsidentielle Demokratie. Sie stattet den Präsidenten mit ungleich höheren Kompetenzen als etwa in der Bundesrepublik Deutschland aus, allerdings nicht solch weitreichenden wie in Frankreich oder den USA. Sie folgt damit im wesentlichen dem Beispiel Russlands. Angesichts der anstehenden Parlamentswahlen im März 2002 wurde dieses Jahr die Neufassung des Wahlgesetzes beschlossen. Sie sieht ein gemischtes Wahlsystem vor. Die 450 Parlamentsabgeordneten werden zu jeweils 50% nach Listen- und Mehrheitswahlprinzip gewählt. Es existiert eine 4%-Klausel. Die Bedeutung einer solchen Klausel für Transformationsgesellschaften liegt darin, dass der Fraktionierung des Parteienwesens entgegengewirkt wird und somit stabile Mehrheiten entstehen können. Die ersten freien Parlamentswahlen fanden übrigens erst 1994 statt. Für 2002 haben sich 127 Parteien zur Wahl registrieren lassen, von denen aber nicht alle zugelassen werden. Bei der letzten Wahl waren 32 Parteien zugelassen, von denen acht über die 4%-Hürde kamen. Insgesamt gibt es etwa acht bis zehn Parteien, die wirklichen Einfluss im Parlament haben.

Wie in anderen Demokratien gibt es das klassische Parteienspektrum. Zu den Linken zählen die Kommunisten, die Progressive Sozialistische Partei und die Sozialisten. Sie stellen etwas weniger als die Hälfte der Abgeordneten. Daneben gibt es zentristische Gruppierungen und Parteien ("Volksdemokratische Partei" und andere). Oligarchische Gruppierungen umfassen beispielsweise die "Partei der Werktätigen der Ukraine" und die Sozialdemokraten, die als postkommunistische Partei von der deutschen Sozialdemokratie zu unterscheiden sind. Das parteipolitisch rechte Spektrum deckt zum Beispiel die Partei der Volksbewegung "RUCH" ab. Diese tendiert in eine nationaldemokratische Richtung. Zur Wendezeit waren sie die einflussreichste Gruppierung neben der Kommunistischen Partei. Die Gruppierungen am extrem linken und rechten Rand haben wenig bis keinen Einfluss. In Umfragen zu den bevorstehenden Wahlen zeigte sich, dass die Gruppierung "Unsere Ukraine" (dem rechtszentristischen Spektrum zuzurechnen) vor den Kommunisten liegt, die bisher die größere Unterstützung hatten. Die kommenden Parlamentswahlen gelten auch als Barometer für die nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahre 2004. Der ukrainische Präsident wird maximal für zwei Legislaturen gewählt, so dass nach zehn Jahren die Amtszeit für Herrn Kutschma endet und ein neuer Präsident gewählt werden muss.

Dem Vortrag schloss sich eine Diskussion an. Einige "grundlegende" Fragen und ihre Antworten sollen hier dargelegt werden, ohne sie interpretierend in ihrem Inhalt zu verzerren. Da wir es in der Ukraine mit einer Transformationsgesellschaft zu tun haben, mögen manche Antworten in ihrer Offenheit als Ausdruck der Unsicherheit über die politische Entwicklung des Landes gesehen werden.

Auf die Frage, ob die Demokratie der Ukraine "fest im Sattel sitze", antwortete Schweder, dass der Zusammenbruch der UdSSR nicht den Sieg der Demokratie in der Ukraine bedeutete. Statt eines nationalen Autokratismus ging die Ukraine den Weg der Demokratisierung, dennoch ist die Demokratie in der Ukraine nicht gefestigt. In den ersten Jahren nach dem Umbruch erfolgte der Aufbau der Institutionen, die einen unabhängigen Staat ausmachen (Heer, Zoll, Grenzen usw.). Diese Phase ist nun abgeschlossen. Die kommenden Wahlen werden als Zäsur angesehen: geht es zurück in die Vergangenheit oder wird es ein Aufbruch in die Zukunft sein.

Schweder wurde gefragt, ob auf institutioneller und politischer Ebene ein wirklicher Eliktenwechsel stattgefunden habe. Im Unterschied zu den anderen osteuropäischen Ländern (Polen, Tschechien etc.) fand in den Wendejahren in der Ukraine keine durchgreifende politische Revolution statt. Es gab keinen Sturz des alten Systems, die alte politische Elite hat sich lediglich transformiert: sie ist nun die Elite des neuen Staates. Aus den ersten Präsidentschaftswahlen 1991 ging Krawtschuk als Sieger hervor. Er war bis 1990 Ideologiesekretär im ZK der KP der Ukraine. Durch seinen Sieg kamen keine oppositionellen Kräfte an die Macht. Die Institutionen waren geprägt durch die orthodoxe Haltung der alten und neuen Nomenklatura.

Nach den Auswirkungen der EU-Osterweiterung gefragt, antwortete Schweder, dass die Ukraine nach einem Beitritt Polens zur EU das Entstehen einer unüberwindbaren Grenze zum Westen fürchtet. Gesichert durch EU-Vorschriften, Visum wäre der Grenzverkehr mit Polen behindert oder käme ganz zum erliegen. Dies könnte die Ukraine wieder in die Arme Russlands stoßen und so einen neuen "Eisernen Vorhang" bedeuten.

Schließlich wurde er gefragt, was den Studierenden an der Universität im Fach Politik gelehrt wird. Der Lehrstuhl wird - so Schweder - nicht als Ort für Propaganda angesehen. Politische Sympathien sollten nur außerhalb der Universität kundgetan werden. Politik als wissenschaftliche Disziplin behandelt theoretische Probleme und ihren unmittelbaren Bezug zur Praxis. Die Kenntnis der Probleme führt zum Verständnis, was die Demokratie stärkt. Eine gefährliche soziologische Tendenz ist, dass die Studierenden ihre berufliche Zukunft im Westen sehen, was zur folge hat, dass sich die wirtschaftlichen Probleme weiter verstärken.

Stephen Müller, Sebastian Stroh, Martin Spies

 
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